ORSA - Wahrheit und Wortbeginn

ORSA, lateinisch: der Wortbeginn, war für Philosophen immer ein Riesenproblem. orsaceramWie und mit was anfangen? Denn sie haben gespürt, dass man damit bereits den Leser einfängt, dass man ihn mit den anfänglichen Buchstaben schon verführt und es dann keine Schwierigkeit ist, ihm danach die Welt und die Wahrheit zu  erklären. Deswegen habe  ich  ORSA, den Wortbeginn, in einen Kreis mit anderen Buchstaben geschrieben und an den Anfang gesetzt.

Folgt man dem Pfeil, könnte ein Lateiner natürlich herauslesen ORSA  C  ERAM, der Wortbeginn hundert(mal) war ich, aber er könnte auch mit dem M anfangen und MORS  ACER, der Tod (ist) bitter oder AMOR SACER, die Liebe (ist) heilig, herauslesen. Genau deswegen fange ich mit so etwas an (was ich auch ein Formel-Wort nenne), denn dann fange ich niemanden mit einem festgelegten Wort, Begriff oder Wortanfang ein, verführe ihn nicht schon von vornherein in eine Richtung. Der Leser kann sich natürlich fragen, was das soll. Doch die Erklärung ist einfach. Ich komme nämlich von der Psychoanalyse her und habe mich immer daran gestört, dass wir Analytiker das Gleiche machen wie die gerade erwähnten Philosophen.

Wir teilen dem Patienten zu Anfang nämlich eine Grundregel mit: er soll alles sagen, was ihm gerade in den Sinn kommt, kurz: wir geben eine Anleitung zu schamloser und schwachsinniger Rede. Danach müssen wir uns dann hunderte von Stunden damit abquälen, den Patienten wieder aus dieser Vorbeeinflussung heraus zu lösen. Zahlreiche Analytiker habe das Problem ebenfalls bemerkt, aber keine Lösung angeboten. Natürlich kann ich es auch für die herkömmliche Psychoanalyse, für das herkömmliche Setting - wie man dort sagt - auch nicht bewerkstelligen. Wenn der Patient zur Türe hereinkommt, kann ich ihn nicht mit CERAMORSA oder SACERAMOR etc. begrüßen. Aber eigentlich wäre so etwas das Ideale. J. Lacan sagt, dass der Psychoanalytiker mit der Stimme eines Toten reden, d. h. aus dem Off sprechen müsste, wie wir heute modernerweise sagen. Denn die Wahrheit kommt zwischen dem heraus, was der Patient frei assoziiert, träumend und sich versprechend sagt. Kurz: wie aus dem Jenseits, und so muss es dann auch vom Analytiker interpretiert werden.

Eben, so ein Wort wie Wahrheit - wenn der Philosoph oder sonst jemand dies schon nur in den Mund nimmt, lügt er. Selbst der wahrheitsdurstigste Mensch kann gar nicht anders als ein bisschen lügnerisch sprechen. VERITAS, noch besser PERVERITAS, man muss sich das wieder im Kreis geschrieben vorstellen: zuerst klingt schon pervers heraus, dann natürlich PER = durch und VERITAS, die Wahrheit, aber auch ERIT ASPER,  er wird sein, stürmisch, kalt herb. Aber auch ITA, auf diese Weise, und VER der Frühling, die Jugend stecken in diesem Formel-Wort. Man würde einen Menschen also verwirren, wenn man ihm eine derartige Formulierung anböte, und dennoch, es gibt eine Möglichkeit es fair und sogar im psychoanalytischen korrekten Sinne zu tun.

Man kann es dem Patienten oder auch sonst jemanden anbieten, dass er damit sein Unbewusstes aufrufen, traktieren, beschäftigen möge. Denn das Unbewusste besteht ja gerade aus dieser Off-Sprache, es ist die „Sprache des ganz Anderen" sagt Lacan, des Fremden, Irrationalen. Doch wenn man weiß, wie das Formel-Wort aufgebaut ist, gibt es kein Problem damit wie in einer Meditation zu verfahren und es rein gedanklich wiederholt zu üben, zu reverberieren, einzutrainieren solange, bis das Unbewusste eben seine, die eigentliche, die eigentlich eigene Sprache freigibt, -geben muss. Den die Kräfte, die Triebe kommen ja direkt aus dem Unbewussten, und jedermann weiß, dass man sie nur kitzeln, anregen, aufrufen muss, damit sie ihre Wirkung tun. Was die meisten Menschen aber nicht verstehen, ist, dass das Unbewusste direkt selbst sich verlaute lässt, dass es spricht.

Ich habe an vielen Stellen erwähnt, dass es in Kurzformulierungen spricht, in Schlüsselsätzen, wie dies Freud schon von den knappen, kompakten Botschaften aus den Träumen gezeigt hat. Ich werde in einer Fortsetzung dieses Artikels darauf eingehen, hier soll genügen, gezeigt zu haben, dass SCERAMORSAC. . . . usw.  oder ERVERITASPERVE. . . . usw. den Anfang machen müssen und nicht so Worte wie Wahrheit, Liebe, das Sein oder Nicht-Sein etc. Findet jeder seine Wahrheit, sein Sein, Liebe, Tod und was auch sonst noch aus seinem Unbewussten, wird er es natürlich auch kommunizieren können mit anderen (vielleicht braucht er anfangs noch eine kleine Stütze durch einen Therapeuten, aber sehr schnell wird er selbst dahin kommen, seine Selbstanalyse zu vervollständigen. Das Verfahren mit den Formel-Worten nenne ich Analytische Psychokatharsis).