Die Angst und das Higgs-Teilchen

Um von der Angst etwas zu sagen, muss man sie – fast, annähernd, einmal richtig – erfahren haben. Man muss ihre zunehmende Uferlosigkeit, Angst vor der Angst, d. h. das in der Angst Perpetuierende, Grauenvolle, Todesbezogene kennen. Und dennoch muss man wissen, dass die Angst noch Schutz sein kann vor etwas noch Schlimmeren, und keiner weiß, was es ist. Für Freud tauchte die Angst in dem Moment auf, wo der libidinöse Trieb plötzlich unterbrochen wird und nicht mehr weiß, wohin er gehen soll. Er flutet, explodiert dann in die Angst, die bodenlos ist. Freud sah deswegen im coitus interruptus ein Modell für die Angst, weil der sich zum Höhepunkt steigernden libidinösen Energie, einem ES SCHEINT, plötzlich der Boden entzogen ist. Aber heute würde dieses Beispiel nicht mehr sehr überzeugend wirken. Dass der schon so genital organisierte Trieb eine derartige Angst

bewirken kann, scheint nur vom mechanischen Modell her überzeugend. Generellmuss es noch extremere Triebe geben, erotisch-aggressivere, irrationalere,deren SCHEINEN in Bezug auf die man sich eine übermäßige Angstentwicklung besser vorstellen kann.

Bei Hegel gibt es eine Angst vor dem Anderen, den man groß schreiben muss, denn es ist der große, fremde und eben total Andere.Es geht um die generelle Andersheit zwischen Herr und Knecht, die Angst macht und die auch dazu führt, dass es einen Kampf um letztliche Anerkennung, um ein SPRECHEN, und das heißt auch Kampf auf Leben und Tod gibt. Lacan betont zu Recht, dass diese Dialektik gesellschaftlicher Art ausweglos ist und nur in Gewalt enden kann. Er wirft Hegel vor, dass er den Anderen als bewusst unterstellt, als ein eigenes selbstbewusstes Sein, das ein Begehren, eine Kraft in sich hat. Als Psychoanalytiker weiß er jedoch, dass der Andere unbewusst ist. Der Andere ist zwar mächtig hinsichtlich seiner Bedeutung, aber es mangelt ihm etwas und er weiß es nicht. Es handelt sich auch um die eigene Andersheit, die jeder in sich hat, eben das Unbewusste in einer - so müsste man sagen: symbolischen Kausalität. Dies trifft auch auf Gott als dem großen Anderen in der Religion wie auch auf den Anderen als Vertreter einer völlig anderen Welt zu (z. B. einer Primärkultur). Der Andere, auch meine eigene Andersheit ist Hort der Sprache, der symbolischen Ordnung, der Signifikanten, groß A geschrieben. Es handelt sich bei ihm um ein unbewusstes Sprechen, um ein SPRICHT in der dritten Person Singular, und das ist es, was Angst machen kann.

Um dies ganz zu verstehen, muss man wissen, dass diese dritte Person schon in dem Spiegelbild einen Vorläufer hat, das jeder Mensch von sich unbewusst in sich erstellt und aufbewahrt. In diesem Spiegelbild spiegelt sich nämlich nicht alles, ein Teil, ein bestimmtes Etwas, von Lacan als klein a, psychisches Objekt a genannt, geht nicht ganz in die Spiegelung ein und erzeugt so Gespenstergeschichten. Gerade weil es abwesend erscheint, entsteht eine unheimliche Art von Anwesenheit, und wer wüsste nicht, dass genau dies erhebliche Angst macht. Doch dieses „da ist etwas, wo eigentlich niemand ist“ hängt engstens zusammen mit einem „da ist jemand, wo eigentlich nichts ist“. Das kleine a, das Objekt des Begehrens, ist mit dem großen A, dem unbewussten Anderen verbunden. Der Mensch versucht den Mangel, den dieser groß zu schreibende Andere (A) hervorruft, weil er unbewusst ist, durch seine Angst zu stützen oder er fällt dem Objekt des Begehrens anheim, das ebenso nur den Mangel stützt, nur statt mit der Angst durch Ausagieren. Die eigentliche Angst besteht also in dem Fehlen dieses Mangels, weil sie gleichzeitig Stütze dieses Mangels ist, den der Andere in mir hinterlässt.

Anders gesagt: da ist ein SPRICHT in mir, das ein Begehren ausdrückt, ein SCHEINT. Es gibt einen Sprechtrieb, etwas Unzerstörbares, von dem ich nicht weiß, was es, er, der Komplex, das SCHEINT des groß A / klein a, mir will. Wenn der stockkonservative Religionsphilosoph R. Spaemann sagte, „Gott ist ein unsterbliches Gerücht“, meinte er etwas Ähnliches. Denn das war gewiss nicht negativ gemeint. Es gibt etwas, von dem immer gesprochen wird, etwas das unsterblich SPRICHT, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit ihm in einen Dialog einzutreten, sonst würde das SCHEINT und die Angst unfassbar werden. Dagegen ist bei Hegel und in den Religionen der Andere bewusst, und er sagt, was er will, stellt Gebote auf und macht Gesetze. So einer macht keine Angst, er verdeckt sie nur oberflächlich, übertüncht sie mit festen Regeln, die man dann freilich – gegebenenfalls – durchbrechen und aufheben kann, und dann fängt alles wieder von vorne an. Nein, der unbewusste Andere, der mir die Sprache offeriert als ein notwendiges Übel, als einen Wirrwarr von Namen und Wörtern, Syntaktik- und Grammatiken, zwingt mich geradezu mich mit ihm konstruktiv auseinanderzusetzen, bis das letzte Wort gesprochen und alles ausdiskutiert ist. Solange dies nicht der Fall ist, sagt Lacan, lässt groß A mir klein a zurück, das psychische Objekt, den Rest, der als Objekt des Begehrens an mir kleben bleibt. Ich muss wünschen, sehnen und verlangen, bis mich A wieder durch die Angst führt, zum wahren Dialog, bis alles ausgestanden ist und nichts mehr nur so SCHEINT, aber auch nichts mehr nur unbewusst SPRICHT.

Das ist auch kurzgefasst der Inhalt von Lacans X. Seminar L´angoisse, die Angst. Noch einfacher kann man das alles aber auch am Wesen der modernen Physik studieren. Die Physiker haben durch immer aufwendigere Beobachtungen, die sie mittels zunehmend gewaltsamere Experimente, durch die Spaltung des Atoms z. B., vorgenommen haben, das sogenannte Standartmodell der Physik entworfen. Darin befinden sich eine große Anzahl als Elementarteilchen bezeichneter Grundelemente in einem dynamischen Gleichgewicht. Doch letztendlich ging dieses Gleichgewicht nie vollends und glatt und perfekt auf. Es musste etwas geben, das alle diese Teilchen einfasst, einbettet ins geschlossene Ganze und somit auch erklärt, welche Masse sie eigentlich haben. Doch dieses Etwas entzog sich ihnen mit unglaublicher Beharrlichkeit. Inmitten der großen Anwesenheit der Elementarteilchen existierte diese extreme, gewichtige Abwesenheit, die man so nicht stehen lassen konnte. Die Angst, der Mangel könnte unerklärlich sein, erzeugte bei den Physikern so eine Panik, dass sie einen milliardenschweren Teilchenbeschleuniger bauen mussten, um den Mangel zu stützen. Man musste mit ungeheuren Energien, die ansonsten niemals auf dieser Erde auftreten würden, Protonen aufeinander schließen, um damit in dieser grauenhaften Abwesenheit eine Spur zu erzeugen, die letztlich nur eine andere Stütze des Mangels ist als die Angst selbst. Denn das Higgs-Teilchen, das man nunmehr nachgewiesen glaubt, ist noch lange nicht fertig erforscht oder definitiv in seinem Wesen festgelegt. Eventuell wird man weitere und noch größere Maschinen bauen müssen. Und auch das macht Angst.

Psychoanalytisch kann man sagen, dass die Physiker, wenn sie diese ihre Experimente nicht tun können, sich offensichtlich kastriert vorkommen. Der Begriff der Kastration ist nur ein anderes Symbol für den Mangel, den wir benötigen, um ganz zu sein. Denn der sexuelle Mechanismus geht sonst nicht auf. Auch hier gibt es ja den Anderen, groß A, insofern A für den Mann in seinem Sexualleben z. B. durch die Frau repräsentiert wird. Doch in der erotischen Spiegelung, in der ebenfalls immer ein Teil ungespiegelt verbleibt, weil vom Narzissmus (Autoerotismus) besetzt, stört dieses Objekt a in seinen tausendfachen Begehrens-Facetten, die alle ihre Lust wollen, und auch A selbst, weil unbewusst, gibt keine Garantie für die Ganzheit. Deshalb behauptet Lacan, dass es die sexuelle Beziehung eigentlich gar nicht gibt. Man kann sie tun, machen, imaginieren, verkünsteln, aber wirklich von ihr etwas Konkretes und Bewusstes sagen, kann man nicht. Es kann keine volle, erfüllende Befriedigung in ihr geben, und so wird es auch mit dem Higgs-Teilchen sein. Man wird behaupten, etwas gefunden zu haben, aber die Angst wird bleiben.