Das Umfassende

Der Begriff des Umfassenden hat den Vorteil, dass er nicht eine Einheit, Ganzheit, etwas universal Univokes, kurz: eine angebliche Totalität, eine runde und perfekte Eins-heit behauptet. Denn dass alles zusammen sich in einer isolierten Eins erfassen lässt, ist natürlich ein Trug und – wie jemand einmal treffend sagte – die ewige Sehnsucht des Schizophrenen, aber auch des Ultrareligiösen oder sonst irgendwie fanatischen Ideologen oder Fundamentalisten. Das Umfassende ist ja nur ein zwar weit ausholender, aber eben letztlich nur fassender, haltender und vielleicht sogar nur wackeliger Griff. Immerhin umfasst er alles, was es zu fassen gibt, auch wenn man es eventuell so gar nicht festhalten kann, wie man es umfassend gegriffen hat.

Es erinnert jedenfalls auch an den Begriff der Menge in der Mathematik. Dort hat man nämlich ebenso erkannt, dass man nicht einfach mit 1, 2, 3 usw. zu zählen beginnen kann. Man kann das nur in einem gewissen Rahmen der natürlichen oder reellen Zahlen. Aber die Vielheit, die Menge, ist der umfassendere Begriff, und deswegen hat man seit Cantor (Mengenlehre) damit zu rechnen begonnen. Schon Euklid hatte ganz trickreich Monos und Hen, die Eins und die Eins als Vielheit unterschieden. Diese Auffassung spiegelt sich auch in der Mathematik von Primärvölkern wieder, die ab der Drei die Vielheit beginnen lassen ohne weitere Ziffern. Doch auch in der Psychologie verhält es sich so.

Der Arzt und Psychologe Carl Albrecht unterzog sich bestimmten Meditationen und Versenkungsübungen und kam zu dem Schluss: „Mystik ist das Ankommen eines Umfassenden im Versunkenheitsbewusstsein.“ K. H. Witte, ein Psychoanalytiker zitiert diesen Satz in einem Vortrag, in dem er die Dimension des Psychischen erklären will, die über den herkömmlichen Rahmen der Psychoanalyse, wie er durch den Ödipus- und Kastrationskomplex gegeben ist, hinausgeht. Rein fachlich würde ein Psychoanalytiker dieses Darüber-Hinausgehen eher als ein Davor-Zurückgehen beschreiben, also in das, was noch vor den frühkindlichen Entwicklungen des Seelenlebens liegt und was man dann oft mit dem Begriff des Prä-Ödipalen ausdrückt. Es handelt sich also um etwas, was vor der seelischen Konstitution der ödipalen Struktur (unbewusster Hass gegen den gleichgeschlechtlichen, erotische Gefühle für den gegengeschlechtlichen Elternteil) gegeben ist und so in gewisser Weise umfassender genannt werden könnte.

Allerdings wäre es wieder eine Umfassendheit, die wenig bewusst und kaum sozial wie kuturell ins menschliche Erwachsenenleben integriert wäre. Die orale Phase z. B., in der das Kind alles mit dem Mund erfassen will, mit der Gaumenlust und mit den gespitzten Lippen, ohne eine eigenständige Person, die man lieben oder hassen könnte zu kennen, ist so etwas Prä-Ödipales. Die Mutter ist in dieser Phase einmal nur Brust, einmal nur Blick, einmal Wärme oder Mangel, Lust oder Nicht-Lust, aber sie ist noch keine wirkliche Person. Es gibtetwas und doch auch wieder nichts Umfassendes in dieser Phase. Aber das meint C. Albrecht nicht, wenn er vom Umfassenden spricht.

Bei ihm soll mehr ankommen, als nur die früheste Kindheit. Sicher schwingt in allen diesen meditativen oder Verinnerlichungs-Methoden ein Zurück ins Davor eine große Rolle. Auch in der Psychoanalyse gerät man ja durchs „freie Assoziieren“ ins scheinbar zusammenhanglose Schwafeln wie es das Kind charakterisiert. Der Analytiker hilft dann, aus dem Zusammenhanglosen etwas Umfassenderes zu machen, eine wirklich Aussage über die Psyche von damals und heute. Nun gibt es ein Davor auch in einem Bereich, wie ihn die Psychoanalyse J. Lacans konzipiert hat. Für Lacan gibt es im Prä-Ödipalen nicht nur das Orale und Anale, sondern auch die Bereiche des Schau- und Sprechlust, der Bildsucht und der Hörigkeit. Ja, dieses Konzept ist sogar umfassender, denn das Konzept des Schau- und Sprechtriebs schließt die Freudschen Begriffe des Oral- und Anal-Triebs mit ein. Der an das primärste (ontogenetisch) und ans früheste (phylogenetisch) Wahrnehmen, Perzipieren, abgelehnte Schautrieb und der ans ebenso primäre und frühe sich Entäußern angelehnte Sprechtrieb (Invokationstrieb bei Lacan) geben ein umfassendes Trieb-Strukturkonzept wieder, in dem das Orale z. B. ein Begleiteffekt ist. Denn das Orale besteht nicht nur aus der Mund- und Gaumenlust.

Während das Kind saugt, blickt es auch ins Auge der Mutter und erfährt ein erstes Augenspiel, ein erstes Liebäugeln. Und es entäußert sich auch durch abruptes Bewegen und Beißen. Während M. Klein, eine bekannte Schülerin Freuds, noch formulieren musste, dass der Ödipuskomplex unter der Dominanz einer primären Aggression steht, aber nicht erklären konnte, wie und was ein Aggressionstrieb sein sollte, können wir heute dies viel plausibler sagen: das Orale steht unter der Dominanz dieser zwei anderen Grundtriebe, die sich im Oralen kombinieren und so auch eine Objektbezogenheit finden, über die sie selbst sonst nicht so greifbar verfügen. Für das Ankommen des Umfassenden brauchen wir keine Mystik, wir haben die psychoanalytische Wissenschaft, die das viel besser nutzbar machen kann. Wir müssen nicht einen Gott und eine Transzendenz für dieses Umfassende haftbar machen, auch nicht ein irgendwie schon fast dämmeriges, leicht somnolenten Versunkenheitsbewusstsein. Wir können bei hellem Bewusstsein und ganz irdisch sagen: das Ankommen eines Umfassenden ist durch die Kombiniertheit der zwei gerade genannten Grundtriebe oder Grundstrukturen viel besser zu erklären und auch zu erfahren. Denn natürlich kommt es aufs Erfahren an, aufs Mitkriegen, wie es ja auch in der herkömmlichen Psychoanalyse der Fall ist. Und dies kann freilich weiter gehen als nur bis zum Oralen.

C. Albrecht war schon nahe dran an dieser Erfahrung des Umfassenden. Aber er konnte es nicht wissenschaftlich genug ausdrücken.  Er übte sich in einem Verfahren des In-Sich-Hineinhörens durch Abschalten von Alltagsgedanken und Konzentration auf einen von innen kommenden wortbezogenen Begriff.  Es sollte also von innen ein bereits festes ganzes Wort kommen, etwas, das alo tatsächlich über übliche Meditationsmetzhoden hinausgeht. Albrecht versuchte gleichzeitig die ihm zukommenden Worte rational zu prüfen, um ihnen eine ‚echte‘ und profunde Wertung geben zu können. Man spürt jedoch sofort, dass bei C. Albrechts Technik des in sich Hineinhörens auf das von „innen“ kommende mystische Wort, also eines meditativen in sich Hineinlauschens,  sich ihm durch die "mystisch ankommenden Worte" nicht ein wirklich neues, reales Wissen aufdrängt, sondern dass es ein Wissen ist, das er – Freud würde sagen: im Vorbewussten – bereits hat. Er verdrängt etwas, er ist schon zu bewusst in seinem Wissen, dass seine „ankommenden Worte“ etwas Elegisches beinhalten werden und spricht dies dann nur noch aus. Die "mystischen" Eingebungen sind wie Gedichte, die stets etwas dunkel Erhabenes  wie "Urherz", "Oh Stein", "Licht", wiederholen und auch Erinnerungen ans Altdeutsche wecken, an etwas also, das er schon von irgendwoher kennt, z. B. von theosophischer Dichtung oder religiösen Anspielungen her. Ihm fehlt der Freud´sche oder auch der Sokratische Eros, irgend etwas traut sich in ihm keine gewagteren Behauptungen zu, und so liest sich sein Daimonion (die innere Stimme bei Sokrates) wie religiöse Lyrik.

Eine wirklich konkrete oder gar mutige Aussage, ein Wissen aus dem Unbewussten, das neu, erschreckend oder treffend wäre, weil auf den Eros zielend  und das man an die Menschen als neu, revolutionierend weitergeben könnte, kommt bei Albrecht nicht zustande. Es ist wie mit vielen „medialen“ Methoden, wo das Medium die Botschaft nur aus dem ihm schon vertrauten Vorbewussten holt, nicht wirklich aus dem Unbewussten, dem Transzendenten. Warum sollte sich eine transzendente Botschaft unserer fertigen Sprache bedienen? Ist es nicht naheliegender, dass sie zuerst einmal wie etwa KSTNDFRBNIZ unverständlich klingt, und wir sie erst entziffern müssten? Trotzdem war sein Versuch mutig und interessant.
Was C. Albrecht fehlte war genau das kritische Übertragungsobjekt, als das wir den Analytiker bezeichnen. Der Psychoanalytiker ist das Objekt, auf das alle möglichen und meist irrelevanten Bedeutungen und Gefühle unbewusst übertragen werden. Aus seiner Funktion eben dieses Objekt zu sein, muss er dann seine Deutungen gestalten, die er dem Patienten zurückgibt. C. Albrecht hatte hier nur seine Bildung, seine sicher lautere und ernsthafte Absicht und seinen allgemeinen christlich-mythisch-mystischen Glaubens-Hintergrund. Für ein seriöses wissenschaftliches Verfahren war dies jedoch zu wenig.

Die Kombiniertheit der genannten  Grundtriebe in einem Verfahren, das dem von C. Albrecht durchaus ähnlich und verwandt sein könnte, hätte mehr wissenschaftliche Relevanz. Sie lässt sich durch Übungen erfahren, die ganz konkret entweder die mehr bildhafte (Schautrieb) oder die mehr worthafte (Sprechtrieb) Seite dieser Kombiniertheit benutzen, um damit etwas Umfassendes auszudrücken. Es müssen also beide Grundtriebe in einer Art kombiniert und natürlich auch vorhanden sein, so dass sie wie bei C. Albrecht geübt werden können. Ich habe dafür die Analytische Psychokatharsis und die Formel-Worte entwickelt und muss bitten, sich unter diesen Rubriken weiter über Einzelheiten dieser Methode zu informieren. Auf jeden Fall kann sie so etwas Umfassendes herstellen, weil sie das Subjekt ja am Herstellungsvorgang viel mehr beteiligt (neben dem Worthaften bei C. Albrecht sind auch gleichermaßen bildhaftes "Ankommendes" beteiligt). Zudem ist das dann das Ergebnis als Umfassendes zwar sprachlich ausdrucksvoll (siehe Beispiele, die in mehreren meiner Veröffentlichungen erwähnt werden), aber nicht so einfach mythisch vorgeformt, sondern muss noch analytisch gedeutet und integriert werden. Für diesen zuletzt genannten Vorgang braucht man allerdings nicht Psychoanalytiker zu sein. Die Deutung gelingt auch dem etwas gebildeten Laien meist von selbst.

Dazu muss man nur verstehen, wie die Symbolbildung im Menschen von statten gegangen ist. Es gibt dazu jede Menge Theorien. Naturwissenschaftler sehen natürlich in speziellen neuro-logischen Grundlagen die Fähigkeit des Menschen zur generellen Symbolbildung. Das Tier kennt nur eine Signalsprache und alle Versuche über Gesten, Mimik und Ähnlichem den Be-ginn einer Symbolsprache zu erklären, sind nicht wissenschaftlich genug belegt. Als Psycho-analytiker versuchen wir die Symbolbildung über die ersten „symbolischen Objekte“, bei-spielsweise „Klang“ – und „Erlebnisobjekte“ wie sie schon im Mutterleib vom Kind erfahren werden können, zu erklären. Doch damit sind wir selbstverständlich wieder bei dem zwei Grundtrieben und –prinzipien angelangt, also diesem zwiegespaltenen Umfassenden. Und so wird endgültig klar, dass jeder Mensch selbst sich nach der oben angedeuteten Methode sein „Ankommendes“ selbst deuten kann, und dass es dazu also nicht schon wieder neue Fachleute braucht.

Es gibt dazu jede Menge Theorien. Naturwissenschaftler sehen natürlich in speziellen neurologischen Grundlagen die Fähigkeit des Menschen zur generellen Symbolbildung. Das Tier kennt nur eine Signalsprache und alle Versuche über Gesten, Mimik und Ähnlichem den Beginn einer Symbolsprache zu erklären, sind nicht wissenschaftlich genug belegt. Als Psychoanalytiker versuchen wir die Symbolbildung über die ersten „symbolischen Objekte“, beispielsweise „Klang“ – und „Erlebnisobjekte“ wie sie schon im Mutterleib vom Kind erfahren werden können, zu erklären. Doch damit sind wir selbstverständlich wieder bei dem zwei Grundtrieben und –prinzipien angelangt, also diesen zwiegespaltenen Umfassenden. Und so wird endgültig klar, dass jeder Mensch selbst sich nach der oben angedeuteten Methode sein „Ankommendes“ selbst deuten kann, und dass es dazu also nicht schon wieder neue Fachleute braucht.