Selbst-Sublimierung und Eros

Der Mensch ist ein instinktentbundenes Lebewesen. Nicht mehr ein Selbsterhaltungsinstinkt und auch kein Fortpflanzungsinstinkt regulieren sein Verhalten, sondern frei gewordene Triebkräfte. So postulierte S. Freud, dass das menschliche Seelenleben anfänglich durch zwei Grund-Triebkräfte bestimmt wird, den Eros-Lebens-Trieb und den Todestrieb. Dieses Konzept ließ sich nie ganz befriedigend  umsetzen, denn ein Trieb ist etwas Aktives und Subjektbezogenes (denn es handelt sich ja nicht mehr um objektiv zu erfassende Instinkte), und diese Eigenschaften kann man kaum einem zum Tode führenden Trieb zuschreiben. Freud war sich selbst klar darüber, dass das Erreichen des Todes etwas Passives ist, das von Organisch-Lebenden zum Anorganisch-Toten führt. Der französische Psychoanalytiker J. Lacan hat daher das Trieb-Struktur-Konzept etwas umformuliert. Er betrachtete den bereits von Freud so genannten Wahrnehmungs- bzw. Schautrieb (den ich verkürzt als ein Es Strahlt bezeichne) als den einen der Grund-Trieb-Kräfte und stelle diesem einen Entäußerungs- bzw. Sprechtrieb (einem Es Spricht) zur Seite - in einem Zu- und Gegeneinander. Denn diese Kräfte verbinden sich (legieren sich wie Freud sagte), hindern sich aber auch gegenseitig.

 

Im Normalfall findet der Trieb sein Ziel, seine Befriedigung, Lösung dadurch, dass er sich an ein Objekt anlehnt, anbindet, es umkreist, wodurch ein besonderer Charakter dieser Trieb-Objekt-Lösung entsteht. Im Märchen Hänsel und Gretel verfallen die beiden Kinder dem um die Mund und Gaumenzone herum angesiedelten Oral-Trieb, der Lust des Süßen. Doch sie geraten – so muss man es psychoanalytisch sehen – an die falsche Adresse. Die Mutter, der sie von zu Hause entflohen sind, weil sie schon deren Schattenseite zu spüren bekamen, begegnet ihnen nun erst recht in negativer Form. Es ist wie in fast allen Märchen die Form der Steifmutter oder Hexe, oder wie in den Mythen die Form geheimnisvollen Verführerinnen oder Monster. Diese Schattenmutter will sich an das heranmachen, was ihr fehlt, in der Psychoanalyse als das phallische Symbol bezeichnet, d. h. sie will so sprechen wie wenn sie mit männlich-väterlicher Mächtigkeit (nicht Macht!) ausgestattet wäre. Und so sieht sie zu, ob das, was ihr also fehlt, schon dick, reif und gut genug ist. Dass sie am Finger fühlt, ob Hänsel zugenommen hat, ist paradox, denn um eine Gewichtszunahme festzustellen muss man schon an den Körper greifen. Der Finger ist also nur wieder das männliche sexuelle Symbol, und jetzt begreifen die Kinder, dass sie, indem sie das Infantile erkennen, sich von der Mutter emanzipieren und abnabeln und das Trieb-Objekt zumindest einschränken oder ändern müssen. Sie müssen den Trieb sublimieren, verfeinern, erhöhen, verbessern.

Es muss eine symbolische Kastration stattfinden, also eine Einschränkung des Triebs in der die Menschen verbindenden Welt, auf dem durch Symbole, Sprache verbindenden Feld. Doch im allgemeinen genügt es nicht, wenn die Menschen durch Sublimierung wie Einschränkung, Arbeit, aber auch Kunst, Kultur, Sport etc. die Triebe sublimieren. Meist bleibt immer noch ein Triebrest übrig, der sich irgendwo unkontrolliert durchsetzt und Probleme schafft.

Freud wollte die Sublimierung ganz von Eros-Lebens-Trieb her erklären. Sich an die Bildung und Stärkung des Ichs anlehnend sollte es ganz vom Eros-Lebens-Trieb herkommend zu Strebungen kommen, die nicht nach dem (im weitesten Sinne) Sexuellen (wie der oralen Lust, der Schaulust oder Entäußerungslust) zielen und sich so eben verfeinern, „desexualisieren“ und zur psychischen Festigkeit beitragen.  Im Narzissmus, der extremen Selbst- und Eigenliebe wird das Sublimieren aber verfehlt, das Ich wird umgekehrt erotisiert und führt zu abnormer Eitelkeit und Selbstbeweihräucherung. Aber auch andere Wege sah Freud als mögliche Pfade zur falscher Sublimierung an, so vor allem die Verdrängung und andere seelische Abwehrmechanismen; lieber nicht der gewaltsamen Lust der Triebe verfallen, lieber in Ritual, Verdrängung und psychischer Spaltung das allzu Sexuelle verfeinern und so unschädlicher machen, auch das ist Sublimation.

So meinte Freud auch, es gäbe beim Menschen schon eine ‚organische Verdrängung’, die die Sublimierung bereits von vornherein mitbestimmt. Der Mensch habe gegenüber dem Tier z. B. vieles von seinem Geruchsinn eingebüßt, der ja bekanntlich nicht nur der Futtersuche dient, sondern im Sexuellen der allgemeinen Lebewesen ebenso eine große Rolle spielt. Dies passt gut zu dem, was ich vorhin gerade argumentativ ausgeführt habe: die Instinkte sind verloren gegangen, ein Entäußerungs- Sprechtrieb, ein ‚Es Spricht’ treibt den Menschen von vornherein zu ‚Feinerem und Höherem’ wie Freud sich selbst äußert.[1] Allerdings wird er von seinem Mit- und Gegenspieler, dem Wahrnehmungs- Schautrieb, dem ‚Es Strahlt’ in ihren verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten moduliert, behindert und verändert. So ist eine Kombination diejenige, in die das ‚primäre Objekt’ Mutter eingreift und so dem Kind ein erstes Ich ermöglicht. Nun ist dieses Ich nicht absolut stabil und für immer gefestigt. Es erreicht nur eine zeitweise Stabilität und so muss zu Sublimierungen gegriffen werden.

Ein weiteres Modell, das Freud zur Erklärung der Sublimierung anbietet ist das der ‚Vateridentifizierung’. Das Kleinkind kann noch nicht die Besonderheit des Vaters erfassen, für es sind alle Bezugspersonen der mütterlichen Bezugsperson recht ähnlich. Dennoch geht Freud davon aus, dass das Kind eine Vaterimago früh erfasst. Er spricht auch vom ‚Vater der Vorzeit’, irgendeinem mythischen großen Anderen also, den der Psychoanalytiker W. Bion auch ‚O’ (nach ‚O’rigin) benannte. Ganz überzeugend ist keines dieser Modelle, weshalb das Wesen der Sublimierung bis heute als ungeklärt gilt. Ich denke aber, dass es einen Ausweg gibt, in dem eine besondere und starke Sublimierung eine Rolle spielt.

Eine derartige Sublimierung nennt man eine Selbstsublimierung. In Mystik und Askese, bei übersteigerter künstlerischer, politischer oder kultureller Betätigung kommt es trotz dieser Selbstsublimierung oft gar nicht zu einer gewissen Wertschöpfung, sondern eher zum Gegenteil, zu geistiger Störung oder Erschöpfung. Ja, die extreme Selbstsublimierung kann auch in eine Perversion umkippen, wenn nichts da ist, das das Ergebnis der Sublimierung auffangen, in einen klaren geistigen Zusammenhang bringen oder sich in Körper und Gesellschaft einordnen lässt. Denn die dann in ihrem Gipfel taumelnde, delirierende Sublimierung mündet in eine Ekstase nach oben (geistige Störung) oder eben nach unten (Perversion), wo ja immer noch Triebwurzeln bestehen, die gerade durch die Ekstase geweckt werden.

Die Sache mit der Sublimierung scheint also fast hoffnungslos, wenn einerseits durch Arbeit und Kunst und andere schöpferische Tätigkeiten die Triebe nicht ganz befriedigt und gelöst werden können, andererseits eine direkte, über das kleine Ich hinausgehende starke Selbstsublimierung wie in Meditation oder Mystik zu geistiger Störung oder Perversion führt.

Allerdings sind – wenn es z. B. um das Wesen der Meditation geht – die oben genannten geringen Umformulierungen hilfreich. Das Freud’sche Trieb-Objekt-Konzept insistiert nämlich einerseits zu recht darauf, dass Sublimierung niemals den Lustgewinn und die Genussmöglichkeit herbeiführen kann, wie die direkte Triebentladung. „Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver, als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes,“ (also Sublimierung) schreibt Freud weiter (S. 437). Andererseits ist bei Freud aber das unbändige Glücksgefühl gerade wieder durch den Todestrieb bedroht. Ja, gerade darin kann ja das Verunglücken der Sublimierung bestehen, dass das Aggressive, Destruktive, ob man es jetzt als Trieb auffasst oder nicht, hier die negative Entwicklung mit beeinflusst.

Nach Lacan entsteht das Aggressive eher aus Abfall der frühesten Identifizierungsmodi. In den ersten mit Aspekten des eigenen Körpers oder mit solchen der umgebenden Objekte, bildet sich der Ich des Kindes. Da aber nur ein charakteristischer Zug und nicht die Totalität des Körpers oder Objekts gespiegelt werden kann, bleiben die dennoch wahrgenommen anderen Teile, Reste, als Nicht-Ich, ja als Gegen-Ich bestehen und bilden das Aggressive, das Freud dem Todestrieb zugeschrieben hatte. Egal also ob durch Trieb oder Rest der Identifizierung, die Selbstsublimierung ist dadurch bedroht.  Deswegen lässt sich mit den gerade nochmals genannten Umformulierungen wie sie Lacan in Form des Schau- Sprechtriebs, des Strahlt / Spricht, getätigt hat, ein besseres Resultat erreichen. 

Denn nicht alle Mystiker und Meditierer sind verrückt geworden oder pervers. Sie haben sich schon vorstabilisiert im Rahmen einer guten Lehrer-Schüler-Verbindung. in anderen reifen Beziehungen oder durch Einbettung in gefestigte gesellschaftliche oder physische Verhältnisse. Unterstellt man der Sublimierung noch weiter, dass sie eine Vorstabilisierung durch Kombination aus Strahlt und Spricht in rein formaler, konkreter und kompakter Form erhalten kann, könnte man einen deutlichen Fortschritt dieser Diskussion erreichen. Durch eine solche Stabilisierung kann die Selbstsublimierung an ihrem Gipfel nicht in die falsche Richtung umkippen. Sie muss sich in einem kathartischen Erfahren, in einem Genießen, das körperhaft ist auch wenn es keine feste Gestalt hat, verströmen und damit gleichzeitig das Unbewusste für eine Aussage öffnen.

Dazu bedarf es jedoch noch eines zweiten Schritts. Denn die Mystiker früherer Zeiten, die durchaus auch dahin gekommen sind, das körperhafte genießen zu erleben, haben dabei nicht ihr Unbewusstes völlig geöffnet. Sie haben sind im Gipfelmoment der Selbstsublimation zwar auch meist nicht in Psychose und meist schon gar nicht in die Perversion gerutscht, dafür aber doch in das, was Freud das Vorbewusste nannte. Die ist eine schon halbbewusste Instanz, in der normalsprachliche Formulierungen schon parat liegen. Sie müssen zwar durch verstärkte Erinnerung an die Oberfläche geholt werden, sind aber nicht so diametral dem Bewussten gegenüberstehend. Sie sind dem Ich mehr vertraut, während im Unbewussten zwar ebenso Sprachstrukturen existieren, die aber dort eben verdreht, verformt und gut versperrt sind, so dass sie nur bei besonderen Gelegenheiten wie Fehlleistungen, Versprechern oder Witz zum Vorschein kommen. Die Mystiker haben daher wohl affektiv echter, provozierender und eklatanter Aussagen aus sich heraus gelassen, aber diese Aussagen waren in die Kultur eingepasst und entsprachen semantisch dem üblichen Denken.

So waren die Aussagen der Propheten also antike, mythische Wissenschaftler. Durch die Methode der Analytischen Psychokatharsis aber wird nicht nur die das Glücksgefühl der zur Spitze getriebenen Selbstsublimierung erfahren, sondern durch die Anwendung der Formel-Worte auch verhindert, dass nur das Vorbewusste zum Zug kommt, sondern sich Identitäts-Worte direkt aus dem Unbewussten ergeben.

Ein solches Vorgehen, das man mit den Worten von L. Marcuse auch die „Selbstsublimierung des Eros“ nennen kann, braucht den Therapeuten nur minimal, nur von Zeit zu Zeit.[2]
Laut Wikipedia „geht Marcuse im Unterschied zu Freud davon aus, dass ein solcherart [durch Selbstsublimierung] befreiter Eros nicht zum Untergang der Kultur führen würde, im Gegenteil: ‚Die Befreiung des Eros könnte neue, dauerhafte Werkbeziehungen schaffen.‘ Es käme zu einer Selbst-Sublimierung der Sexualität, die kultiviertere Beziehungen der Individuen untereinander ermöglichen würde.“ Diesen Gedanken greift auch der Psychoanalytiker R. Pfaller auf.[3] Auch er sieht einerseits eine falsche Sublimierung am Werk, wenn der Eros durch politisch-ideologische Steuerung nur auf eine Pseudokultur trifft bzw. eine solche mit Hilfe dieser Steuerung als Endziel erreicht. Oder andererseits, wenn der Eros, das Begehren, nur durch das Brechen kulturerstellter Verbote Fahrt aufnimmt und so eigentlich nur ein Pseudoeros ist. Eine echte Sublimierung würde in Geboten bestehen, im Imperativ. „Verharre nicht in deinem Narzissmus, sondern füge dich einem Standard von öffentlicher Kultur.“ Erotischer Kultur? Doch ich weiß nicht, wie das so recht und  praktisch gelingen könnte. Ich denke, dass die Analytische Psychokatharsis hier ein sicheres Werkzeug liefert, auch wenn die entstehende Kultur dann nicht so stark erotisch ausfällt wie Marcuse und Pfaller es sich berechtigterweise vorstellen. Aber sie wird wahrheitsbezogen ausfallen, und oft ist dies die stärkste erotische Kultur.



 



[1]  Freud, S., GW Bd. XIV, S. 438

[2] Marcuse, H., Triebstruktur und Gesellschaft, Suhrkamp (1980)

[3]R. Pfaller Die Sublimierung und die Schweinerei, PSYCHE Nr. 7 2009