Psychoanalyse und spanischer Erbfolgekrieg

Wir leben in einer pazifistischen Zeit. Heute kann sich niemand mehr vorstellen, wie um das Jahr 1700 ein dreizehn Jahre langer Krieg in Europa wütete, der nicht viel anders als der 30-jährige Krieg keine hundert Jahre vorher irrsinnig vielen Menschen auf grausame Weise das Leben kostete und keiner Partei einen wirklichen Sieg brachte. Der Habsburger König Karl II. war ohne Erben verstorben und der französische Bourbonenkönig Ludwig XIV. schickte sofort seinen Enkel Phillip von Anjou nach Madrid auf den spanischen Thron. Das ließen sich die übrigen Mächte Europas nicht gefallen. Es folgte eine Unzahl von Gemetzeln, mal in Belgien, mal in Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Holland mit ständig wechselnden Gewinnen. Letztlich verloren alle, aber die Bourbonen blieben Könige in Spanien bis heute. Unter den Gemetzeln war auch die Sendlinger Mordweihnacht, in der 1100 bayerische Aufständische in München von den österreichischen Besatzern ermordet wurden, obwohl die Rebellen die Waffen schon niedergelegt hatten. Die Bayern waren dummerweise auf der Seite Frankreichs geblieben.


Überhaupt war das Volk nur Schlachtvieh. Die Power und den Genuss von Macht und Glanz teilten sich die Obersten, die Adels-Oligarchie, darunter Prinz Eugen und andere Fürsten und Generäle. Das ist der Grund, warum ich dies hier schreibe, denn es ist heute nicht anders. Nur dass die Obersten heutzutage eben einige Politiker, Finanzhaie, Großunternehmer und Medienzare, kurz die modernen Oligarchen sind. Die Bürger der Mittel- und Unterschichten sind machtlos wie früher die Söldner im Krieg. Und es ist weder eine politische, kulturelle noch sonstige Lösung in Sicht, daran etwas zu ändern. Warum regen wir uns über die Militaristen von damals auf? Sie waren eben damals die privilegierten Macher wie es heute die zivilen Oligarchen sind, da ist überhaupt kein Unterschied. Da sind auch die heutigen Parteiführer in nicht anderer Lage, wobei die von ganz rechts und ganz links eher wieder dem dummen Fußvolk zuzurechnen sind, weil sie glauben, sie sind es nicht, sie sind nicht die Unterprivilegierten. Von der Verfolgung der Extremen, der Radikalen im linken und rechten Spektrum profitieren natürlich der bürgerliche Block in der Mitte wieder, sowie damals der Adel davon profitierte, dass die Unterschichten das Leben satt hatten und Säufer und Haudegen waren, denen der Tod auf dem Schlachtfeld egal war.


Es wird sich nie etwas Entscheidendes ändern. In der tiefsten Tiefe der Welt und der Menschen werden immer die gleichen Triebkräfte herrschen wie eh und je. In einem Geschichtsbuch von 1886 wird spannend geschildert, wie Prinz Eugen und seine Leute Turin eroberten. „Eugen stellte sich an die Spitze der Bataillone . . unter seiner unmittelbarer Führung  . . warfen sich die wackeren Brandenburger auf die feindlichen Verschanzungen. . . Eugen befindet sich mitten unter ihnen. Ein Page und ein Diener werden an seiner Seite getötet; er achtet es nicht. Da plötzlich bricht er zusammen . . .schon beginnt bei diesem Anblick Schrecken seine Krieger zu ergreifen. . . aber schnell erhebt Eugen sich wieder und ruft laut . . ihm sei nichts widerfahren, nur sein Pferd sei erschossen. . . . Um vier Uhr nachmittags hielten die beiden Fürsten, Prinz Eugen und der Herzog von Savoyer unter dem Jubel der Bevölkerung ihren Einzug in Turin.“ (Beckers Weltgeschichte, Verlag Gebr. Kröner, (1886), Bd. /, S. 33) Heute sitzt jemand hinter seinem PC und steuert eine Kampf-Drohne gegen die Feinde. Damals gewann der vom Größenwahn gesteuerte Todesmutige, heute ist der digitale Drohnensteuerer aber wiederum nur ein halbtoter Verlierer. Er lebt nicht so abenteuerlich verrückt und er wird auch nie unter dem Jubel einer Bevölkerung in eine Stadt einziehen. Ich will damit nicht die alten Militaristen hofieren. Im Gegenteil. Was ich sagen will, ist, dass beide, der Prinz und der Drohnensteuerer samt ihrer jeweiligen Leute, im gleichen oligarchischen Dilemma stecken. Sie sind Opfer der immer gleichen Grundstruktur einer Art vom Selbstentfremdung.


Daraus wird keine Politik, keine Sozialwissenschaft, keine Technik und keine Spiritualität etwas ändern. Ein paar können vielleicht weiterkommen, wenn sie den Weg durch sich selber nehmen, durch ihre eigene Oligarchie. Wenn sie erfassen, was die Grundstruktur ist. F. Schirrmacher beschreibt sie gerade in einem neuen Buch als die des „rationalen Egoismus“.(Schirrmacher, F., Ego: das Spiel des Lebens, Blessing (2013)) Freud hatte sie früher als die des Zusammenwirkens von Eros-Lebens- und Todestrieb beschrieben. J. Lacan nennt sie einen Kompromiss zwischen Wahrnehmungs- (Schau-) und Entäußerungs- (Sprech-) Trieb. In dieser mehr den Triebkräften zugeschriebenen Struktur hat das Ego einen schweren Stand. Bei Schirrmacher hat es den Stand eines Vernunftwahnsinns gefunden, den Stand egomanischer Schlauheiten. Dennoch bleiben auch die rationalen Egos nur das Fußvolk, das auf Schnäppchenjagd geht, auf Vorteilnahme und Selbstvermarktung. Denn die Herren sind jetzt – so Schirrmacher – die Informationskapitalisten, die alle zu Totalbewirtschaftern und Investmentspielern  ihrer Selbst machen. Es kann durchaus sein, dass da etwas Wahres dran ist, aber der Autor bleibt einen Ausweg schuldig. Er sagt nicht, wie die unter der Fuchtel der Spieltheorie stehenden Pseudoindividuen wieder zu sich herauskommen. Gut, Freud und Lacan zeigen auch keinen universalen Ausweg.


Denn das Zu-Sich-Kommen – jedoch nicht als ökonomisierte Egos -  ist das Wesentliche. Man muss zu sich kommen als – und hier darf man jetzt nicht wieder irgendeinen Begriff, ein festes Wort, evtl. gar Ethik, globale Freundschaft, Gott oder Weisheit einsetzen. Diese Stelle des wahren Zu-Sich-Kommens muss leer bleiben, und damit das gelingt bedarf es etwas von der Art einer Psychoanalyse. Ich sage extra „Art von“, weil die herkömmliche Psychoanalyse von Millionen von Menschen – wie gerade mit dem Wort universal erwähnt - genau so wenig gelingen würde, wie die Änderung der oben geschilderten oligarchischen Verhältnisse. Eine wirklich gute psychoanalytische Behandlung dauert lange, ist umständlich und für die „rationalen Egos“ sowie so nicht geeignet, weil die gar nicht dorthin gehen würden. Man kann nur die aufrufen, die ernsthaft einen Ausweg nicht nur aus dem allgemeinen Gesellschaftlichen, sondern auch aus der eigenen total scheinenden Ausweglosigkeit suchen. Deswegen stelle ich an diesen Punkt nicht einen Begriff oder ein festes Wort, sondern ein wackliges, irritierendes, ja leeres Wort.


Im Lateinischen (aber sicher aus in anderen Sprachen) lassen sich leicht Formulierungen finden, die in sich selbst mehrere Bedeutungen haben und damit sozusagen übervoll sind. Und doch sind sie damit eben auch leer. Denn aus der Übervollheit – wenn die einzelnen Bedeutungen nur disparat genug sind – lässt sich kein eindeutiger, zusammenhängender Sinn herauslesen. Meditiert man solche Formulierungen wie z. B. die Nebenstehende und im Kreis Geschriebene, klopft man damit direkt ans Unbewusste, an die „Polygarchie“( Der Ausdruck Polykratie wird meist im Zusammenhang mit der Naziherrschaft verwendet. Darum geht es natürlich nicht, und so ist auch „Polygarchie“ nur ein Behelfsausdruck), die Herrschaft der Vielen, die wir auch Demokratie nennen. Denn das Unbewusste, das Freud´sche Unbewusste, ist innen und außen zugleich. Es geht also um eine besondere Demokratie, in die man sich selbst als den ersten Demokraten mit einbringen muss, also um eine umfassende und möglichst viele Individuen einbeziehende Selbstanalyse. Ich habe sie in zahlreichen Artikeln unter dem Namen „Analytische Psychokatharsis“ vorgestellt (siehe www.analytic-psychocathrsis.com). Die oben erwähnten Schau- und Sprechtriebe Lacans müssen dazu in eine ideale Kombination gebracht werden, denn nach Freud´scher und auch Lacan´scher Auffassung sind diese beiden die hauptsächlichen Oligarchen, die man selbst – und hier hat ein gewisses Ego durchaus seinen Sinn – in eine gelungene Beziehung zueinander bringen muss. Mit dem Freud´schen Eros-Todestrieben kam dabei immer nur in Sadomasochismus heraus, der ja auch nur – genauso wie der Informationskapitalismus - ein oligarchisches Dilemma ist. Der Lacan´sche Weg geht weiter und ich hoffe, ich habe ihm noch etwas dazugestellt, das das Dilemma lösen könnte.