Der runde Satz

Unsere Religion ist in einer Krise. Schon lange hat der Glaube nicht mehr den Wert wie früher, und für die seelische Gesundheit gehen wir heutzutage zum Psychoanalytiker und nicht mehr zum Pfarrer. Vor allem ist uns eine klare Auffassung dessen abhanden gekommen, was man das Jenseits nennt oder nannte. Der Philosoph Michel Foucault sagte daher auch, Gott wohnt nicht im Jenseits unserer Gedanken und Vorstellungen, sondern im Diesseits unserer Sätze. Wenn wir unsere Sätze so hinbringen, dass sie in ihrer Logik derart fein formuliert oder in ihrer Aussage in sich poetisch oder gar kontrapunktisch philosophiert sind, würde aus diesen Sätzen ein göttlicher Funke heraussprühen und wir eine verstaubte Gottesidee gar nicht mehr brauchen.

Auch der Dichter und Schriftsteller Max Frisch hatte diesen Gedanken ähnlich ausgedrückt und gemeint, dass ein vollends gelungener Satz, den man sozusagen wie ein Werkzeug in der Hand sachgerecht platziert und wiegt, das höchste aller Gefühle und die wertvollste Arbeit sei, die erreicht werden kann. Der Satz muss rund sein, in sich ausgeglichen, vielleicht von ein oder zwei Nebensätzen eingefasst, zutreffend, originär, wohlgestaltet gesagt oder niedergeschrieben sein. Solche Sätze gelingen einem nicht ständig, aber vielleicht doch so reichlich, dass man mehrere Seiten damit füllen, ja vielleicht ein ganzes Buch damit schreiben könnte. Es wäre das Buch der Bücher, mindestens vergleichbar der Bibel, die ja sonst als ein solch besonderes Buch gepriesen wird.

Aber Foucault ist es nicht gelungen, Gott unnötig zu machen und Max Frisch hat ebenfalls die Bibel noch nicht richtig überholt. Wir müssen einen neuen Anlauf machen, um aus dem Diesseits unserer Sätze diese noch besser gerundeten Aussagen zu machen, so dass wir die alten Religionen nicht mehr so notwendig brauchen bzw. ihre alten Weisheiten in einer neuen Wissenschaft formulieren können. In einer Konjekturalwissenschaft z. B. wie sie in Bereichen der Mathematik oder der Psychoanalyse ausgearbeitet worden sind. In der Psychoanalyse J. Lacans, die diesen konjekturalwissenschaftlichen Ansatz besonders betont, gilt es ohnehin schon seit langem, dass im Unbewussten die Sätze rund sind. Ziemlich rund sogar. Manchmal so rund, dass sie sich ganz verdrehen, verwirbeln, verwinden. Lacans psychoanalytische Schriften scheinen sehr vielen Menschen als äußerst schwer verständlich, was zum Teil auch seine Absicht war. Er wollte nicht schnell verstanden werden, weil dies nichts bewirkt. Etwas krumm gerundete Sätze waren daher seine Spezialität. Wenn man bei einem Redner alles gleich gut versteht, meinte er, dann schlafen die meisten Zuhörer ein. Kommt man aber nicht so gut mit, obwohl man merkt, dass etwas an der Sache dran ist, bleibt man angestrengt wach.

Die Rundung der Sätze haben bei Lacan folgenden Grund: nicht nur war die Erde am Anfang wüst und leer, wie es in der Bibel steht, sondern es herrschte auch ein eigenartiges Stillschweigen vor. Jeder weiß, dass es gerade in der extremsten Stille eine Lautwahrnehmung gibt, die sich bis zum Dröhnen steigern kann. Mystiker in der Einsamkeit der Wüste haben das genau so erfahren können wie Bergsteiger, die einen Achttausender zum ersten Mal allein bestiegen. Meditation beinhaltet ebenfalls nichts anderes, als im extremen Stillschweigen das Andere (Unbewusste, Jenseitige) in sich selbst vernehmen, ja hören zu können. Lacan fasst dieses Stillschweigen in geometrische Begriffe: je länger es sich ausdehnt, meint er, windet es sich zu topologischen Formen, die eben schließlich etwas laut werden lassen. Er nennt es eine „ultra-reduzierte Phrase", die schließlich zustande kommt, wenn das Stillschweigen sehr lange anhält und das Irgendetwas, das ja stets irgendwo da ist (in der Psychoanalyse natürlich speziell im Unbewussten), sich zu artikulieren beginnt. Der Philosoph M. Heidegger sprach in diesem Zusammenhang auch vom „Geläut der Stille", was einfach nur poetischer und vielleicht auch etwas religiös das Gleiche ausdrückt. Und in der modernen Physik finden wir dieselben Ansätze wieder. Hier spricht man von der Gleichzeitigkeit des Urknalls, also eines Lautphänomens, das man zwar nicht hören kann, das aber dennoch diese Bezeichnung zu Recht verdient, mit einer Inflation des Universums, d. h. eines ultraschnellen Sich-Ausdehnens und wieder Kollabierens des völlig stillschweigenden Weltalls.

Die geometrisch-topologischen Figuren, die Lacan verwendet, sind z. B. das Möbiusband, die Kleinsche Flasche und der Torus. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Vor- und Rückseite (Innen- und Außenseite) aus der gleichen Fläche bestehen bzw. eine derartige innige Verschränkung ihrer Geometrie darstellen. Dadurch können die Grundtriebe, die Ur-Kräfte wie sie die Psychoanalyse formuliert hat, ideal konzipiert werden. „Anspruch" (Sprechtrieb) und „Begehren" (Schautrieb) beispielsweise verwickeln sich auf den Flächen des Möbiusbandes oder des Torus in der gleichen Weise, wie sie es in unserem Gehirn oder besser Unbewussten tun. Doch wie soll man es sich vorstellen, dass diese sich krümmenden Flächen auch noch Laute von sich geben? Ganz einfach, man muss dazu nur Musikwissenschaft studieren. Sicher klingt es eigenartig, dass man sich der Musik, die so stark emotional und damit meist auch irrational besetzt ist, mit einer Wissenschaft nähern können will. Man kann zur Musik vieles philosophieren, aber eine an die Mathematik angelehnte, ja fest in sie eingebaute Wissenschaft hört sich seltsam an. Dennoch kann man schon beim ersten Blick in ein derartiges Werk sehen, dass die Musikwissenschaftler ihre Betrachtungen speziell über die moderne Topologie (auch Gummigeometrie oder Einsteinsche Geometrie genannt) angehen.

tzorus3330001In der nebenstehenden Abbildung finden wir den sogenannten Terztorus wieder.1 Er kann viel besser darstellen, was es mit den Klängen, aber auch der „Tonigkeit" der großen und kleinen Terz auf sich hat. Die Musikwissenschaftler begnügen sich nämlich nicht damit, nur die Töne als solche zu betrachten, wie sie etwa auf einer Partitur angegeben sind. Neben der physikalischen Schwingung geht es ihnen auch um Metrum, Stimmung, "Tonigkeit", Rhythmus und andere mehr. Wer sich in die Musikwissenschaft einarbeitet, kann wirklich bei der Betrachtung eines derartigen Torus mehr als nur die Tonlage heraushören.

Es kommt zwar noch keine direkte Sprache und auch keine Musik zustande. Der Torus vermittelt also nicht den kleinen Teil einer Sonate bekannten Inhalts oder fängt gar mit ein paar Vokalen zu singen an. Dies ist wiederum ein Gebiet von Poesie- und Musikpsychologen. G. Mazzola, der Musikwissenschaftler, derdieses Bild entworfen hat, unterscheidet Klangsprache und Klangrede.[1] Wegen „ihrer emotionalen Signifikation verwehrt sich die Musik einer Klangsprache", sie kann nur weitgehend unbestimmte Klangrede sein. Diese probiert Mazzola geometrisch einzufangen,  während z. B. der Komponist Leos Janacek es auf rein intuitive Weise versuchte. Er wollte in seinen Kompositionen „musikalische Wahrhaftigkeit“ abbilden: „Verstohlen horchte ich auf die Sprache der Vorübergehenden, . . . gierig suchte ich jede Schwingung der Stimme zu erhaschen, beobachtete die Umgebung der Sprechenden, Die Gesellschaft, die Tageszeit, Licht und Dämmerung, Kälte und Wärme. Einen Abglanz dessen fühlte ich in der notierten Wortmelodie. . . Einen Menschen, auf dessen Sprache ich durch die Melodie des Wortes horchte, schaute ich viel tiefer in die Seele.“

Dagegen versucht die Autorin S. Bayerl in ihrem Buch „Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache" diesen Spagat zwischen den reinen Klängen und den komplexen Begriffszusammenstellungen von ästhetischen, also annähernd mehr philosophischen, Konzepten her auszuleuchten.[2] Sie zitiert Adorno:

"Die Sprachähnlichkeit reicht vom Ganzen, dem organisierten Zusammenhang bedeutender Laute, bis hinab zum einzelnen Laut, dem Ton als der Schwelle zum bloßen Dasein, dem reinen Ausdrucksträger. nicht nur als organisierter Zusammenhang von Lauten ist die Musik analog zur Rede, sprachähnlich, sondern in der Weise ihres konkreten Gefüges. Die traditionelle musikalische Formenlehre weiß von Satz, Halbsatz, Periode, Interpunktion; Frage, Ausruf, Parenthese; Nebensätze finden sich überall, Stimmen heben und senken sich, und in all dem ist der Gestus von Musik der Stimme entlehnt, die redet." [3]

 

Sicher lassen gewisse Alliterationen und Reime schnell das Gefühl aufkommen, dass es sich bei bestimmten poetischen Texten um etwas fast Musikalisches handelt. Bayerl zitiert auch R. Barthes, um mit seiner Auffassung von der „Körnung, bzw. Rauhigkeit der Stimme" an die oben erwähnte „Tonigkeit" heranzukommen. Sie weist auch auf Adorno und Benjamin hin, die bei der Musik vom „göttlichen Namen" gesprochen haben. Der Name Gottes soll unaussprechbar bleiben, er ist sozusagen ein musikalisches Erkennungszeichen, in das man sich vertiefen und verlieren kann. Es ist nur die Frage, ist er dann wirklich noch ein Name? Ist er dann nicht eine rhetorisch-musikalische Fiktion?

Denn um so etwas wie einen musikalisch klingenden Namen könnte es bei dem runden Satz natürlich durchaus gehen. Seine geometrisch runde Form bedeutet ja, dass er in sich geschlossen, knapp, konkret ist. Er hat Klang, und dies vielleicht gerade dann, wenn er aus dem eigenen Inneren kommt. Lacan spricht hier auch vom „inneren Satz", der bei jedem Menschen in seinem Unbewussten auf der Lauer liegt. Im Witz oder im Versprecher kommt dieser Satz dann plötzlich und unverhüllt heraus. Im Traum torkeln diese Sätze dann durcheinander, ein runder Satz entsteht hier nicht oder erst nach längerer Deutung. Der runde Satz muss also wohl auch Aussage auf einer zumindest angedeutet begrifflichen Ebene haben. Selbst wenn er „ultra-reduziert" ist, muss doch etwas gemeint sein, das, was speziell die Rundheit angeht, besonders prägnant und fast apodiktisch herüberkommt. Als Satz muss annähernd ein Gedanke in ihm stecken, der nicht durch irgendwelche bewussten Vorgaben eingegrenzt aber auch nicht in seiner Bedeutung uferlos sein kann. Bei aller Liebe zur Musik und zur Dichtung, sie können wohl nicht das erreichen, was mit dem runden Satz gemeint ist.

Denn auch wenn ich vorher Max Frisch mit seinem runden, gelungenen Satz zitiert und spekuliert habe, dass man ein ganzes Buch damit schreiben könnte, so war dies doch weit vorgegriffen. Aus dem hinweisenden, bestimmten und hier fast universalierenden Artikel d e r bei der Verwendung des runden Satzes klingt fast heraus, als gäbe es nur einen, eben d e n als solchen. Zumindest aber scheint es eine Kategorie zu sein, etwas also, was ganz definitiv rund und Satz ist. Dies erreichen jedoch auch die neuropsychologischen Strukturschemata und Konzepte nicht, die ein Dichter und ein Neuropsychologe in ihrem Buch „Gehirn und Gedicht" als etwas neurophysiologisch Vorgegebenes, Rundes und Satzhaftes und zentral Wirksames für das menschliche Wirken und Kommunizieren herausstellen. Sie versuchen das Problem des Zusammenhangs von Denken, Sprechen, Psyche und Gehirn in vielschichtigster Weise zu lösen.[4] So stellen sie fest, dass es letztlich diese neurophysiologisch und -psychologisch angelegte Schemata und -Konzepte sind, die mit „Klangpartikeln" und „Lautfiguren" so sehr in eins gehen, so übereinstimmend sind, dass sich die Wirkung von Grammatik, Syntax und sogar Reimen und Dichtung damit erklären lässt. Stabreime und Schüttelverse, vokalische Assonanzen und ein „artikulatorischer Regelkreis" wirken sich in der Plastizität des Gehirns förderlich aus, und auf sie greifen wir zurück, wenn wir Kunst, Kultur, Sprache und Rede, Denken und Ausdrücken nutzen. Ist der runde Satz also im Gehirn schon fertig vorprogrammiert und unser Wirken dann nur noch ein Abbild oder Nachahmung davon? Man hat das Gefühl, dass durchaus etwas an dieser neuro-psycho-wissenschaftlichen Vorgehensweise dran ist, was mit der Suche nach dem runden Satz zu tun hat. Aber d e r , d e r als solcher, der eigentliche, ist es nicht.

Wir müssen also unsere Such nach dem, was mit dem runden Satz gemeint ist, weiter fortsetzen. In ähnlicher Absicht, den runden Satz zu erklären, haben die Psychoanalytiker Buchheim, Kächele et al. in kernspintomographischen und elektroence-phalographischen Untersuchungen nachweisen können, dass gewisse „Schlüsselworte" sich als Ausdruck der Stimulation bestimmter Hirnareale nachweisen lassen ([5]). Sie hatten während eines längeren Zeitraumes Messungen vorgenommen. Dabei verfolgten sie ein Konzept, das „unbewusste kognitiv-affektive Prozesse erfassen sollte, die aus psychodynamischer Sicht relevant sind." Sie benutzten dazu angeblich messbare „unbewusste zentrale Konflikte" (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) und Bildinterpretationen, die sogenannte Bindungsrepräsentationen (Adult Attachment Projective) wiedergeben sollten. Es sollte sich um Sätze handeln, die das Kernproblem und den Kernkonflikt des entsprechenden Patienten knapp und treffend wiedergeben und zudem darum gehen, inwiefern die innere seelische Gebundenheit sicher, distanziert, verstrickt oder ganz unverarbeitet ist.

Diese Autoren hatten also psychoanalytische Kriterien, in deren Zentrum die erwähnten „Schlüsselsätze" standen, mit der Gehirnbildgebung verbunden. Man spürt jedoch schon bei dieser hochakademischen und schulpsychologischen Vorgehensweise, dass diese dem psychoanalytischen Vorgehen total widerspricht. Die im Zentrum der Psychoanalyse stehende „Übertragungsdeutung" fehlt, da ja „operationalisiert" und nur projektiv deutend vorgegangen wird, also nur nach Maßgabe dessen, was die Therapeuten sich - gewiss anhand quasi etablierten psychoanalytischen Wissens - ausgedacht haben.

Doch dass die nunmehr also so mühsam gewonnenen „Schlüsselsätze" (z. B. „andere beachten mich nicht so wie ich es mir eigentlich wünsche") in der SPECT- Untersuchung bestimmte Aktivierungen zeigen, mag interessant sein, aber was bringt sie dem Patienten? Weiß er und auch seine Forscher nicht auch so schon von vornherein, dass die „Schlüsselsätze" eben in gewisser Weise und vielleicht sogar in einem hohen Grade wirklich „Schlüsselsätze" sind, und man davon also reden muss? Selbst wenn die „Schlüsselsätze" nicht durch die „Übertragungsdeutung" zustande gekommen sind, sind sie ja nicht uninteressant. Freilich ist es fraglich, ob sie wirklich therapeutisch sehr entscheidend sind und auch hilfreich wirken. Denn wenn der Patient „nicht so beachtet wird wie er es sich wünscht", steckt doch etwas Anderes und Tieferes dahinter, das durch die Gehirnaktivierungen nicht gebessert und gar gelöst wird und gerade auch nach psychoanalytischen Kriterien nicht nur bewusst diskutiert werden kann.

Die runden Sätze, die diesen „Schlüsselsätzen" sehr ähnlich zu sein scheinen, müssten also spontan zustande kommen und nicht bewusst erdacht sein. Sie können ja mit den Gehirn-Strukturschemata zusammenhängen. Jedoch erhebt sich dann die Frage, ob die Reihenfolge nicht umgekehrt ist: nicht die Strukturschemata bringen die Sätze hervor, sondern eben exakt die Rundheit und Knappheit, die „Tonigkeit" und topologische Form der „Phrase", ja gerade ihre „Phrasenhaftigkeit", „Signifikantigkeit" könnte doch dieses so plastische Gehirn in Richtung auf Strukturschemata verändert haben. Nicht das Gehirn - insbesondere das menschliche Großhirn mit seinen hinteren unteren Temporalregionen - war zuerst da, sondern der runde Satz. E r hat im Laufe von Jahrtausenden die Verschaltungen des Gehirns so geformt.

Das würde wiederum - und so schließt sich der Kreis wieder zur Religion als unserem Ausgangspunkt - recht gut zu göttlichen Aussagen passen. Schließlich war ja nach biblischer Erkenntnis zuerst der runde Satz eines „fiat lux" vorhanden. Später kamen noch ein paar andere derartige Rundsätze dazu, die sozusagen in den Sternenstaub hineingerufen alle mögliche Formen des Lebens bis hin zum Menschen hat entstehen lassen. Leider sind diese biblischen Aussagen nur mythisch, sie sind einfach nur gut erzählt, aber nicht wissenschaftlich begründet. Ich möchte jedoch mit diesem Essay zum runden Satz eine - wie oben erwähnt - konjekturalwissenschaftliche Arbeit vorlegen. Ich habe den runden Satz nicht erfunden. Die meisten Menschen wissen sofort, was in etwa mit dem runden Satz gemeint ist. Ein Satz, der wie Max Frisch es ja gesagt hat, rund geschliffen ist, „ultra-reduziert" knapp, aber zutreffend, genau und wie ein passendes Werkzeug in der Hand liegt.

Ich arbeite hier sozusagen mit den „freien Assoziationen" der Menschheit. Zum runden Satz fällt den meisten Menschen so etwas Prägnantes ein wie etwa das gerade zitierte „fiat lux", aber er hat bei allen schon einen viel zu subjektiv geformten Inhalt. Ähnlich wie beim Mythos, der Neurowissenschaft oder der Musik gibt es nicht d e n runden Satz, der dabei herauskommt. Ich meine mit d e m wie ja schon erwähnt natürlich nicht einen einzigen, absoluten. Aber es soll doch einer sein, der all die genannten Kriterien von der Poesie, Musik bis zu Mathematik (Geometrie) und Psychoanalyse samt den Geräuschen der Natur bis hin zum Urknall ansatzweise genügt. Die Runde-Satz-Kategorie. Ja, schon e r , he himself.

Offensichtlich ist es so schwierig ihn zu finden, weil er eine starke Subjektbezogenheit hat, also nicht von irgendjemanden einfach hingeschrieben, behauptet, wissenschaftlich erwiesen oder sonst wie suggeriert werden kann. Er muss wohl von jedem selbst in seiner Rundheit und Satzhaftigkeit gefunden werden. Man spricht hier auch von einer Wissenschaft in der Teilnehmerperspektive. Gerade hier, in dieser Wissenschaft v o m Subjekt ist jeder selbst gefragt. Dazu wäre die Psychoanalyse eigentlich schon der beste Ansatz, denn hier müssen im langen Zueinanderdialogisieren Analytiker und Analysand (Patient) sprachlich übereinkommen, wobei Sprache hier sogar an den Rand ihres Wesens gelangen kann. Aus Traumschnitzeln, aus Bildworten (dem Rebus), verworrenen Versprechern muss hämmernd und schmiedend schließlich der runde Satz herauskommen, der zumindest für diese beiden Protagonisten gilt. Aber noch besser ist es, wenn man ihn in sich selbst zum Sprechen bringen kann.

Denn nur das kann ihn ja rund machen. Er muss in seiner Torus- oder Möbiusband bezogenen Kreisbewegung aus jedem selbst kommen. Man muss nur einen solchen Kreis samt seinen Buchstaben schlucken, ihn verdauen und ihn dann durch das eigene Unbewusste neu formiert wieder ausspucken. Ein solcher Kreis könnte so aussehen:

Diesen Buchstabenkranz habe ich schon in mehreren Veröffentlichungen vorgestellt. ENSCISNOMBild0001Ich erwähne ihn daher nur noch kurz. Es handelt sich um eine Formulierung aus der lateinischen Sprache. Liest man die Buchstaben im Uhrzeigersinn und fängt man immer wieder bei einem anderen Buchstaben an, so kommen stets andere Bedeutungen heraus. Fängt man z. B. beim ersten S an, so heißt das Ganze SCIS NOMEN (du weißt den Namen), fängt man beim O an, heißt es: OMEN SCIS N (du kennst das Zeichen N)

und beginnt man schließlich beim M, so kommt heraus:MENS CIS NO (Der Geist jenseits von NO). Das mag alles nach Unsinn klingen und einige weitere Bedeutungen klingen noch seltsamer. Doch darauf kommt es nicht an. Dieser Satz ist nicht deswegen rund, weil man ihn im Kreis oder noch besser auf ein Möbiusband schreiben könnte, sondern weil er mehrere Bedeutungen in sich trägt und man keine präferieren kann (oder soll). Man muss ihn also so schlucken wie er ist. Gerade eben dadurch - weil er nämlich nicht Suggestion ist - regt er in jedem einzelnen einen Satz an, der aus dessen eigenem Unbewussten stammt. Man muss den Satz E N S C I S N O M E N S C I usw. dazu am besten wiederholt in Gedanken meditieren. In meiner Broschüre „Die körperlich kranke Seele" habe ich ausführlich beschrieben, wie man die Meditation durchführen soll und welche Ergebnisse dieses Verfahren (ich habe es „Analytische Psychokatharsis" genannt) hervorbringt.

 

 

 

 

 


[1] Mazzola, G., Geometrie der Töne, Birkhäuser (1990). Eingezeichnet sind die Terzbeziehungen, wobei die Reihe der Halbtonschritte als aufgewickelte geschlossene Spirale erscheint.

[2] Bayerl, S., Von der Sprache der Musik bis zur Musik der Sprache, Königsh. & Neumann (2002)

[3] Adorno, T. W., Musikalische Schriften I -III, GS Bd. 16, S. 251

[4] Schrott, R., Jacobs, A., Gehirn und Gedicht, Hanser (2011)

([5]) Buchheim, A., Kächele, H., et al.: Psychoanalyse und Neurowissenschaften, Nervenheilkunde 2008; 27: 441-45. Diese „Schlüsselworte" artikulieren direkt die Kern- und Konfliktproblematik in psychoanalytischer Sprechweise, während die PASSWORTE diese Kern- und Konfliktproblematik in noch etwas verschlüsselt lassen, so dass sie noch etwas weiter enthüllt werden müssen.