Lust-Topologie

Die neben stehende Abbildung zeigt die Weltkugel in einer durch eine Boysche Fläche in sich verdrehten Form. Vielleicht geht es damit. Die Psychoanalyse spielt sich wohl auf einem Feld ab, das sich nicht so einfach objektivieren lässt. Die Kräfte, Prinzipien, Triebe, um die es bei ihr geht, haben von Anfang an etwas Subjektbezogenes an sich. Das heißt nicht, dass die Triebe nicht auch etwas Universales wären, etwas das mit dem Kant´schen „Ding an sich“  aufs engste verbunden ist, etwas Objektartiges, Objektales. Aber sie sind eben  nicht einfach nur materielles Objekt, Sache, was nicht heißen muss, dass sie nicht vielleicht sogar vor aller Physik da waren. Denn am Anfang war ja auch der Logos, steht zumindest in der Bibel, wobei vergessen wurde, dass es der Logos der Lust ist, um den es hier geht. Das war zumindest auch die Meinung von Sokrates, der bekanntlich zwar sagte, er wisse, dass er nichts wisse, aber das Einzige was er weiß, sind die „Mathemata erotika“, die erotischen Formeln. Das ist jedenfalls auch die psychoanalytische Auffassung. Den Logos der Lust nenne ich das Lustsymbol, das Lacan auch den „symbolischen Phallus“ nennt. Man könnte auch von der „genießenden Substanz“ sprechen, wenn man der „ausgedehnten Substanz“ des Aristoteles und der „denkenden Substanz“ von Descartes eine dritte, von S. Freud gefundene Substanz gegenüberstellen will, die Freud wiederum auch Libido nannte. Diese  Libido  oder diese „genießende Substanz“ verteilt sich im und am menschlichen Subjekt so ähnlich wie die Meridianlinien bei der Akupunktur oder die sogenannten geodätischen Linien auf der Erde und im Weltall.


Statt dem Menschen können wir also auch die in der oben nebenstehenden Abbildung gezeigte Weltkugel nehmen und zwar in einer durch eine Boysche Fläche in sich verdrehten Form. Während wir die Welt als Kugel sehen, könnte ein Beobachter aus einem anderen Teil des Weltalls oder besser noch des Multiversums sie so sehen, wie es die Abbildung zeigt (In der physikalischen M-Theorie wird davon ausgegangen, dass das Universum nicht aus einer einheitlichen und einmaligen Form besteht, sondern ein Teil wie ein Paralleluniversum von ihm abgetrennt und doch – evtl. durch sogenannte Gravitonen-Strings - auch zusammenhängend ist). Ja, das ganze Universum könnte in Wirklichkeit so ein, nämlich ein topologisch geformtes Aussehen haben. Dass etwas „aussieht“ hat ja mit den Lichtquanten, den Photonen zu tun, ohne die man .nichts „sehen“ könnte. Bekanntlich werden die Photonen im Weltraum durch sehr massereiche Gebilde (Galaxien, Dunkle Materie) in ihrem Strahlenweg abgelenkt, so dass sie gekrümmt verlaufen. Sie könnten also ähnlich verlaufen, wie das Bild es für die Erdkugel zeigt. Die Linien sind dann genau so wie die der Libido zu verstehen. Denn ständig verschiebt und verbiegt sich diese „genießende Substanz“, so dass Lacan sie auch eine sich in und um die Menschen verschiebende „Lamelle“ genannt hat. Um das Ganze besser zu begreifen, muss man sich eine andere topologische Figur ansehen, nämlich einen Torus und dazu ein Möbiusband, das auf einen  solchen Torus gezeichnet ist. Für Lacan ist nämlich der Mensch ein Torus, auf dem sich Anspruch (speziell der Liebesanspruch) und das Begehren (speziell das sexuelle Begehren) ständig  kreuzen (siehe die Pfeile in der linken Abbildung unten). Diese Kreuzungsdynamik wird noch besser verständlich, wenn man sieht, dass sich Anspruch und Begehren in der Form eines Möbiusbandes kreuzen (siehe rechte Abbildung, Ein Möbiusband ist ein um 180 Grad gedrehtes und sodann kreisförmig zusammengeklebtes Band).
Die hier unten nebenstehende Abbildung zeigt also diese beiden Figuren. Die Außen- und Innenfläche des auf und um den Torus gewickelten Möbiusbandes ist ein und dieselbe. Die auf ihrer Fläche kreisenden Strebungen überschneiden sich, sind eins und doch getrennt. Somit kann man sich ungefähr vorstellen, wie auch die Boysche Fläche wirklich aussieht, die dann nämlich eine solche dreifach ich sich geschachtelte Figur ist. Man müsste die Boy-Fläche sonst von  verschiedenen Seiten her zeigen. Der im Bild ganz oben gezeigte Nordpol ist dann beispielsweise mit dem Südpol identisch, also der von der anderen Seite her sichtbare Südpol liegt genau auf dem Punkt des Nordpols. Diese Sache verführt Esoteriker gerne dazu, sich magische Orte auszudenken, an denen sich Kontinente überschneiden und somit besondere Kraftstellen bilden, wo sich eben die Libido-Linien überschneiden.
Meine Abhandlung hat jedoch nichts mit der Erdkugel zu tun. Mir geht es hier um die Linien der Lust, die sich im menschlichen Körper und auch zwischen den Menschen nach derartigen topologischen Gebilden verteilen. Trotzdem ist der Ausflug in die Topologie notwendig, sonst stellt man sich unter der Lust die üblichen banalen Bilder sexueller Beziehungen vor. Der Philosoph J. Derrida sprach hinsichtlich dieser Linien von der „reinen Realität“, der er als anderes, zweites  Prinzip die „reine Lust“ gegenüberstellte. Die „reine Realität“ besteht vielleicht mehr aus den aggressiven Linien, während die „reine Lust“ eben die urerotischen Kraftlinien sind.
Denn man kann statt Linien auch Triebe sagen, ich möchte jedoch die letzte Natur dieser Phänomene offen lassen und mich nur auf Derridas Bezeichnungen beziehen. Also noch einmal kurz zur „reinen Lust“. Was soll das sein? Nicht nur psychoanalytisch, auch ganz einfach und laienhaft ist die „reine Lust“ sicher etwas Unerträgliches. Auf der anderen Seite jedoch auch etwas sehr Begehrtes. Lust und Unlust wollen auf ein erträgliches Minimalmaß reduziert werden oder anders gesagt: Lust kann nur für eine bestimmte Zeitspanne und in einem eben lustvollen Maß genossen werden. Die „reine Lust“, schreibt G. Wisser (Freiheit zur Genese, LIT (2000), ist nur als eine uninteressierte, nicht subjektive Lust zu verstehen, sie ist zugleich des Begriffs (bei Kant) und des Genusses (bei Derrida) beraubt. . .  Im Maße des Existierens gibt es niemals „reine Lust“. „Das ganz Andere affiziert mich durch „reine Lust“, erklärt Derrida jedoch weiter, und so kommt man immer mehr dahin zu begreifen, dass diese „reine Lust“ des ganz Anderen nur durch Sprache ausgedrückt, nur durch Symbole vermittelt, nur durch völlig übersteigerte Ekstase erfahren werden kann.
„Es gibt sie . .  und gibt sie nicht“, konstatiert Wisser schließlich, sie hat tatsächlich etwas mit dem Freud´schen Todestrieb zu tun. Denn dieser besteht ebenfalls darin, dass man nichts empfangen oder hinüberbringen kann vom/zum Anderen, man muss es immer wieder neu sagen und sagen. Die symbolische Ordnung, die Sprache hat letztendlich mit dieser „reinen Lust“ zu tun, auch wenn sie sie selbst nicht ist. Schließlich ist ja auch die „reine Realität“ ein philosophisches Punktum, eine Ex-Position, eine Position außerhalb, eine im anderen Teil des Multiversums. Wir sind also wieder da, womit dieses ganze Kapitel angefangen hat, beim Autoerotismus und der Überbrückbarkeit oder Unüberbrückbarkeit der Widersprüche. Trotzdem ist es lustvoll, Derridas Ex-Positionen als die ultima ratio, als die zwei Extrem-Pole von etwas zu verstehen, das niemals zusammen auftreten, eine endgültige Verbindung eingehen oder  irgendwie dauerhaft kombiniert sein kann. Was man jedoch tun kann ist, sie durch ein Werkzeug, durch eine Kombinatorik, durch eine Topologie zu verbinden und so doch  eine Erfahrung herzustellen. Ich habe die Ekstase erwähnt, die jedoch zu künstlich, zu hochgeschraubt im manischen Bereich, zu einseitig isoliert erscheint.
Die durch obige Beispiele anschaulich gemachte Topologie ist jedoch eine mathematisch berechenbare Form und Größe, sie enthält eine Dynamik, die man auch in eine Formulierung bringen kann, die nicht mehr ganz Sprache im herkömmlichen Sinne ist. Man muss diese Formulierung ganz einfach auf etwas Topologisches aufbringen, wie es eben etwa die Boysche Fläche ist. In der nebenstehenden Abbildung ist dies nun gezeigt. Es sind Buchstaben auf die Wölbungen der gleichen Figur wie ganz oben bei der Abbildung mit der Weltkugel aufgetragen, wobei die dunklen Buchstaben von vorne zu sehen sind, die hellen befinden sich hinten oder im Inneren der Fläche. Was soll dies alles heißen?
Die Buchstaben sind nicht willkürlich gewählt. Es handelt sich wieder um eine lateinische Formulierung, wie ich sie schon beim  E-N-S-C-I-S-N-O-M  gegeben habe, und die von verschiedenen Buchstaben aus gelesen, eine jeweils andere Bedeutung ergibt. Sie lautet ALI-TE-RA-SUM. Darin steckt nämlich  ALITER  ASUM:    Anders bin ich nicht zugegen, SUMMA LITTERA:   Der höchste Buchstabe, LITTERA SUM  A:  Ich bin der Buchstabe A, ERA SUM ALIT:    Ich bin eine Frau, die ernährt, A LITE RASUM:    Vom Streit  getilgt, TER ASUM ALI:   Dreimal bin ich nicht Ali, ITER  ASUM  AL:  Der Weg  AL bin ich nicht, ITER  A SUMMA  L: der Weg zum höchsten L, ERAS SUM MALIT:  Du warst, ich bin, er wäre lieber, ALI - TERRA  SUM:  Geflügelte Erde bin Ich, ITERAS  UMAL    Du wiederholst umal, LI  TERRA SUMMA    Li höchste  Erde, MALIT  ERASU:   Er wäre lieber getilgt.
Obwohl voll von unterschiedlichstem, wenn auch oft fragwürdigstem Sinn, ist ALI-TE-RA-SUM  oder ITER-A-SUMAL – egal von wo aus man es schreiben oder lesen will - doch eine ideale Überbrückungsformulierung, ein FORMEL-WORT, also eine Formulierung, die drei oder mehr Vorstellungen in sich selbst enthält ohne als solches einen Sinn zu haben, bzw. das gerade dadurch – also weil überdeterminiert - keinen (eindeutigen) Sinn hat. Von verschiedenen Buchstaben aus gelesen, ergibt sich also sehr wohl eine jeweils verschiedene Bedeutung, aber keine einheitliche, und exakt dies ist das Unbewusste (Statt  Buchstaben könnte  man  besser auch  Bild - Wort - oder Wort - Klang -Schnittstellen sagen, weil man so der Signifikantentheorie Lacans, aber auch der Informatik und den Computerwissenschaften besser entspricht) Das Unbewusste ist eine Schrift, die ich selbst geschrieben habe und nicht mehr lesen kann. Ich habe – metaphorisch ausgedrückt - diese Schrift aus mehr bildhaften Zeichen topologisch geschrieben, diese Bild-Symbole aber mehr und mehr verdrängt, und nun muss mir der Analytiker dabei helfen, sie wieder zu entziffern. (Freuds Nachträglichkeit. Verdrängung   kommt  durch  nachträgliches  (nach-)  Drängen  zustande, indem uns die wirkliche Symbolbedeutung früher Bildsymbole mehr und mehr bewusst werdend dies unangenehm ist und verdrängt wird).
So lerne ich meine eigene (erst evtl. mehr bildhaft und topologisch geschriebene) Schrift selber wieder (nunmehr mehr worthaft-topologisch) neu zu verfassen! (Lacan, J., Seminar II, Walter (1980) S. 176 „Seine Geschichte neu schreiben, noch einmal schreiben“). Dass es sich um mich selber handelt und dass ich meine Schrift selber lesen lernen muss, ist meine Aufgabe. Ich muss nur die unterschiedlichsten Schnittstellen, die bildhaften mit den worthaften Überlappungen, finden, und genau die sind in meinem Beispiel hier fast hinter jedem Buchstaben zu sehen (Doppelbuchstaben sind auch einfach geschrieben oder einfache doppelt, dabei spielt die Schreibweise nicht so eine Rolle, wie die Sprechweise, dies gilt auch für die Psychoanalyse). In dem Verfahren, um das es hier nunmehr geht und das ich also Analytische Psychokatharsis genannt habe, werden die FORMEL-WORTE nämlich gedanklich, also sprachklanglich still wiederholt.
Die Schnittstellen zwischen den Buchstaben markieren jedoch gleichzeitig auch diejenigen der Boyschen Fläche und damit diejenigen, wo die Lust in Unlust umkippt und wieder in Lust zurückfällt. Solche Schnitt- oder Überschneidungsstellen entstehen bei topologischen Figuren ja durch das Ein- bzw. Aus- oder Durchstülpen, so dass das Gebilde zwar mehrere Seiten, aber nur eine Fläche hat. Dies macht ja das Wesentliche der Topologie aus, und diese Stülpungsdynamik hat Lacan speziell für die Darstellung des Unbewussten und der „erogenen Zonen“ Freuds benutzt. Die Lust-Stülpungs-und-Schnittlinien winden sich nicht nur im einzelnen Subjekt, sondern auch intersubjektiv, also zwischen den Subjekten.
Im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse sitzt man bei der Analytischen Psychokatharsis nicht einem Therapeuten gegenüber, sondern eben dem Nichts und dem FORMEL-WORT, das langsam rein gedanklich so lange wiederholt wird, bis das nun gleichstrukturierte Unbewusste eine neue, eigene Bedeutung herausgibt. Diese wird gedanklich zwischen den wiederholten Buchstaben wie aus dem Nichts des Unbewussten auftauchend erfahren und ist wegen der Nähe, die dieses Auftauchen, diese Evozierung zum Bewussten, zum eigenen Ich hat, meist sofort verstehbar. Es ergeht einem so wie Freud es von den sogenannten Schlüsselträumen gesagt hat, dass sie nämlich wie „vom Blatt abgelesen“ und verstanden werden können. Es ist die Lust, der Lust-Logos, der sich immer wieder Bahn bricht, gerade dann, wenn er durch derartige topologische Formen hindurchlaufen muss. Mit einer Zeichnung, der Graphie, (links), will ich nochmals den Brückenschlag zur mehr bildhaften Meditation machen. Man könnte auch nur diese Graphie anschauen und meditieren und bräuchte sich dann das FORMEL-WORT nicht gedanklich vorsagen. Ich weiß aber nicht, ob so etwas für die Analytische Psychokatharsis wirklich mehr bringt.
Ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich, nämlich dem der Kunst-Installation will ich aber noch vermitteln. Es betrifft die Wort-Klang-Kompositionen des Künstlers F. Hecker. Er hängt mehrere Lautsprecher, aus denen verschiedenste Sprechlaute oder Geräusche und Klänge kommen, in einem Raum auf. Es hört sich an wie „Wort- und Satzfetzen im Vorwärts- und Rückwärtslauf, dazu Töne und Geräusche wie Kratzen, Piepen, Rasseln . . .“ (Vogel, E., Interview mit F. Hecker in der SZ vom 1. 9. 12, S. R20). Was der Künstler jedoch will ist, dass man eine Botschaft – und zwar eher eine aus dem eigenen Unbewussten (was der Künstler zwar hier nicht verrät, aber es ist naheliegend) – heraushört. Er will gerade unser gewohntes Hören und Hören-Verstehen durcheinanderbringen so wie es die topologischen Linien auch tun. Viel besser natürlich ist die Botschaft aus dem eigenen Unbewussten durch die Übung mit den FORMEL-WORTEN herauszuhören. Ich habe diese herauszuhörenden Gedanken auch Pass-Worte genannt, denn sie wirken ja wie Identitätsworte, Kennworte aus dem eigenen Unbewussten. Sie enthalten ja eine durch Topologie und linguistische Evokation bewirkte Botschaft von einem selbst, vom unbewussten Kern des eigenen Verdrängten. .