Der vom Auge losgelöste Blick

Der Philosoph R. Carnap Einführung behauptete in seiner Philosophie der Naturwissenschaft (1969), dass Kleinkinder eine „nicht-euklidische Wahrnehmung" haben. D. h. sie sehen - aus unserer Erwachsenenperspektive betrachtet - die Dinge etwas verformt, verdreht - kurz: so ähnlich wie sie Picasso gemalt hat. Erst so nach dem zweiten Lebensjahr lernen die Kinder unsere Normal-normierte Sichtigkeit der Dinge zu haben. Und was für das Kleinkind gilt, gilt - cum grano salis - auch für die sehr frühen Menschen. Auch diese haben die Welt noch mit anderen Blicken gesehen. In den urzeitlichen Augentempeln in Nordmesopotamien gibt es einen besonders hervorstehenden, bannenden Blick der Tempelfiguren. Es sollte wohl ein Blick von Göttern und Göttinnen aus einer Frühzeit der Menschheit oder aus dem Jenseits sein, unter dessen hypnotischer Wirkung der Mensch seine Religion finden konnte.

Doch konnte ein jenseitiger Blick allein dem hilflosen diesseitigen Menschen helfen? Kann doch der Blick nichts selbst bewirken, nichts tun, nichts HHHhandfestes bewegen und sagen. Und doch hat man in Mystik und Magie und selbst in den heutigen Religionen und spirituellen Kulten immer etwas Derartiges angestrebt. Man hat sich einen Blick vorgestellt, der schneller als das Licht den Raum durchmessen und wie in einer Zeitreise durch die Jahrhunderte hindurch wieder zu uns zurückkommen kann. Selbst anerkannte Physiker haben sich mit solchen Aspekten beschäftigt. Esoteriker, „hellsichtige" Menschen, beschreiben, wie sie Goethe in dessen Arbeitszimmer mit Eckermann haben sitzen sehen können und auch Worte aus deren Gespräch vermittelt bekamen. Der indische Yogi Yogananda beschrieb in seinem selbst von Thomas Mann als erstaunlich befundenen autobiographischen Buch, wie er während des zweiten Weltkrieges Soldaten an der Küste Frankreichs hat sterben sehen, obwohl er in Indien meditierte.

Psychologisch ist das alles nicht so schwer zu erklären. Im Zustand einer gewissen traum- oder transähnlichen Entrücktheit bleibt noch so viel verstandesmäßiges Denken möglich, dass man glaubt davon eine klare Kunde im Sinne einer übernatürlichen Beobachtung geben zu können. Tatsächlich handelt es sich um nichts anderes als um eine Koinzidenz besonderer geometrischer Formen, neuropsychisch struktureller Gegebenheiten, unbewusster endogener Muster oder wie man es auch immer nennen mag, mit persönlichen Motiven. Der Betreffende vermischt in einer derartigen „Vision" Bildhaftes seiner eigenen Entsteh­ungsgeschichte, seines eigenen Unbewussten, mit sehr ähnlichem Bildhaften aus einer anderen Zeit oder einem anderen Raum. Natürlich starben an Frankreichs Küste im zweiten Weltkrieg Soldaten in vielleicht sogar sehr analoger Art, und so konnte Yogananda ruhig etwas Derartiges schreiben. Selbst ein Historienschriftsteller, der gewisse historische Zusammenhänge sehr genau recherchiert hat, macht nichts anderes. Er fügt letztlich doch zwischen den Zeilen seine subjektbezogene Deutung mit in seine Erkenntnisse ein, macht sie dadurch plausibler und vielleicht sogar oft authentischer, als wenn wir einen Apparat hätten, der Geschehnisse über ein genaue GPS-Koordinaten und einen exaktes Chronometer anhand irgendwelcher Quantenfelder wieder total sichtbar machen könnte.

 

Ganz in diesem Sinne beschreibt nämlich der Philosoph P. Virilio, wie mit der „computergestützten Wahrnehmung, der Visionik . . der Sehmaschine" ein Schauen, Wahrnehmen ohne Blick möglich sein wird[1]. Die Maschine tastet die Objekte ab, vergleicht sie mit dem ungeheuren Datenschatz in ihrem Inneren und liefert sekundenschnell eine fertige Interpretation dessen, was sie gesehen hat. Sie kann sofort erkennen, dass das, was sie „sieht" in Amerika passiert - vielleicht nicht genau zur gleichen Zeit - obwohl sie in Europa steht. Wir selber brauchen gar nicht mehr hinzuschauen, ob unsere Arbeit richtig läuft, Wesentliches in der Zeitung steht oder uns eine Frau gefällt, denn alles erledigt die Maschine durch perfekten und stets am neuesten Stand befindlichen Datenabgleich. Wir sind derweil mit Träumen und Wohlbefindlichkeitsübungen beschäftigt. Allerdings gesteht der Autor ein, dass von „der Sehmaschine, die ihren Benutzern nicht nur eine 'objektive´ Information über bestimmte Ereignisse, sondern auch eine 'subjektive´ optische Interpretation der beobachteten Phänomene liefert, die Gefahr ausgeht, dass sie zu einer Zweiteilung des Realitätsprinzips beiträgt", d. h. wir wissen dann noch weniger als vorher, was unsere eigentliche „wahre" Realität ist. Wir können uns durch die Maschine schneller in verschiedene Realitäten einarbeiten, aber wie diese in Bezug zur Wahrheit stehen, zur „wirklichen" Wahrheit, welche von den visuellen Realitäten dann das eigentlich wahre Reale ist, das ist dann wieder ein anderes Problem. Die Sehmaschine, die bereits in Entwicklung ist, wird also wieder unsere Welt verändern, aber nicht grundlegender klären. Grausamkeit und Lust werden sich gleich bleiben. Waren früher die Götter maßlose Herren, so sind eben heute die Maschinen nichts als versklavte Götter.[2] Wir selbst sind weiterhin maßlose Sklaven geblieben, indem wir uns für göttliche Herren halten.

Nichts anderes ist also der Fall, wenn wir uns mit einem „Sehstrahl" zum Urknall zurück und von dort aus wieder durch die Jahrhunderte bis ins heute und jetzt gleiten könnten. Wie schon gerade angedeutet gibt es Physiker, die ernsthaft glauben, das sogenannte Higgsfeld (ein quantenchromodynamisches Feld) könnte in Verbindung mit unserem Gehirn derartige „Zeitreisen" ermöglichen. Im Higgsfeld gilt die Physik nicht mehr in herkömmlicher Weise, sprunghafte Quantenprozesse können mit ähnlichen im menschlichen Gehirn im Kontakt zu solchen Blick- oder Strahlt-Feldern ein All-Wahrnehmen getrennt vom Auge und dem üblichen Sehapparat gestatten. Aber was hätten wir davon? Wir würden nur wieder in neue Diskussionen über historische Ereignisse oder die Bewertung der Fakten eintreten, denn trotz allem würde es immer noch kleinste Unterschiede in der Wahrnehmung dieser quantenneuropsychologisch übertragenen Bilder geben, über die man wieder streiten könnte.

Dennoch könnte man über diesen vom Auge losgelösten Blick Spekulationen anstellen, die fruchtbar sein könnten. Neuropsychologisch ist die Sache, um die es bei diesem Blick geht, wie erwähnt nicht allzu schwer zu demonstrieren. Man muss z. B. nur die Computerbilder, die unter dem Titel „Das magische Auge"[3] zahlreich erschienen sind, betrachten. Bekanntlich sieht man da ein vom Computer gestaltetes Bild, das eine Art von geometrischem Muster zeigt, das jedoch, wenn man es wie traumverloren, mit einem geradezu blöden, schielenden Blick anschaut, ein zweites, im ersten verstecktes dreidimensionales Bild freigibt, also einen völlig anderen zweiten Blick! Man hat sich also durch den tranceartigen Blick vom Auge zumindest soweit gelöst, dass man das Bild mit einer anderen Einstellung des Sehapparates anblicken kann. Diese Umschaltung erfolgt im mittleren Teil des Sehapparates, also weder in der Netzhaut noch allein in der Sehrinde.

Etlichen Menschen gelingt diese Loslösung des Blicks auch ohne die Computerbilder. Sie können wie tranceartig auch so in eine Landschaft schauen und bemerken dann, dass diese so etwas wie einen silbrigen Glanz bekommt. Ungleich stärker erscheint ihnen dann die Schönheit, Weite, oder Erhabenheit dieser Landschaft. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass wir auch in der Betrachtung der Kunst oder in der Erotik ähnliche Phänomene kennen. Warum erscheint dem einen jenes, dem anderen dieses Bild eines Künstlers als ergreifend, ästhetisch großartig und genial? Warum sieht man mit dem erotisierten Blick den Partner ungleich anders und bewegter, wenn hier nicht die gleichen Momente einer Loslösung des Blicks vom normalen Auge, von der normalen Sichtigkeit stattfände?

Was will ich dann eigentlich? Ich will sagen, dass der vom Auge gelöste Blick, egal ob durch Quantenbiologie oder durch die visionische Sehmaschine, ob durch Tranceblick oder sonst eine Art der „Vision", im Wesentlichen mythisch-mystisch, ja meist unsinnig ist und kaum einen Wert vermittelt. Es gibt nur eine einzige Ausnahme, und die besteht darin, dass dieser Blick und seine Besonderheit, sich speziell dafür eignet, ein auf einem ganz anderen Feld, in einer ganz anderen Kategorie und Existenzform, etwas noch Wesenhafteres zu veranschaulichen, erst wirklich existent zu machen, ja zu krönen. Dieses andere ist im Gegensatz zu dieser bildhaften, visionischen, imaginären Ordnung, die worthafte oder symbolische Ordnung. Niemals lässt sich das Bildhafte, Imaginäre, direkt in das Worthafte, Symbolische verwandeln. Beide stehen sich autonom gegenüber und doch sind sie auch immer irgendwie in Beziehung, verbunden oder gar richtig verknotet. Hier, an dieser Stelle, setzt Lacans Knotentheorie des Unbewussten an. Und nur dafür hat eine Schilderung des vom Auge losgelösten Blicks einen Sinn. Denn dieser Blick ist tatsächlich wie ein Knoten so gestaltet, dass er, nachdem er ausgesendet wurde und mit dem Symbolischen sich verbunden hat, wieder zu seinem Ursprung zurückkommt.

Bildwissenschaftler sprechen hier von einem „doppelten Sehen" (Mersch, D., Blick und Entzug. Zur Logik ikonischer Strukturen). Grundlage dieses „doppelten Sehens" ist die Tatsache, dass speziell der Mensch fähig ist vollkommen vom Handlungs- und Realitätsbezug abgelöste Bilder zu sehen. Sein Sehen „setzt . . . die Brechung und Umkehrung des Blicks am Bild voraus." Nur damit - so der Autor - kann der Mensch sich der Bildlichkeit des Bildes selbst zuwenden und dabei stets wissen, dass er ein Bild sieht und nicht einfach nur ein Ding im Raum. Ein Bild betrachten, ein Gemälde, ein Foto, ist etwas ganz anderes, als die Dinge draußen sehen. Dass es aber grundsätzlich „Brechung und Umkehrung des Blicks am Bild" gibt, hat wiederum etwas mit der symbolischen Ordnung zu tun. Dabei ist nicht die verbale am Logischen (Grammatisch- Syntaktischen) ausgerichtete Sprache gemeint, sondern etwas, das Mersch „ikonisch logisch" nennt oder gar „graphematisch", d. h. an mathematischen Graphemen (Schemen) orientiert.

Das klingt zwar alles hochtheoretisch, aber wäre nicht so ein graphematischer Blick genau das, was ich von Anfang an mit dem vom Auge gelösten Blick gemeint habe? Auch die ganzen mythisch-magischen Vorstellungen könnte man so theoretisieren. Nur, bringt einen das weiter? Ist das alles nicht wieder nur zu theoretisch, während diese früheren Beschreibungen doch von praktisch erfahrbaren Zuständen berichteten. Das Auge ist nie völlig ruhig, sondern gibt selbst dem REM-Schlaf (Traumschlaf mit seinen Rapid Eye Mouvement) seinen Namen durch die meist unbewussten, verschiedenen, feinsten, ruckartigen und auch wieder nachziehenden Augenbewegungen („doppeltes Sakkadensystems" der Augen).[4]Dies macht den Sehakt zu einem äußerst komplexen Vorgang. Man könnte sich aber vorstellen, dass es einen psycho-physischen Zustand gibt,[5], [6] in dem diese Augenbewegungen „ruhiger", stetiger ablaufen, so dass der Blick wie „strahlend" erscheint, „graphematisch". Dies wäre dann nicht nur Theorie, sondern eine tatsächliche Erfahrung, um die es wohl den Mystikern gegangen ist, die sie aber zu ungenau ausgedrückt haben.

 

Genau so etwas wie diese Erfahrung habe ich nämlich auch versucht durch die meditative Verwendung von Bild-Worten, Formel-Worten zu erreichen, wie links eines zu sehen ist. Der Vorteil ist, dass ich hier mehr vom Symbolisch-Worthaften her komme als vom Bildhaft-Imaginärem, wie es Mersch tut, und daher einen mehr praktischen Bezug herstelle. Denn während die früheren mythisch-magischen Versuche der Blick-

 

Formelwort

 

lösung vom Auge in der heutigen Zeit einfach nicht mehr genügen (sie genügen nicht der Wissenschaftlichkeit und passen auch kulturell und zeitgeistig nicht mehr zu uns heute), kann ich hier das „Graphematische" sogar praktisch erfahrbar machen und auch noch plausibler und treffender begründen. Denn ich nutze hier Buchstaben, deren Lese-Möglichkeiten mehrfach und vielschichtig sind,[7] also noch viel besser die „Brechung und Umkehrung", die Lösung des Blicks vom Auge, darstellen und verdeutlichen, als es die Bildwissenschaftler rein theoretisch und mit langatmigen philosophischen Erläuterungen tun können. Denn das Bildhafte allein kann man nicht einüben und reverberativ wiederholen, während man dies bei einer Buchstabenfolge sehr gut tun kann. Und darauf will ich hinaus: auf die Praxis (therapeutische Praxis) und nicht nur auf langatmige Theorien über Bild und Wort, Logik und Ikonik, Bild- und Sprachwissenschaft, die letztlich alle im Getriebe vieler Begriffe (Medialität, Chiastisches, Bildimmersivität, Blickspaltung etc.) ertrinken. Auch will ich nicht auf die Mystik-Mythik hinaus, da sie uns die gleiche Erfahrung heute nicht mehr vermitteln kann.

Indem man also eine praktische Verwendung herstellt und ein derartiges wissenschaftlich begründetes Formel-Wort mental, also gedanklich wiederholt, weckt man auch dieses „doppelte Sehen" im Unbewussten, jedoch lässt man sich dann nicht davon verwirren oder zu den gerade erwähnten Theorien verleiten, sondern „sieht" selbst das „Graphematische", d. h. eine einfache Figur, ein Muster (ganz egal welches), nimmt aber nunmehr im selben Moment auch das Symbolische, das Wort wahr, den Signifikanten (Bedeuter), der das Subjekt selbst bezeichnet. Ein einfaches Beispiel mag dies erläutern:

Jemand, der mit diesen wie oben beschriebenen Formel-Worten arbeitete (meditativ gedanklich diese Bild-Worte wiederholte), hatte plötzlich die Eingebung, den Gedanken oder das Gefühl einer Stimme wie im Traum, aus dem heraus das Wort „Sicherheit" klang. Erst war er sich nicht sicher, ob er dies wirklich so gehört oder gedacht hatte: hieß es nicht „heut" statt „heit", „Sich-erheiter", „Sichelheit"? Aber da es ja das Wortklangbild, das akustische Bild, der Signifikant „Sicherheit" selbst so strak herausklang, war er doch irgendwie überzeugt. Es ist etwas völlig anderes, wenn jemand zu ihm gesagt hätte, du kannst dir in deinem Verhalten, deinem Leben und Sein ganz sicher sein, als wenn nur diese kurze Formel aus dem eigenen Inneren, dem eigenen Unbewussten auftaucht, auch und gerade vielleicht wenn sie überhaupt keinen Bezug zum Thema soziale, psychische, materielle etc. Sicherheit des Betreffenden hat. Natürlich hatte er vorher schon oft an das Thema Sicherheit in allen Aspekten gedacht, aber wenn es so daher kommt, wie wenn ein ganz Anderer es einem zugeflüstert hätte, ist die Wirkung stärker und völlig verschieden vom üblichen Nachdenken.

Gewiss war ihm klar, dass sein Nachdenken schon Vorarbeit geleistet hatte. Aber es war, als hätte er plötzlich einen Blick in die Tiefe des Unbewussten, in das in uns verborgenen Alls, in seine eigene Andersheit getan. Und eben dieser Blick muss sich von seiner sonst üblichen „normalen" Sichtigkeit getrennt haben, sozusagen kurz die Schau freigegeben haben in die Hexenküche der Buchstaben und Silben, der B(r)uchstaben - wie eine Linguistin es einmal schrieb. Vorbereitet durch den Kreis dieser B(r)uchstaben des Formel-Wortes, der „Brechung und Umkehrung" des vom sonst normierenden Auge gelösten Blicks, gelang schließlich dieses Graphem „Sicherheit" auf dem Hintergrund geometrisch-topologischer Linien. „Sich - er - heit", „Sich - er - heut", „Sich - er - heiter" und „Sich - el - heit", es muss etwas mit bildhaften, bruchstückhaften, „linguistisch Kristallhaften" (so Lacans Bezeichnung dafür) zu tun haben. Die Strahlen des Kristalls, die „Sehstrahlen", die Strahlen die sozusagen von der Mitte des oben gezeigten Kreises zu den einzelnen Buchstaben ausgehen um wieder zum Mittelpunkt zurückzukehren, wo sie sich dann plötzlich zu einer Silbe, einem Wort (hier eben dem Wort „Sicherheit") zusammengefügt haben, wobei der Betreffende sich klar war, dass es hier auch um einen kindlichen Wunsch nach Sicherheit handelte. Denn dieser Tonfall des Fremden, Jenseitigen klang auch wie eine mahnende Erinnerung: du suchst zwar Sicherheit, aber es kann nicht die von damals, es muss die von „heut" sein, nicht die durch die „Sichel" von Kronos (eine Assoziation dieses Patienten zu dem, was er alles mit herausgehört hatte)

Hätte sich dieser Patient, Protagonist oder wie wir ihn auch immer nennen wollen bei einem Analytiker befunden, hätte er sich vielleicht versprochen und statt vom „Sich-Erheitern" von „Sicherheit" gesprochen, d. h. also davon, was er verdrängt, nämlich seiner überdimensionalen Angst vor dem Mangel an Sicherheit. So hat er durch das Üben mit dem Formel-Wort seine Analyse abgekürzt. Denn die Phonem-Verschiebung oder -Verdichtung ist bei den Übungen mit dem Formel-Wort ja noch viel intensiver, paradoxer, kristallin-authentischer, als bei den in der Psychoanalyse üblichen „freien Assoziationen". Für genauere Informationen stehen meine Webseiten www.analytic-psychocatharsis.com, www.forum-ens-cis-nom.com oder www.psyche-und-soma.de zur Verfügung. Dort finden sich auch kostenlos herunterladbare Broschüren zu dem Verfahren mit den Formel-Worten (oder in der entsprechenden dort angezeigten Literatur).

 

Traum, bildende Kunst und Vision.

Auch im Traum findet eine „Brechung und Umkehrung" des Blicks statt, jedoch nicht am Bild, nicht an irgendetwas rein Bildhaftem. Es findet vielmehr eine Umkehrung des Blicks in die Konkavität des Großhirns statt. So wie sich tagsüber die Dinge unter dem äußeren Himmel abspielen, der sich konkav über uns spannt, so weckt der Blick in die spährisch aufgespannte Halbkugel des Großhirns dort alle möglichen noch unerledigten und unaufgeräumten Dinge, vermischt sich mit ihnen und erzeugt den Traum. Dies widerspricht nicht der Freudschen Annahme einer libidinös gefärbten Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit im Traum, hinter der unerfüllte Triebwünsche stehen. Das ganze Leben ist Trieb, Strebung, und hinter dem Blich steckt ohnehin der Wahrnehmungs- oder Schautrieb, wie ihn schon Freud so gefasst und Lacan ihn weiter ausgearbeitet hat (speziell in seinem Seminar XI, wo er schreibt, dass der Blick über das Auge triumphiert). Auch hier im Traum wirkt jedoch der Sprech- oder Entäußerungstrieb mit ins Geschehen hinein, moduliert oder bestimmt evtl. sogar ganz die Traumveranstaltung. Deswegen kann Freud auch vom latenten Traumgedanken sprechen, der „am Nabel des Traum" sich entfaltet, aber nicht klar und fertig zum Bewusstsein durchdringt. Deshalb muss der Traum oft erst mühsam gedeutet werden. Man muss die durch Bilder bedingten und die sprachlichen Verschiebungen, Entstellungen etc. entfernen, zurechtbiegen und lösen, um schließlich zu dem Traumgedanken zu kommen, dass man - wie im obigen Beispiel - die Sicherheit wieder haben möchte, wie man sie unter den Rockschößen der Mutter gehabt hat. So aufgeweckt kann der Betreffende dann entscheiden, wie er mit dem Problem Sicherheit weiter umgehen will, ob er sich reifere Wege dafür sucht.

Durch das Verfahren mit den Formelworten wird jedoch - wie gezeigt - der ganze Vorgang verkürzt. Der Traum findet hier in einer bewusst inszenierten und schon auf den Kern des Unbewussten (linguistischer Kristall) hin orientierten Form statt. Natürlich ist er dann kein Traum mehr, sondern eine Meditation. Aber eine Meditation ist auch wiederum notwendiger Bestandteil der Traumdeutung. Man muss die möglichen Bedeutungen meditierend ventilieren. So schließt sich der Kreis zur Psychoanalyse hin und stellt doch eine Verkürzung und Intensivierung dar. Nicht anders ergeht es uns mit der bildenden Kunst, der Malerei z. B. Wie Lacan treffend sagt, zähmt der Maler mit seinem Bild unseren Blick, d. h. er steuert ihn in eine ganz gewisse Richtung, die die des Unbewussten ist. Das ganze Auf und Ab, Für und Wider in unserer Seele bildet der Künstler in einem einzigen Bild ab, indem er uns wie bei Gauguin z. B. an farbverzauberten und durch junge Frauen verromantisierten Südsee teilnehmen lässt. Die „Sehstrahlen" werden durch die „défilés des signifiants" , durch die Engführungen der Signifikanten hindurch geführt. Sie werden hindurchgeführt zwischen dem „Entzug" (von Realität im Expressionismus z. B.) und „Überschuss" (D. Mersch) an Farbe und abstrahierter Form (bei T. Heydecker), von Täuschung (Vortäuschung von Realität im Neorealismus) und Verführung (zur Schaulust) etc.

Nichts anderes gilt für das, was man früher eine Vision genannt hat, wie sie Mystiker und Heilige erfahren haben wollen (und wohl auch haben). Doch warum gibt es diese Visionen heute nicht mehr oder kaum noch und werden sie eher von Psychiatern und Therapeuten behandelt? Gewiss ist auch der Begriff der Halluzination nicht klar definiert, man könnte am ehesten von der Psychoanalyse her sagen, dass es sich hierbei um unbewusste Strebungen und Wünsche handelt, die eben nur - aus Gründen der psychischen Abwehr - verändert visualisiert werden. Lieber visualisiert man sie in Form einer Halluzination, als dass man sie sich vollkommen eingesteht. Der Hungerhalluzinierende siet nicht ein trockenes Stück Brot vor sich, sondern pantagruelische Speisen, was verrät, dass er nicht nur hungert, sondern auch orale Triebwünsche hat, Gaumenlust. Die Visionen von Heiligen und auch die der Kinder von Fatima stellen Halluzinationen dar, die stark vom kulturell-geistigen der entsprechenden Zeit getragen waren, und somit hatten sie zurecht eine gesellschaftsübergreifende Bedeutung. Heute jedoch sieht niemand mehr die Mutter Gottes, eher die „weiße Göttin", eine erotisch-mütterliche Figur, der - typisch für einen Mythenforscher - Ranke Grawes nach zahlreichen Forscherjahren erlegen ist. Auch bei der Vision also gibt es den vom Auge gelösten Blick gebrochen und umgekehrt und nicht absolut und direkt.

 


[1] Virilio, P., Die Sehmaschine, Merve Verlag (1989) S. 133-172

[2] Groys, B., Topologie der Kunst, C. Hanser Verlag (2003) S. 199

[3] Enterprises, N.E.T., Das magische Auge, ars Edition, (1994)

[4] Gregory, R. L., Auge und Gehirn, Rowohlt (2001) S. 63 - 67

[5] Linke, D. B. Kunst und Gehirn, Rowohlt (2001) S. 33

[6] Ich werde dies später nochmals anhand des Begriffs des „normalen dissoziativen Phänomens" beschreiben.

[7] Siehe dazu meine Ausführungen zu verschiedenen, der lateinischen Sprache entnommenen Formel-Worten, die ich hier nicht wiederholen möchte. Ihr Wesen liegt in der Tatsache, dass sie von verschiedenen Buchstaben aus gelesen verschiedene Bedeutungen haben.