Lacirp, Yoga und Psychoanalyse

Im Herbst 1972 besuchte der Religionswissenschaftler und Yogi Kirpal Singh Paris. Bei oder nach der Besichtigung einer Moschee begegnete die Gruppe um Kirpal Sing dem französischen Psychoanalytiker J. Lacan. Eine Frau aus der Gruppe erkannte Lacan und brachte die beiden Persönlichkeiten für einen kurzen Wortwechsel zusammen. Sie sagte:
M.: „Hallo Monsieur Lacan, hier ist der in Indien sehr bekannte Religionswissenschaftler und Yogalehrer Kirpal Singh.“ Lacan antwortete:
L.: „Oh, Sie sehen wie ein Prophet aus, was ist ihre Botschaft?“


K.: “Meine Botschaft ist die Liebe zu Gott, die über die Liebe zu einer Meisterseele gefestigt werden kann.“
L.: „Meisterseele?! Manchmal nennen mich meine Schüler auch Meister (Borch-Jacobsen nannte Lacan sogar den absoluten Meister) , aber bei meiner Arbeit ist die Liebe zu mir eher hinderlich.“
K.: „Wie kann Liebe hinderlich sein?“
L.: „Weil Projektionen und Idealisierungen hinter ihr stecken können, die einen tiefgehenden, authentischen Diskurs verhindern.“
K.: „Fehlgeleitete Liebe ist natürlich nur die Grundstufe, von der aus man höher steigen muss, um zur wahren Gotterkenntnis zu gelangen.“
L.: „Gott, das Heilige hat für uns eine virtuelle Dimension, die parallel zur symbolischen Ordnung ist, mit der wir arbeiten.“
K.: „So sehen wir es im Yoga auch, indem Gott die Einheit hinter den nach außen gehenden Kräften (outgoing faculties)  von Licht und Ton ist. Um dahin zu . .“
L.: „Licht und Ton, das klingt nach dem Schau- und Sprechfeld, nach dem visuellen und auditiven Signifikanten.“
K.: „Um dahin zu kommen, muss man diese beiden ‚faculties‘ in sich mit Hilfe der Anweisungen des Lehrers aufsuchen.“
L.: „In sich, exakt in sich, indem das Subjekt aus sich heraus gehen muss, frei asso- . .“
K.: „Es muss nach oben gehen.“
L.: „Nach vorne.“
K.: „Auf jeden Fall muss es so mit der Meisterseele ins Gespräch kommen können.“
L.: „Mit dem Anderen, dem großen bedeutenden Anderen ins sich selbst.“
K.: „ Ist das nicht Gott?“
L.: „Wie Sie sagten, die virtuelle Einheit hinter den Kräften.“
K.: „Wir sind uns einig, wir sind beide carehunters.“
L.:  „Carehunters? Ein interessanter Begriff. Ich denke wir sitzen in der Position eines Scheinriesen (grand semblant - Der Begriff semblant steht bei Lacan für die Position, der 'Wissen unterstellt wird', also auch der Platz, auf dem der Analytiker sitzt).“
K.: „Die Menschen glauben, dass man ihnen die persönlichsten Wünsche erfüllen könnte. In gewisser Weise ist dies möglich, aber der Meister wird niemals die Ordnung der Natur verändern.“
L.: „Soweit gehen die Wünsche meiner Patienten meistens nicht, wir können ihnen aber deuten, woher diese Wünsche kommen, so dass sie deren Irrelevanz einsehen und selbst ändern können.“
K.: „Auch im Yoga muss der Adept die Arbeit der Weiterentwicklung selbst auf sich nehmen. Aber er bekommt ein Anfangskapital.“
L.: „In der Psychoanalyse bekommt er über den ganzen Verlauf der Behandlung ein Zuhörenskapital. Das ist sehr viel.“
K.: „Letztlich wird er den Meister den wie Sie sagten „großen Anderen“,  in sich selbst sprechen hören. Er wird hören, dass die Sexualität nicht das wahre Leben ist.“
L.: „Das ist meine Standartaussage: es existiert keine aussagbare Beziehung zwischen Mann und Frau von der geschlechtlichen Seite her.“
Es gab eine herzliche Verabschiedung und die Gruppe ging ihres Weges weiter. Aus diesem kurzen Dialog kann man vieles lernen, und ich möchte daher noch einen kleinen Kommentar geben.
Gott, Mastersoul, L´Autre , die outgoing faculties und die virtuelle Einheit hinter den Triebkräften, all dies ist nicht als feststehende Eins, als reale Eins zu verstehen. Es gibt eben einen grundlegenden Dualismus. Wer J. Lacans und K. Singhs Schriften und Dialoge liest, wird bestätigen, dass die beiden sich hier wirklich einig sind. Dieser Dualismus kann wohl nur am Ende eines Lebens vollständig überwunden sein, und zwischendurch kann man vielleicht Eins-Gefühle, Einheitsseligkeit empfinden, doch nur für kurze Momente. Jedenfalls sagte Lacan ganz klar, dass er das Wesen der Eins nur dann erreicht, wenn er von der Psychoanalyse sprechen kann (Lacan, J., Seminaire XIX. Sitzung vom 10. 5. 72).  Dann da muss er der Sache nicht einen Sinn geben. Wenn eine Rede einen Sinn hat, hat sie immer eine Nähe zur Ideologie, schließlich will man die Hörer vom Sinn des eigenen Traktats überzeugen. Von der Psychoanalyse sprechen beinhaltet dagegen immer, dass man die zwei Spiegelflächen der Signifikanten (Bezeichner) gegeneinander ausspielt, so wie es das Unbewusste vermittelt.
Mit anderen Worten: man vermittelt den Hörern, dass an dem, was man sagt, etwas dran ist (die maternale, materiale Seite des Signifikanten), sagt aber nicht genau was (die mathematische Seite des Signifikanten). Dadurch spitzen die Zuhörer die Ohren und müssen schließlich den Sinn selber finden, so wie es eben in jeder analytischen Sitzung der Fall ist. Daher „sollte man nie einen Signifikanten überspringen. Es ist nämlich genau in dem Maß, wo der Signifikant einen fixiert, dass man versteht.“ Aber verstehen heißt nicht wirklich Genießen, da liegt der Haken. Und genau das meint auch Kirpal Singh.
Auch er plädierte ständig dafür, nicht zu viel und allzu gut zu verstehen, weil man sich damit nur naives Wissen aneignet. Man sollte selbst authentisch in sich mit Hilfe gewisser Meditationsübungen zum wahren Wissen kommen, das eben subjektbezogen ist und nicht nur objekthaft. Denn wichtig ist das Genießen, der Bliss (Glückseligjkeit), der Samadhi, die Einheitsseligkeit. Doch konnte Kirpal Singh auch stets vom Nirvikalpi Samadhi sprechen, der entgegen dem Sarvikalpi Samadhi nicht nur momenthaft ist, sondern dauerhaft. Doch muss man sich hier fragen, wie das gehen kann, dauerhaft genießen?
Ich denke, man kann das nur so begreifen: der indische Yogi muss im dauerhaften Bliss verbleiben, er hat sich dahin sehr sehr lange emporgearbeitet. Jetzt kann er sich dem äußerlichen Leben nur momenthaft zuwenden und immer wieder  – wie es bei K. Singh ja auch der Fall war – das Bliss-Bad in der Menge seiner Schüler nehmen. So bleibt das Gleichgewicht erhalten, indem er das Sprechen vom Yoga und den Kontakt zu den Schülern genießen kann, weil er – wie Lacan – jedem selbst das Finden der letzten Dinge auferlegt und kein  bestimmtes Sinn-Wissen vermittelt. Der Psychoanalytiker jedoch genießt nicht so sehr den Kontakt zu den Schülern wie die intellektuelle Arbeit, die er in Vorträgen oder schriftlich veröffentlicht.
Was das Sexuelle betrifft, so gibt es natürlich eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau. Aber sie wird – das sagte schon Freud – maßlos überbewertet. Denn in der symbolischen Ordnung (wie Lacan sagt) oder auf der „Kausalebene“ (wie K. Singh definierte) kann sie nicht abgebildet werden. Man muss sie sublimieren, also verfeinern, in Leben, Kunst, Kultur und eheliche Beziehung einbringen, so dass sie auch in die „logische Praxis“ von Yoga und Wissenschaft eingebracht werden kann. Da es eine so große Übereinstimmung zwischen Yoga und Psychoanalyse gibt, habe ich diesen Artikel mit dem Namen „Lacirp“ (Lacan und Kirpal) überschrieben.