Automatische Psychoanalyse

Der Titel ist etwas provozierend. Aber er bezieht sich - durchaus gerechtfertigt - auf neuere Bemühungen von Computerwissenschaftlern und Psychoanalytikern in Wien, das ja schließlich auch die Hauptstadt der psychoanalytischen Bewegung war. Diese sehr unterschiedlichen Autoren haben ein Buch geschrieben, wie die Freud´sche II. Topik - das Theoriemodell der menschlichen Psyche in der Form des Zusammenwirkens von Ich, Es und Überich - auf dem Computer funktioniert. Sie glauben, dass mit einer derartigen computergestützten Animation Psychoanalytiker die Freud´sche Theorie besser verstehen können und dass Computerwissenschaftler auf diese Weise „Maschinen mit „human-like intelligence" produzieren können. Doch schon dem Laien wird dies wohl etwas übertrieben klingen.


In ersten Stellungnahmen zu diesem Buch schreibt G. Doeben-Henisch, ein Philosoph und Informatiker, dass schon der Top-Down-Ansatz, den die Autoren aus Forschungen über „Künstliche Intelligenz" heraus favorisieren, problematisch ist. Gerade in der Psychoanalyse, wo Erkenntnisse aus den „freien Einfällen" der Patienten gezogen werden, und daher durcheinandergeworfene Sätze, ja sogar verwirrende Träume als Basis dieser Erkenntnis dienen, kann man nicht plötzlich von oben her dem Ganzen ein Konzept aufstülpen. Es ist dennoch verständlich, dass die genannten Computerwissenschaftler sich die Psychoanalytiker als Partner ausgesucht haben. Deren Konzepte erscheinen besonders intelligent und interessant.
Arbeiten aus diesem Computerbereich, dessen Domäne auch die KI, die künstliche Intelligenz ist, gibt es schon seit Jahrzehnten. Das Buch von O. Wiener beispielsweise fasste bereits jahrelange Forschungen zusammen. Dem Autor zufolge waren Menschen „Maschinen im Sinne der Turingmaschine, die man als Komponenten eines umfassenderen Systems aus solchen Maschinen (des Universums als eines `Orakels´) aufzufassen hat." Wir müssten nur Sprachverarbeitende (Sprechen) und Bildverstehende (Schauen) Algorithmen in den Computer eingeben, um das Wesen eines derartigen künstlich Intelligenten zu erfassen, heißt es. Ein weiteres Werk stammt von G. Görz. Einer der Schwerpunkte der Autoren dieses Werkes liegt auf dem Begriff der Kognition. Die Autoren definieren Kognition als Erkenntnis aber auch als Intelligenz, die sich zwischen Wahrnehmen und Handeln abspielen. In der Psychoanalyse hat so etwas kaum Bedeutung. Die denkende Erkenntnis des menschlichen Subjekts tritt für den Psychoanalytiker hinter dem einem Unbewussten unterstellten Subjekt weitgehend zurück. Das Unbewusste ist der eigentliche Psychismus. Und dieser zeigt sich eben mehr in Träumen, Versprechern und „freien Assoziationen", als in fertigen Vorstellungen von Kognition.
Allerdings spielen auch hier wieder sprachverarbeitende und bildverstehende Konzepte eine große Rolle. Schließlich gipfelt das Buch von Görz in den Vorstellungen über neuronale Netze, über die es inzwischen Hunderte von Veröffentlichungen gibt. Das Gehirn ist vernetzt wie ein Computer und davon gehen auch die eingangs genannten psychoanalytischen Automatisierer aus. Nur haben sie nun erkannt, dass es noch höher und komplexer angesiedelte Netzwerke gibt, so wie eben dieses der Freud´schen II. Topik. Denn hier wird wirklich Psyche, Geist, komplex-komplizierte Seele dargestellt, und so etwas geht natürlich über die banalen neuronalen Netze hinaus. Doch die Psychoanalyse liefert kein absolut fertiges Modell in dieser Hinsicht. Sie ist dynamisch, formiert sich wie gesagt aus ständig neuen Einfällen ihrer Patienten und deren wissenschaftlicher Bearbeitunbg.
Die subjektbezogenen Erfahrungen in der Psychoanalyse sind also so vielfältig und vielschichtig, dass man ihnen nicht so einfach ein KI-Modell überstülpen kann, auch wenn sich dieses auf Ich, Es und Überich bezieht. Die freien Assoziationen des Patienten legen auf jeden Fall ein Bottom-Up Konzept viel näher. „Diese subjektbezogenen Daten können nicht unter ein Paradigma empirischer Messungen subsumiert werden," schreibt Doeben Henisch daher weiter, „das wesentlich für die empirischen Wissenschaften ist. . . . In den letzten Jahren haben wir mehr über die Wichtigkeit subjektbezogener Daten gelernt, insofern sie notwendige erkenntinstheoretische Hinweise für ein tieferes Verständnis empirischer Strukturen sind. Wir haben auch über die Notwendigkeit gelernt, zu versuchen formale Modelle dieser subjektbezogegen Daten zu entwickeln." Doeben-Henisch weist auch darauf hin, dass dies besser ist als eine "magische" Umformung nicht-empirischer Daten in empirische Tatsachen, wie es die Wiener Psychoanalyse-Automatisierer tun.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen. Künstliche Intelligenz besteht im Wesentlichen aus sprachverarbeitenden und bildverstehenden Elementen, die im Sinne einer Kognitionsfähigkeit oder eines Intelligenzmoduls vernetzt sind. Grundlage war jahrzehntelang die neuronale Vernetzung, wie sie unter den Milliarden von Nervenzellsträngen im Gehirn realisiert ist und daher auch in einem Computer simuliert werden kann. Doch das war den Computerwissenschaftlern eines Tages nicht mehr genug. Sie haben eingesehen, dass das Gehirn nicht die ganze menschliche Seele, Verstand, Gefühl, Erkenntnis und vielleicht sogar Vernunft darstellt. Dieses könnte vielmehr durch den bei Freud vorzufindenden „mental apparatus", durch Freuds Konzept der menschlichen Psyche in Form von Ich, Es und Überich, viel besser formuliert sein.  dieses Automat.Psychoan.0001Konzept noch etwas vertieft Also wurdeundieses Konzept noch etwas vertieft und erweitert und sodann computerisiert. Hier oben das funktionelle Modell des psychischen Apparats wie es die Wiener Computerwissenschaftler gezeichnet haben. Dieses Schema ist sicher von der Theorie her zutreffend und interessant. Doch wie schon Doeben Henisch argumentierte, ist die Freud´sche II. Topik nicht das Alleinseeligmachende der Psychoanalyse. Inzwischen sind wieder hundert Jahre vergangen und verfeinerte Konzepte entwickelt worden. Vor allem die Schriften J. Lacans haben andere Schwerpunkte herausgearbeitet, die sich beispielsweise viel besser für die Computerwissenschaftler eigenen würden. Aber wahrscheinlich sind diese wiederum der Wiener Gruppe nicht so bekannt. Und selbst wenn sie bekannt wären: an Lacan würden sich die Wiener Computerwissenschaftler die Zähne ausbeißen.
Zudem: was fängt man in der Praxis mit diesem computerisierten funktionellen Modell an? Gemeint ist vor allem die psychoanalytische Praxis, die ja nicht nur für das erwähnte Vorgehen im Sinne eines Bottom-Up wichtig ist, sondern auch für die direkte Handhabe, für den therapeutischen Erfolg. Ich habe ein Verfahren entwickelt, das sich an Lacan anlehnt und sowohl dem Bottom-Up wie auch dem Top_Down etwas gerecht würde, und zwar durch ein „Aus-Der-Mitte-Heraus". Damit ist nicht die berühmte Mitte Graf Dürckheims gemeint, Hara, das Mitte-Körperzentrum, das Dürckheim aus dem Yoga und dem Buddhismus übernommen hat. Es ist etwas gemeint, dass der Psychoanalyse Lacans, die ja trotz der Praxis des Bottom-Up sehr weit Oben, sehr im Top angelegt ist, entnommen ist und gleichzeitig dem Autogenen Training oder ähnlichen Verfahren verwandt ist. Diese letzteren sind von vornherein mehr in der Mitte situiert, wenn auch nicht in Hara, so doch in der Mitte des Psychismus.
Um dies besser zu erklären, kann ich direkt auf die KI und ihre sprachverarbeitenden und bildverstehenden Elemente zurückgreifen. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, lässt sich die primäre Wahrnehmung psychoanalytisch als Schautrieb, Schaulust definieren. In der Psychoanalyse geht es schließlich nicht so sehr um Neurophysiologie, sondern um das unbewusste Begehren, um Strebungen in uns, die uns unbewusst geblieben sind. Sie sind verdrängt, abgespalten, verschoben oder anderswie verdichtet. Meist sind sie in der Psychonalyse sogar nur als Perversion wie etwa dem Voyeurismus erfasst worden. Trotzdem, diese primären Kraftlinien eines Schautriebs habe ich auch der Umfassendheit und Vereinfachung halber ein ES STRAHLT, ES SCHEINT genannt. Man könnte dies das beginnende Element des Bildverstehens aber auch der Bild-Schaulust nennen. Das dazu dissymmetrische Pendant der Sprachverarbeitung geht exakt in dem auf, was Lacan die „défilés du signifiant" nannte, die Engführungen des Signifikanten. Die symbolische Ordnung, die auch unserer Sprache zugrunde liegt übersetzt sich nicht einfach so direkt in verbales Sprechen. Die Entäußerung muss durch die „défilés du signifiant" hindurch, muss verdichtet, plastisch verwortet werden. Während das Bildverstehen - gerade und insbesondere beispielsweise im Traum - durch ein Verschieben zustande kommt, betrifft die Sprachverarbeitung das Verdichten. Ich bezeichne es daher auch vereinfacht als ein ES SPRICHT. Auch hier ist die Entäußerungs- bzw- Sprechlust mit einbezogen.
Freud hatte dieses Paar des ES STRAHLT / SPRICHT in Form der „Triebe" beschrieben, wobei er den Eros-Lebenstrieben den Aggressions-Todes-Trieb gegenüberstellte. Schließlich haben aber viele Autoren zeigen können, dass für den Todestrieb das Wort Trieb nicht gleichermaßen stimmig ist wie für die aktiven Eros-Lebens-Triebe. Todestrieb und Aggression sind mehr ein Prinzip als ein Trieb. Freud selbst hatte ja die Ich-Triebe, zu denen auch die Aggression als das reine „Darauf-Zugehen" gehört, zurecht den Lebenstrieben zugerechnet, wohingegen die Aggressivität, die ungesteuerte Impulsivität, aus den ersten Identifizierungen stammt. Man identifiziert sich mit etwas und der Rest, der in diese Identifikation nicht eingeht, bleibt als etwas Störendes, Aggressivität Auslösendes, zurück. Deswegen schlug Lacan vor, dem bereits von Freud in seinen Schriften mehrmals herausgehobenen Schautrieb (der eben auch mit der Verschiebung zu tun hat) den Sprechtrieb (Invokationstrieb, der auch Verdichtung ist) gegenüber zu stellen. Und genau diese zwei Grundtriebe sind aber auch Basis des Bildverstehens und der Sprachverarbeitung, wenn man sie von psychodynamischen Topiken her betrachtet.
Nun kann man also diese Kräfte, Triebe, Prinzipien durch Computersimulation in ihren komplexen Kombinationen innerhalb der Freud´schen Topik oder anderer psychoanalytischer Konzepte darstellen. Doch für die Praxis müsste man einen Computer entwickeln, der auch die Bottom-Up-Seite repräsentiert. Es müsste also für den Benutzer (z. B. Patienten) eine Eingabemöglichkeit geben, die dann gescannt, übersetzt, geprüft und in einen Ausgabemodus transsubstanziiert dem Betreffenden wieder zur Verfügung gestellt wird. Dazu bedürfte es jedoch mit Sicherheit eines Umsetzungsmoduls des vollkommenden menschlichen Sprachverständnisses. Und davon ist die Computerwissenschaft und -technik noch weit entfernt. Hier benötigen wir noch konservative Methoden wie die, die ich oben gerade angekündigt habe. Sie verbindet das STRAHLT / SPRICHT, das Top-Down und Bottom-Up in einer kleinen Maschine psycho-linguistischer Natur.
Mit dieser Maschine kann jedoch jeder umgehen, selbst wenn er keinen Computer hat. Er muss diese Maschine nur mental üben. Wie dies geht habe ich in vielen Büchern und der Broschüre „Die körperlichkranke Seele" (auch englisch unter „The physical sick soul") dargestellt. Hier nur ein kurzer Abriss: Um das STRAHLT / SPRICHT zu kombinieren, habe ich eine Formulierung aus der lateinischen Sprache gewählt. Sie ist so gewählt, dass fast von jedem Buchstaben aus gelesen eine andere Bedeutung sichtbar wird (Siehe als Beispiel die Abbildung nebenan). Dies entspricht genau der Konstruktion des Unbewussten, von dem Lacan sagt, es sei die „Sprache des Anderen". Um es vereinfacht zu sagen, ist der Andere halb ES und halb Überich. Die anderen Teile von ES und Überich verbleiben mehr in der Nähe des Ichs, das hier ja selbst der Übende ist. Durch die mentale, gedankliche Wiederholung dieser Formulierung (bei Berücksichtigung des STRAHLT / SPRICHT in einer noch gesonderten Weise) wird das Unbewusste gezwungen schließlich eine einheitliche, nicht mehr so aufgespaltene Formulierung herauszugeben. Es kommt also dazu, dass der Andere, das Unbewusste, direkt eine Antwort geben muss, wenn man die Übung mit der lateinischen Formulierung als eine Frage auffasst.