Die Mathematik der intersubjektiven Wahrheit

Was passiert zwischen zwei Subjekten? Sie tauschen sich sprachlich aus, sie kommunizieren miteinander, aber wir wissen doch auch, dass man mit Sprache ebenso lügen wie die Wahrheit sagen kann. Man kann auch um alles herum reden oder sich Banalitäten mitteilen. Selten tauschen zwei Subjekte wirklich intersubjektiv und effektiv die Wahrheit aus. Wobei gar nicht mal klar ist, was das heißen sollte.
Ich gehe davon aus, dass die verbale Ordnung, das Sprechen samt seinen unbewussten Anteilen nicht ausreicht, um die Wahrheit oder selbst auch nur ein umfangreiches Wissen  wirklich auszutauschen. Auch wenn es wie in einer Psychoanalyse gelingt, neben dem normalen sprachlichen Austausch auch die unbewussten Zeichen und Laute mit zu deuten und so in die Kommunikation, in die gegenseitige Enthüllung, einzubeziehen, ist dieser Austausch hinsichtlich der Wahrheit noch nicht oder meistens nicht perfekt. Das Ganze wird doch sehr stark allein vom Verbalen, vom Worthaften her bestimmt. Schon die Bezeichnung „bestimmen“ betont dies erneut. Es bedarf noch einer weiteren, eigenständigen, von der Wahrnehmung, dem Schauen und Tasten herkommenden Ordnung. Man könnte sie die ikonische Ordnung nennen, die Bildvermittlung, den Gesichtstausch, die Auslotung mit den Augen. Auch diese gibt es, aber auch sie wäre ein nur zu einseitiger Zugang zur Intersubjektivität, wenn man sie alleine nutzt.


Würde man jedoch beide, das Wort- und das Bildhafte zusammenbringen, dann würde statt mit nur einem Interaktionsorgan die Intersubjektivität eben doppelt abgesichert, dadurch vertieft und objektiviert. Das Problem wird jedoch dann darin bestehen, wie die beiden Systeme, das Wort- und das Bildhafte miteinander verbunden und kombiniert sind. Hierfür gibt es nämlich keine ideale Methode. Natürlich haben wir im Alltag zahlreiche Möglichkeiten, Geste und Silbe, Sprachlaut und Bildzeichen, sprachlich vermittelte Gefühle und plakative Affekte usw. so miteinander zu verschachteln, dass der Austausch zweier Seelen, zweier Subjekte, zweier menschlicher Wesen ganz gut und auch einigermaßen wahrhaft gelingt. Aber wenn man noch weiter kommen will, besonders in Situationen wo psychische Krankheiten, körperlich unklare Zustände, gegenseitige unbewusste Blockierungen und starke unbewusste Vorurteile eine Rolle spielen, muss man etwas Zusätzliches in Anschlag bringen, mit dem die Intersubjektivität noch besser gelingen und wahrhafter sich austauschen kann.


Hier möchte ich einmal die Mathematik empfehlen auch wenn dies auf den ersten Moment hin befremdlich erscheinen mag. Ich habe viele Artikel über das von mir inaugurierte Verfahren der Analytischen Psychokatharsis geschrieben, die ja der intersubjektiven Erkenntnis, der gemeinsamen Enthüllung und für die ganzheitliche Reorganisation hilfreich sein kann. Aber ihren mathematischen Hintergrund habe ich nicht aufgezeigt. Es scheint widersprüchlich zu sein, in der Psychotherapie die Mathematik zu benutzen, es hat jedoch den Vorteil der Klarheit, distanzierter Verbundenheit und der distinkten Vermittlung. Ich zeichne dazu hier ein Schema auf.

 

Die  Liebe ist ein treuloser Freund


Oben steht für das Worthafte der Satz „Die Liebe ist ein treuloser Freund“, der eben das leicht Paradoxe, einseitig  verbalorientierte des oben geschilderten rein sprachlichen Austausches darstellen soll. Darunter befindet sich Bildhaftes, das die gleiche Aussage, die gleiche Bedeutung – soweit dies eben irgendwie überhaupt geht – vermitteln soll. Und wieder darunter zeige ich das Mathematisch-Topologische einer sogenannten Hopf-Faserung. Sie zeichnet sich dadurch auf, dass eine Schleife, ein Ring z. B., sich quer und längs zu der horizontal gezeichneten Achse dreht, sich dabei verkleinert und vergrößert und so verschiedenen Formen hervorbringt, die mathematisch genau berechenbar sind. Es geht dabei um die Homotopie, also Gleichartigkeit, gleiche Formhaftigkeit von sogenannten Mannigfaltigkeiten und Sphären.

Es geht  um etwas, was die moderne Mathematik und Geometrie im Moment besonders beschäftigt. Bekanntlich hat erst vor nicht allzu langer Zeit der russische Mathematiker G. Perelman die Poincarésche Vermutung bewiesen. Die Poincaré-Vermutung besagt – und das muss man jetzt erst einmal so über sich ergehen lassen - , dass jede einfach-zusammenhängende, kompakte dreidimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph zur 3-Sphäre ist. Was heißt das und warum kann das für die Intersubjektivität und für die Psychotherapie wichtig sein?


Zuerst einmal: eine Mannigfaltigkeit können Punkte im Raum oder  diesen Punkten entsprechende Zahlen sein. Eine 2-Mannigfaltigkeit ist z.B. eine Kugel, die natürlich auch gleichzeitig eine 2-Sphäre ist. Die Verbindung der angegebenen Punkte müssen also auch die Möglichkeit zur Krümmung haben. Die Mathematiker verwenden hierzu auch die Vorstellung, dass der Punkt sich ringförmig ausweiten und wieder zusammenziehen kann. Zwei Punkte auf der X- und Y- Achse ermöglichen zwei Kreise (in horizontaler und vertikaler Rich-tung), die bei gleichem Abstand das Gerüst für eine Kugel ergeben. Sind die Abstände unterschiedlich, entwickelt sich ein Ellipsoid. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten einer 2-Mannigfaltigkeit, die eben auch eine 2-Sphäre ist. Doch auf was es weiter ankommt, ist die 3- oder n-Mannigfaltigkeit, und zu beweisen, dass eine 3-Mannigfaltigkeit auch eine 3-Sphäre ist, ist bereits unglaublich schwierig. Denn das war die Poincarésche Vermutung. Eine geringe Vorstellung davon kann man haben, wenn man sich in der rechts gezeigten Abbildung die korrespondierenden Punkte zweier Kugeln zusammengeklebt, zusammengefügt denkt. Es wird sofort ersichtlich, dass dies ungeheuer schwer und bei noch mehreren Punkten schier unmöglich scheint. Doch das in dieser Weise erstellt Gebilde würde eine 3-Sphäre ergeben, die man natürlich so direkt auf dem Papier gar nicht mehr darstellen kann. Für was benötigen Mathematiker dann so etwas überhaupt?
Nun, sie wollen mathematisch, topologisch zeigen, wie man sich das Universum vorzustellen hat. Nach ihnen ist das Universum ein unglaublich vielschichtig verschachtelter Mehrfach-Raum, und es ist gewiss ein Vorteil und Fortschritt, wenn man das Universum so berechnen bzw. geometrisieren kann. Dies tun nämlich in sehr ähnlicher Weise auch die Physiker. Physik und Mathematik hängen ja sehr eng zusammen und für die Physiker sind eben in erster Linie nicht die Flächen, sondern die Kräfte so vielschichtig verschachtelt. Atomare und Gravitationskräfte sind beispielsweise ebenso kompliziert miteinander kombiniert, die das die Mannigfaltigkeiten in der Mathematik sind. Trotzdem kann man sich immer noch fragen, für was das alles gut ist. Was haben wir Subjekte, die wir auf dieser schlichten dreidimensionalen Welt leben, von derartigen Konstrukten?


Eigentlich nichts. Von dem Aspekt aus gesehen, mit dem ich diesen Artikel begonnen habe, nämlich der Intersubjektivität, sind Physik und Mathematik ziemlich wertlos. Dies ist auch der Grund, warum der Physiker, Jurist und promovierte Hirnforscher A. Unzinker ein „naturwissenschaftlicher Ketzer“ ist (Unzinker, A., Auf dem Holzweg durchs Universum, Hanser (2012), Zitat auf der Rückseite des Buches). Er hält alle die ausufernden Theorien und die gigantomanischen Projekte mit immer größeren Teil-chenbeschleunigern für baren Unsinn. Für ein paar Leute kommen spannende Ergebnisse heraus, aber für die Menschheit insgesamt nichts. Nach der Abschaffung monarchischer Aristokratien und der ebensolchen Zurückstufung der Finanz- und Bankmonopolisten sind jetzt die größenwahnsinnigen Wissenschaften dran, nach ihrem eigentlichen Wert befragt zu werden.


Dennoch halte ich zu heftige Kritik nicht für angebracht. Denn die oben erwähnten Modelle der Mathematiker, Topologen und Physiker sind wenigstens als faszinierende und großartige Analogien durchaus brauchbar. Aus diesem Grund hat der Psychoanalytiker J. Lacan bereits in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die gleichen 2- und 3-Sphärengebilde für die Psychologie verwendet. Unser Bewusstes und Unbewusstes, unser Wort- und Bildhaftes, unser zum großen Teil unbewusster Liebes-Anspruch und unser verdrängtes Begehren verknoten und verschachteln sich in der gleichen Weise wie die mathematisch-topologischen Gebilde. Sie stellen nämlich so auch ein ideales Modell für die Intersubjektivität dar. Dennoch ein erneutes Trotzdem: das mag ja für den Psychoanalytiker selber ganz gut und interessant sein, aber was hat der Patient davon? Kann er deswegen von Mensch zu Mensch, von Subjekt zu Subjekt die Wahrheit besser austauschen und enthüllen?
In der oben von mir erwähnten Analytischen Psychokatharsis sind alle diese Erkenntnisse und Begriffe auf eine ganz konkrete „logische Praxis“ reduziert und so für jedermann nutzbar und verständlich. Denn ihm wird nichts mehr – wenn auch großartig bewiesen - einfach nur vorgesetzt. Er kann die Wahrheit intersubjektiv und praktisch selbst erfahren. Und dies wiederum genau analog zu den genannten Modellen. Denn in diesen Modellen steckt – wie gesagt rein analog – ein Instrument, eine metaphorische Maschine, ein „kleiner Psychoanalytiker“, der einem eine exakte Selbstanalyse ermöglicht. Hier wird die Wissenschaft also wirklich zur „logischen Praxis“ für jedermann. Jeder kann und soll an dem wissenschaftlichen Vorgängen beteiligt sein und speziell und genau dies soll ihm auch subjektbezogen und persönlich helfen. Denn die Analytische Psychokatharsis ist auch eine therapeutische Methode. Die Beschäftigung mit ihr heilt auch Leiden. Dazu muss ich noch ein bisschen ausholen.
Im Zentrum der Analytischen Psychokatharsis stehen nämlich sogenannte Formel-Worte, die genau dem in der mathematischen Topologie gebräuchlichen Begriff der Homöomorphie entsprechen. Mathematisch versteht man unter Homöomorphie die völlig äquivalente, Punkt-zu-Punkt entsprechende bzw. strukturgleiche Abbildung zweier topologischer Gebilde (ein Mathematiker würde dies natürlich noch anders ausdrücken, z. B. mit Begriffen wie Symmetrie, Reflexivität, Transivität etc., doch für die Untersuchung hier kommt es nur auf die bild-worthaft gleiche, kongruente Beziehung an. Da ich schon häufig darüber berichtet habe, hier nur nochmals eine kurze Darstellung. Das nebenstehende Bild zeigt so ein im Kreis geschriebenes Formel-Wort, das von verschiedenen Buchstaben aus gelesen eine jeweils andere Bedeutung enthüllt (siehe andere Artikel). Im psychoanalytischen Sinne kann man hier von Überdeterminiertheit sprechen, denn das einmal im Uhrzeigersinn Geschriebene kann vielförmig gelesen werden. Die Kongruenz, die Homöomorphie besteht nun in der gleichen Art, in der das Unbewusste geschrieben ist und gelesen werden kann.


Denn das Formel-Wort ist gestaltet wie ein Rätselwort, wie es Freud auch von den im Traum vorherrschenden Bild-Worten sagte. Lacan argumentiert, dass das Unbewusste aus „ultrareduzierten Phrasen“ besteht, also bild-worthaften Äußerungen, die an der Grenze zum Verbalen, zum eigentlich Sprachlichen stehen, aber doch gerade noch so viel Sprache sind, dass man sie verstehen kann. Es herrscht hinsichtlich dieser Phrasen eine Homöomorphie zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten vor. Strukturell sind beide äquivalent und zwar genau in dem topologischen Sinne. Für den die Analytische Psychokatharsis Übenden mag dies von keiner großen Bedeutung sein, denn er übt die Formel-Worte so wie sie sind, also allein ihrem wort-klang-bildhaften Charakter nach. Für das Vertrauen, für die Gewissheit und Überzeugtheit hinsichtlich des Verfahrens jedoch sind derartige Ausflüge in die Differenzialgeometrie sinnvoll. Sie geben dem Übenden die Sicherheit und Klarheit wie sie früher – zu Zeiten der Mystik – nur durch abgöttischen Glauben und ekstatische Selbstüberzeugung möglich war. Die Analytische Psychokatharsis ist somit eine Selbstanalyse ganz in Sinne der Freud´schen Psychoanalyse.


Für Freud war die heute übliche, meist übertrieben lange Lehranalyse noch keineswegs Standard. Er propagierte sie zeitweise selbst. Zu seinem Bekannten S. Bernfeld soll er gesagt haben: Wenn Sie wissen was das Unbewusste und die Übertragung  sind, fangen sie an Analysen zu machen! Freuds Schüler Ferenczi praktizierte sogenannte mutuelle Psychoanalysen, d. h. der Analytiker und der Patient wechselten die Plätze, handelten also genau nach dem Muster der Homöomorphien. Später waren es K. Horney und viele andere, die eine Psychoanalyse nach emphatischen Eigenvermögen, eigenen freien Assoziationen und Traumdeutungen postulierten. In der Analytischen Psychokatharsis befindet sich das homöomorphe Element eben in dem Wesen der Formel-Worte, die den Adepten auf diese „ultrare-duzierten“ sprach-bildlichen Homöomorphien seiner selbst stoßen lassen. Ein Therapeut man gelegentlich zu Rate gezogen werden, dies ist aber nicht nötig. Für eine Ausbildung in der Analytischen Psychokatharsis empfehle ich daher neben einer längeren Eigenerfahrung auch ca. 50 Stunden einer Psychoanalyse durchzuführen.