Orales Verstehen

Es ist nicht das Gleiche; wenn das Kind an der Brust der Mutter trinkt oder wenn ein Tier an der Zitze seiner Mutter saugt. Beim menschlichen Kind ist von Anfang an ein Saug-Anspruch (oraler Anspruch) vorhanden, so wie auch schon sein erster Schrei und alle weiteren ein Ruf nach jemand ist und nicht einfach nur ein expressiver Laut. Was beim Tier also ein Instinktverhalten ist, ein fest fixiertes Trinkbedürfnis, ist beim Menschen schon von Beginn an mit einem Anspruch, einer Invokation, verbunden. Deswegen teilt sich das Bedürfnis des Menschen schon ursprünglich in ein Begehren, also einen auch psychisch mitentwickelten Trieb und in den Anspruch, den man vereinfacht und etwas generalisiert Lacan zufolge einen Liebesanspruch nennen kann. Kurz: Mutter und Kind verstehen sich auf der oralen Ebene recht gut und das nannte schon der Psychoanalytiker M. Balint „primary love“.


Nun kann man das Ganze noch von verschiedenen Seiten her weiter begründen und bekräftigen. So könnte man von Sprach-Gen (Cox-2-Gen) ausgehen, dass es so nur beim Menschen gibt. Er ist von vornherein auf symbolische Entäußerung hin angelegt, so dass bereits erste Widerhalleffekte des Kindes mit der Mutter  rudimentäre Sprechakte darstellen. (Siehe Birkstedt-Breen in Mauss-Hanke, Angela (Hg.) Internationale Psychoanalyse 2009 Ausgewählte Beiträge aus dem International Journal of Psychoanalysis, Band 4 Psychosozial-Verlag 2009 ) Hier handelt es sich also bereits um ein Liebesgeflüster, auch wenn beide, Mutter und Kind, sich dessen nicht so ganz bewusst sind. Man kann jedoch auch von dem Begriff der Sublimation ausgehen. Denn auch sie ist etwas, was von Anfang an den Strebungen, den Trieben als etwas Eigenständiges gegenübersteht. Freud fasste die Sublimation noch als einen Abwehrmechanismus von der Seite des Ich her auf, doch Lacan betont der Charakter der Eigenständigkeit der Sublimation, indem diese mit dem Invokations-Trieb ursprünglich zusammenhängt. In der Sublimation geht es nicht ums Verstehen, im Gegenteil, hier will man darüber hinaus, um etwas zur Anerkennung zu bringen.


Lacan war immer der Auffassung, dass man ihn nicht gut verstehen sollte. Verstehen war für ihn etwas Vordergründiges. Wenn ein Redner alles leicht verständlich daherredet, werden viele einschlafen, meinte Lacan, dagegen wird man bei jemanden, den man zwar nicht ganz versteht, bei dem man jedoch auch bemerkt, das etwas an seiner Rede dran ist, aufmerksam wach bleiben. Lacan leitete diese seine Auffassung vom deutschen Wort verstehen ab. Verstehen heißt sich in eine Stellung zu bringen, von der aus man so steht wie auch der andere steht. Sich also so zu positionieren, dass man gut kommunizieren kann. Plaziert stehen also, Ver-Stehen. Aber dies ist der Wahrheit nicht förderlich. Auch Marktfrauen verstehen sich bestens, wenn sie sich über ihre schlecht laufenden Geschäfte und die untauglichen Ehemänner zu Hause austauschen. Aber sagen sie damit auch große Wahrheiten? Sie sind unter sich, und unter sich, unter seinesgleichen, palavert man wie der oben genannte leicht verständliche Redner. „Wer das Brot der Wahrheit unter seinesgleichen bricht, teilt die Lüge aus.“ Orales Verstehen – wenn ich das Brotausteilen als etwas Mundgerechtes darstellen darf -  ist also nicht gerade etwas, was mit großen Erkenntnissen einhergeht.


So hat man auch Jesus nicht verstanden. Es hieß immer, dass die Juden ihn als vom Dämon besessen hielten und verfolgten. Dies war jedoch nicht wegen seiner ja letztlich recht geringen sozialrevolutionären Aussprüche der Fall, sondern wegen seiner Unverständlichkeit hinsichtlich des Religiösen. Wie konnte ein göttlicher Vater ihn gesandt haben?  Meinte er Jahwe? Warum war er bevor Abraham war, obwohl er doch erst viel später kam? Wie sollte man Feinde lieben? Wer die Wahrheit sagen will, kann sie nicht so sagen, dass sie alle gut verstehen. Er muss nicht kommunizieren, sondern enthüllen. Aber Enthüllungen will man nicht hören. Selbst die Patienten in der Psychoanalyse wollen ihre eigenen Enthüllungen nicht wissen, wenn sie z. B. durch einen Versprecher ein Stückt ihres Verdrängten offen legen. Und die Priester und Theologen, die uns die Abendmahlsgabe als das ganz große Verstehen vermitteln wollen, kommen mit dieser Oralität auch nicht ganz dahin, was ich mit diesem Artikel erreichen will.


Denn auch wenn sie von Transsubstantiation reden, ist gerade wegen des Leibes, der körperhaften Substanz, die hier herübergebracht werden soll, die Assoziation zum Oralen naheliegend. Auch wenn es kein kannibalistischer Akt ist, soll doch Leibhaftes in Form einer Hostie dargebracht dazu führen, dass die gute Platzierung, das richte Verstehen damit gegessen werden kann. In der Apokalypse des Johannes verschlingt daher der Protagonist auch gleich das ganze Buch, ein perfektes orales Verstehen also. Aber hat er dabei wirklich begriffen? Müssten wir dem verstehen nicht das echte, wirkliche und authentische Begreifen gegenüberstellen? Ein orales begreifen gibt es nicht, zumindest klänge es seltsam, dass man mit dem Schluckakt begreift. Das Begreifen hat etwas mit dem Taktilen zu tun, und schon Aristoteles hat dem Tastsinn eine ganz besondere Qualität zugesprochen. Mehr als dem Sehen und Hören teilt Aristoteles dem Tastsinn die höchste „Akribik“ zu, was – wie D. Heller-Roazen in einem neuen Buch schriebt – erstaunlich ist. (Heller-Roazen, D., Der innere Sinn, s.Fischer (2012) S.45 und 379)


Es ist nicht ganz erstaunlich, denn offensichtlich hängt das Getast mit dem „inneren Sinn“, der Könästhetik, eng zusammen. Aristoteles sieht in ihm sogar den Gemeinsinn, also das, was uns uns gegenüber verbindlich macht.  Psychoanalytisch ist dies vielleicht so zu erklären, dass Berührung etwas Grundintimes ist und daher mit dem unmöglich zu Berührendem zusammenhängt. Wir benötigen daher die „Auflösung der Übertragung“, also die Analyse all der Bedeutungen, die wir als Patienten auf den Analytiker übertragen, damit danach – durch diesen Hin- und Zurück-Vorgang – dieser geheimnisvolle Gemeinsinn, innerer Tastsinn, latenter Eros wie ein transzendentes Wesen übrig bleibt. Sublimation in höchster Form. Reines Begreifen ohne Griff und schon gar ohne Vorgreifen. Um dahin zu kommen habe ich die Analytische Psychokatharsis entwickelt, in der nichts vorgegriffen wird, nichts suggeriert, nichts mehr oral oder sonst wie verstanden wird, sondern wirklich transsubst . . .  nein besser: „getranst“ wird (Transe als Substantiv ist ein pejorativer Ausdruck für Transsexuelle. Das Verb transen jedoch ist dafür nicht in Verwendung und so beanspruche ich es für den Vorgang der Analytischen Psychokatharsis).