Raum-im-Raum

Raum-im-Raum.  Vom Hyperraum zur Wahrheit.

Wir brauchen keine Paralleluniversen. Warum sich vorstellen, dass es parallel zu unserem noch eins und dazu dann wieder eins, zu dem es dann noch ein weiteres Paralleluniversum gibt? Astrophysiker tun sich mit der einigermaßen plausiblen Realität etwas schwer. Doch das ist nicht der Grund, warum ich hier vom Raum im Raum schreibe. Denn die Paralleluniversen gibt es in uns selbst.

Nur sind sie nicht wirklich parallel, sondern eher ineinandergeschachtelt, so wie sich schon S. Freud das Unbewusste vorstellte. Er stellte sich das Unbewusste so vor wie wenn die Stadt Rom mit ihren sämtlichen auch aus frühesten Zeiten stammenden Bauwerken, also imaginär ineinandergeschachtelten alten und neuen Bauten in einem Konstrukt zu sehen wäre. In der Mathematikspricht man hier, also bezüglich dieser Raum-in-Raum-Strukturen von räumlichen Mannigfaltigkeiten, was ebenfalls ein treffender Ausdruck ist. Der Raum ist mehrfach aus- und eingefaltet. Diese Vorgänge sind schon lange aus der Mystik und selbst auch aus der Bibel bekannt. Wenn das Auge, das den dreidimensionalen Raum durch seinen zweifach gefaltete Struktur wahrnimmt, „einfältig" wird - so heißt es dort - wird man „erleuchtet" (Math, 1,6). Modern ausgedrückt heißt dies: man nimmt dann die Topologie (Einsteinsche Geometrie) der Raum-Ineinander­schachtelungen wahr.

Zu was ist das nütze? Nicht unbedingt zu etwas Gutem. Denn was man dann wahrnimmt, ist - drückt man es in der Sprache der Psychoanalyse aus - erst einmal nur die grundlegende Spaltung, in der sich die menschliche Seele befindet. In seinem letztem Werk spricht Freud von der „Ich-Spaltung im Abwehrvorgang", was heißen soll, dass der Mensch sich, um unangenehme aggressive oder libidinöse Strebungen von dem endlich einmal irgendwie erfassten und aufgebauten Ich fern zu halten, aufspaltet. Lieber mit einem halben Ich gut leben, als mit einem ständig gefährdetem oder störrischen ganzen Ich sich herumquälen. Und diese Spaltung wird einem natürlich bewusst, wenn man die vielen ineinandergeschachtelten Räume in sich wahrnimmt, in denen überall ein Stück von eigenen Ich versteckt ist. Man kann verstehen, dass die Astrophysiker von Paralleluniversen reden, um von dieser Spaltung in sich abzulenken, durch die sie eigentlich doch den besten Einblick in die Parallelität des Seins hätten.

Andererseits kann es nicht nur schlecht sein, diese innere Topologie wahrzunehmen, sonst hätte Jesus das nicht so gesagt und auch Freud hätte nicht so einen Vergleich gebracht, der doch im Grunde genommen ganz schön ist. In historischen Ausstellungen findet man oft so etwas wie die Stadt Rom in ihren verschiedenen Zeitaltern ineinandergetürmt dargestellt. Man verwendet dann verschiedenfarbige Glas- oder Materialstrukturen, die die Um- und Überbauten der einzelnen Häuser (in Rom ging es vor allem um das Forum Romanum) in einem Gebilde zeigen können. Das muss also nicht Angst machen, wenn man seine eigene Geschichte so in sich sähe. Die frühe Kindheit, die ja in der Psychoanalyse eine große Rolle spielt, wäre so in Form zum Teil zerstörter, zum Teil wieder angebauter Grundmauern oder gar voller Gerüststrukturen zu sehen. Alle Gegenstände und Figuren des Lebens wären größtenteils, also quasi restauriert, wieder irgendwie und irgendwo untergebracht. All die Menschen die man kennt und gekannt hat wären ebenso vorhanden, vielleicht nur als Bilder an den verschiedenen Wänden. Denn wenn sie alle sehr lebendig und unruhig herumlaufen würden, wäre die Vision vielleicht eher psychisch störend, um nicht zu sagen beängstigend und psychotisch machend. Aber auch zu viel von all den Gebäuden und Landschaften könnte erdrückend wirken. Deswegen ist nichts so gut, wie nur die reine Topologie zu erfahren, die Punkte, die Grundlinien und sonst nichts.

Es könnte ja sein, dass Jesus genau das gemeint hat. „Erleuchtung" ist ja kein moderner wissenschaftlich fundierter Ausdruck. Was Einstein schließlich begründet hat, ist eine Neu-und Weiterfassung der Arbeit früherer Mathematiker und Geometer. Während die Mystiker und die Religiösen eigene Erfahrungen provoziert haben, haben die alten Griechen sich mehr auf die denkend abstrahierende und dann auch geometrisch abstraktere Weise erfassen wollten. Für Pythagoras war daher der Mensch ein Dreieck. Das war nicht völlig absolut und abstrakt zu nehmen, Pythagoras hat sich so gefühlt. Er hat die Linien und Winkel in sich gespürt und die seelische Ausgeglichenheit mit ebenso harmonischen Figuren verbunden. Zahlenreihen und einfache mathematische Gesetze waren Ausdruck des menschlichen Lebens und Schicksals. Mit Unterbrechungen hat man immer wieder zu diesen Vereinfachungen und Topologien zurückgefunden.

Die Arabischen Wissenschaftler, Albertus Magnus und die Alchimisten haben ebenfalls wieder zu solchen elementaren Formen gegriffen, wenn sie das Wesen des Menschen zeigen wollten. Im Yoga hat man es sogar mit direkten körperlichen Haltungen und umgedrehten Stoffwechselfunktionen versucht. Und heute eben die Psychoanalyse. Für J. Lacan z. B. ist der Mensch ein Borromäischer Knoten, ein Gebilde, das drei kreisrunde Schlingen so verbindet, dass sie auseinanderfallen, wenn man einen von ihnen öffnet. Damit sind drei seelische Instanzen gemeint: Ich, Es und Überich oder auch das Begehren, der Anspruch und die Auflösung der Übertragung,[1] oder gar rein theoretisch: das Reale, Imaginäre und Symbolische. Aber zurück zur Praxis, denn die Theorie allein hilft niemanden. Die Ineinanderschachtelung der Räume kann man ja erfahren, wenn auch am besten in mehr formaler und aufs Wesentliche reduzierter Form. Rom sozusagen nicht als so komplex rekonstruiertes Panoptikum, nicht nur als ein Pixel-zu-Pixel-Konstrukt aller Zeiten, sondern - wie gerade gesagt -  als etwas auf Wesentliche reduzierte auch in symbolischer, sprachbezogener Form. Denn es geht ja nicht an, dass ich hier ständig rede, sprachliche Zeichen benutze und damit immer wieder auf den Raum-im-Raum verweise. Ich muss ja den Sprechvorgang selbst dort unterbringen, wo er räumlich verknotet ist. So wie es zum Beispiel G. Bachelard in seinem Buch „Poetik des Raumes" versucht hat.[2]

So untersucht Bachelard das Haus, unser jeweiliges Haus als den Winkel, aus dem heraus wir die Welt sehen. Er sucht die „glücklichen Räume", die Schlupfwinkel, die Zufluchtszimmer „der Intimität, deren Werte so absorbierend sind, dass der Leser dieses Zimmer nicht mehr liest." Bachelard schreibt, als könnte man am Faden der Buchstaben die Räume aufhängen. Die Psychoanalytiker hängen jedenfalls an den „freien Assoziationen" ihrer Patienten buchstabengetreu die Interpretationen auf. Sie sprechen vom analytischen Raum, der mit Raunen, sich Versprechen, verlegenem Räuspern, schnellem Atmen, hastigen Ausreden, brünstigen Gedanken und schweigendem Deuten voll gepackt ist.[3] „Eine Rede, in der ich mir etwas sagen lasse, nenne ich wahr" . . und so steht die Wahrheit am Anfang . . .  in diesem sich mit der Auseinandersetzung zweier Subjekte aufspreizendem Raum", schreibt der Philosoph J. Simon.[4] Zwei menschliche Wesen, menschliche Subjekte, tauschen sich aus indem sie sich mit Buchstaben etwas sagen lassen, und nur so erscheint der Raum. Im Raum, in dem keine Menschen-Wahrheit ist, wohnt nichts. Kein Raum ohne die wahren Räumer, Buchstabenräumer.

Ausräumer, Einräumer, Wegräumer, Buchstabenräumer. Locus heißt lateinisch der Raum, Ort, was aber heißt  ALOCUSTOS oder CUSTOSALO? Hier wird mit dem Buchstabenraum gespielt wie die nächste Abbildung deutlich zeigen kann: ALOCUSTOS10001

Diese formelartige Buchstabenreihe hat jeweils eine andere Bedeutung, wenn man sie von einem anderen Buchstaben liest, denn es stecken - immer gleich im Uhrzeigersinn gelesen - folgende Worte darin: Sal (Salz), Locus (Ort, Raum), Custos (Wächter), Os (Mund, Knochen), Salo (durch das Meer), Alo (ich ernähre, Sto (ich stehe) und noch ein paar andere. Je nachdem wo man anfängt kann man viele Bedeutungen herauslesen, und genau das macht den poetischen, glücklichen oder sonst wahrheitsgemäßen Raum aus. Eine einzige Bedeutung, die z. B. ein menschliches Subjekt von sich gibt, macht, wie wir bei Simon gerade gelesen haben, keinen Raum aus. Es müssen mindestens zwei sein und um den Raum wirklich voll zu machen natürlich noch mehr (oder die Zwei müssen sich nicht nur reden lassen, sondern den Dritten, sie verbindenden, schließlich erzeugen). Ich, der Wächter, ernähre (Alo, Custos), Ich stehe im Meer CU (Sto salo CU), all diese seltsamen Bedeutungen haben einen tieferen Sinn. Sie sollen das lineare Bewusste vom ineinandergeschachtelten Unbewussten fernhalten.

Denn besser könnte man es doch gar nicht zeigen, dass der Raum ineinandergeschachtelt, verknotet ist. Die rein bildhafte Verschachtelung z. B. ewben der Häuser und Tempel am Forum Romanum in Rom ist zwar eindrucksvoll, verzettelt uns aber in zahlreiche Visionen. Eine formale, einfache, reduzierte Form war uns wichtiger erschienen. Aber langes Reden darüber, wie man sich denn alles so vorzustellen und nicht vorzustellen hat, war auch nicht die Lösung gewesen. Aber ein so formelhaftes Kreisgebilde erfüllt die topologischen Aspekte wie auch die der symbolischen Ordnung auf ideale Weise. Damit, darüber zu meditieren, muss ein guter, wissenschaftlich (psycho-linguistisch) begründeter Weg sein.



[1] Übertragung ist das In-Gang-Setzen des Unbewussten durch auf den Therapeuten verschobene und aktualisierte Bedeutungen und Gefühle. Durch Deutungen des Therapeuten und eigene Einsichten wird diese Übertragung als nicht relevant erkannt und aufgelöst.

[2] Bachelard, G., Poetik des Raumes, Fischer, 1992

[3] Ferro, A., Im analytischen Raum, Psychosozial Verlag, 2005

[4] Simon, J., Philosophische Untersuchung . . De Gruyter, 1969 (Zitat ist zum besseren Verständnis etwas abgeändert)