Ultrasubjektiv und Universal

Ich gehe von dem aus, was Lacan auf der einen Seite das „ultrasubjektive Ausstrahlen" nennt, und auf der anderen Seite das „universale Gemurmel". Beide sind Aspekte des Unbewussten und man hat sofort das Gefühl, dass sie irgendwie etwas Umfassendes und gleichzeitig fast Jenseitiges bezeichnen. In der Psychoanalyse liegen die Dinge stets in einem sehr subjektbezogenen Bereich, obwohl es durchaus um etwas Reales geht. Freud sprach von „psychischer Realität", doch ist dieser Ausdruck nicht so präzise wie die zwei gerade oben genannten Lacanschen Formulierungen. Das „ultrasubjektive Ausstrahlen" hat auf jeden Fall etwas mit dem Wahrnehmungstrieb, dem Schautrieb zu tun, insofern dieser die mehr subjektbezogene Seite der Wahrnehmung betrifft. Denn es geht in der Psychoanalyse nicht so sehr um die reine Sinnestätigkeit, sondern um die Sinneslust, um die in den Sinnen wirkende Libido, die Eros-Energie, wenn man das einmal so sagen darf. Denn

das Wort Energie ist hier eigentlich falsch. Es gibt keine Bio- oder Libido-Energie, weil der Energiebegriff an die „Konstanz einer Ziffer" gebunden ist, an „wohlbestimmte numerische Werte."[1] So etwas ist ja gerade für die kaum objektiv fassbare Freudsche Libido nicht möglich. Das „ultrasubjektive Ausstrahlen" ist demgegenüber jedoch leichter zu fassen, wenn eben auch nicht in naturwissenschaftlicher Form.

Um dieses „ultrasubjektive Ausstrahlen" besser zu verstehen, kann man von dem ausgehen, was man das Körperbild nennt. Es handelt sich dabei um die unbewusste Spiegelung des eigenen Körpers, die Erfahrung des Körperichs, etwas, das man in Momenten starker Ruhe oder wenn man sich in seine Körperteile intensiv hineinfühlt, spüren kann. Die französische Psychoanalytikerin F. Dolto sprach vom dynamischen, basalen und erotischen Körperbild je nachdem, wo und wie diese unbewusste seelisch-libidinöse Besetzung ihren Schwerpunkt hatte. Das „ultrasubjektive Ausstrahlen" ist also etwas, das sich so empfinden lässt wie etwas das Strahlt, das den Charakter von etwas den Körper Durchrieselndes hat, so wie der Schauder, Schauer, der einem bei einem bewegenden Musikstück den Rücken herunterläuft. Das Wesentliche ist nur, dass dieses „Ausstrahlen" sich innen wie außen befindet, man weiß nicht, ob es von einem innerlich ausgeht oder von außen hineingeht. Lacan schreibt auch, dass es die Grenzen des physischen Körpers weit übersteigt. Es verhält sich so, als sein man eingebettet in ein Fluidum dieses „Ultrasubjektiven" so wie die Elementarteilchen eingebettet sind in das universale Higgs-Feld.

Im Volksmund sagt man manchmal: der oder der hat eine „Ausstrahlung". Doch damit ist nicht das Ultrasubjektive gemeint. Diese populär bezeichnete „Ausstrahlung" ist etwas Persönliches, vielleicht Charismatisches wie in der Magie, aber es hat nichts mit dem Lacanschen Begriff der „ultrasubjektiven Ausstrahlung" zu tun. Denn es geht hier ja gerade um das, was jenseits aller subjektiven oder subjektbezogenen Formen von „Ausstrahlung" existiert. Und wie gesagt, dieses Ultrasubjektive kommt Innen und Außen gleichzeitig vot, es ist eben einfach ein „Strahlen" undifferenziertester Art, es könnte einem tatsächlich so wie ein Higgs-feld vorkommen, wäre dies nicht eine umrissene physikalische Größe. Manche Esoteriker stürzen sich zwar auf derartige Analogien, die zwischen Physis und Psyche oder Geist herrschen sollten. Doch damit ist es nichts. Das Higgs-Feld ist im quantenmechanischem Feld angesiedelt, von da her gibt es keine auch nur annähernd „wohlgeformt numerisch" zu erfassende Beziehung zwischen Geist und Materie. Und selbst wenn diese Beziehung existieren würde, könnte der in einem Menschen realisierte Geist das Higgs-Feld nicht dort beeinflussen, wo er sich selbst gerade befindet, sondern vielleicht irgendwo im Universum, wovon niemand Zeugnis ablegen könnte. Immerhin könnte das „ultrasubjektive Ausstrahlen" einem das Gefühl geben, man sei universal, sozusagen mit allem verbunden, im All-Raum oder Über-Raum. Doch dann handelt es sich eben wieder nur um ein subjektives Gefühl, Empfinden, nichts Darüber-Hinaus-gehendes.

Wenn man schon an der Universale herankommen will, dann nur über diesen zweiten Lacanschen Begriff des „universalen Gemurmels", der noch mehr als das „ultrasubjektive Ausstrahlen" für das eigentliche Unbewusste steht. Dass das Wesentlicheste der Dinge nur über einen Dualismus zu erereichen ist, ist für die exakte Wissenschaft eine conditio sine qua non. Der Begriff Geraune, Gemurmel ist treffend gewählt, denn im Unbewussten herrscht - um einen Begriff aus der Informatik zu wählen - Redundanz vor. Das eigentliche Geschehen wird nicht durch die bewusste Resonanz vermittelt, sondern bleibt ja unbewusst, also eben redundant. Vor kurzem erzählte mir ein Patient einmal, dass er einen Pornofilm in D3 gesehen habe, einfach phantastisch, ergänzte er. „Und haben Sie auch die Haut der Frauen, das Fleisch, die Wärme, den wildströmenden Geruch der Haare spüren können"? fragte ich. Nein, er hat nur die oberflächliche Resonanz erfahren, er hat etwas sehen können und mit den Händen ins Leere gegriffen. Das Redundante wäre die eigentliche Botschaft gewesen, aber um diese hat man ihn betrogen. Das Gemurmel der Welt, die Geräusche des Lebens und das Geraune unserer eigenen Wünsche tummeln sich in unserem Unbewussten, und man müsste sie dort aufspüren, fassen, richtig in die Ohr-Hände - oder besser: in den inneren lauschenden Sinn - bekommen. Das ist auch der Weg der Psychoanalyse.

Dort soll der Patient „frei assoziieren", d. h. raunen, murmeln, was immer ihm gerade einfällt, und der Analytiker muss dann aus diesem redundanten Material die nunmehr freilich auch resonante Deutung fabrizieren. Wenn der Patient sich verspricht und statt resonant „zum Schein" redundant „zum Schwein" sagt, ist die Deutung nicht schwer. Trotzdem gelingt es in den herkömmlichen Psychoanalysen meist nicht, das „universale Gemurmel" voll zur Deutungsarbeit zu nutzen. Manchmal ist es so unverständlich, dass man nur noch einen abgeschwächten Lärm vernimmt, manchmal ist es überfrachtet mit einseitigen Lauten, die etwas zu Bewusstes suggerieren. Hier wäre es dann wieder ideal, könnte man das „ultrasubjektive Ausstrahlen" ebenso für die Deutung nutzen. Im Traum, hinter den bizarren Bildszenerien, blitzt es manchmal auf. Aber es ist zu vielschichtig und diffus. Freud hat daher dazu geraten, auch bei der Traumdeutung sich an die Wortklangbilder zu halten. Schwarzen Rettich kaufte ein Frau in einem ihrer Träume und Freud deutete dies als „Schwarzer, rett´dich"! Und tatsächlich, die Frau hatte ein Problem mit einem Afrikaner, und es ging nicht um das Gemüse, das doch zudem noch die Form eines Penis-Symbols gehabt hätte. Hier muss man sagen, war Freud wirklich genial, doch meist sind solche direkten Deutungen nicht möglich. Und selbst nach endlosen Traumdeutungen hat der Patient immer noch Träume und kein Ende ist abzusehen. Deswegen wäre es gut, etwas zu haben, in dem das „universale Gemurmel" mit dem „ultrasubjektiven Ausstrahlen" Hand in Hand ginge.

Lacan hat so etwas mit der Topologie versucht. Topologische Gebilde wie Tori (Reifen) oder Vasen mit Henkeln eignen sich dafür besonders gut, wenn man sie noch zusätzlich mit Schriftzeichen versieht. Ich verwende gerne ein mit Buchstaben besetztes altMöbiusband. Bei einem Möbiusband entstehen ständig Schnittstellen, an denen man von  der Vorder- zur Rückseite des Bandes wechseln kann, obwohl und weil dieses Band ja eigentlich nur eine Seite (besser: Fläche) hat. Tatsächlich können die Buchstaben von verschiedenen Schnittstellen aus gelesen verschiedene Bedeutungen ergeben. Das „ultrasubjektive Ausstrahlen" des Bandes kann dadurch das auf ihm geschriebene „universale Gemurmel" ideal vermitteln. Es ist geradezu ein „linguistischer Kristall", ein Begriff, den Lacan ebenfalls für diese Kombination des „Strahlens" (Scheinens) mit dem „Murmeln" (Sprechen) verwendet. Auf jeden Fall ist durch ein derartiges Vorgehen ein wissenschaftlicher Zugang zu dem Ausstrahlen, Scheinen und all den Konzepten einer an die Wahrnehmung angelehnten libidinösen Wahrnehmungslust gefunden. Und zwar ganz besonders dadurch, dass diese mit einer universal murmelnden Entäußerungs- oder Sprechlust verbunden ist.Gezielt auf einem solchen Dualismus baut die Psychoanalyse auf. In den Anleitungen für die Analytische Psychokatharsis wird die praktische Seite dieser theoretischen Ausführungen genauer beschrieben.

 


[1] Esfeld, M., Das Wesen der Natur, Spectrum der Wissenschaft, 6/11, S. 57