Das "Durchrieseln" oder die Begegnung von "Haut-zu-Haut"

 In meinen Büchern und Artikeln über die Analytische Psychokatharsis habe ich oft den Begriff des „Durchrieselns“ benutzt. Es handelt sich natürlich dabei nicht um einen wissenschaftlichen Term. Doch wie die Psychoanalyse eher eine „logische Praxis“ als eine kalte und nüchterne Wissenschaft ist, so gilt dies auch für die Analytische Psychokatharsis und zwar speziell für den kathartischen (befreienden) Teil. Die Erfahrung eines „Durchrieselns“ ist eine körperbezogene Katharsis wie sie schon jeder sicher ein- oder mehrmals bei einem bewegenden Musikstück gemacht hat, wo es einem kurz prickelnd den Rücken hinunterläuft. Neuerdings nennt man es auch eine „Chill-out-Erfahrung“, ein kribbelndes Relax-Erlebnis. Mache Menschen glauben sogar sie hätten eine Krankheit, wenn sie immer wieder auch ohne äußeren Anlass so etwas Prickelndes spüren. Allgemein betrachtet versteht man unter so einer leichten Empfindung eines prickelnden oder „durchrieselnden“ Schauers eine atavistische Reaktion, die mit tiefer Emotionalität zu tun hat. Die Frühmenschen haben vorwiegend über derartige Sinneserfahrungen ihrer Haut, aber auch ihres Gehörs und Blicks kommuniziert. Sie haben nicht nur in Ausnahmefällen solche Empfindungen erfahren, sondern wirklich damit sich ausgetauscht und „gesprochen“. Ihnen lief ständig mal ein sanfter Lust-, dann wieder Angst-, Erstaunens- oder Abwehr-Schauer über den Rücken oder durch den ganzen Körper. Sie sind sich sozusagen meist von „Haut-zu-Haut“ begegnet.


Egal ob wir dies heute als Rest früherer Fähigkeiten – also als Atavismus - ansehen oder nicht, es geht sicher um eine tiefer begründete Emotionalität. Dieses Es „Fühlt“, „Tastet“ und „Durchrieselt“ hat der Philosoph Heller-Roazen in einem neueren Buch weitgehend ergründet.  Er geht davon aus, dass schon die alten Griechen, speziell Aristoteles, einen „inneren Sinn“, einen Gemeinsinn, einen Ökosinn postuliert haben. Es war vor allem der Tast- und Berührungssinn, der ihn dazu animierte. Und tatsächlich, wir sprechen problemlos von der Schaulust, aber nicht so einfach von der Tast- und Berührungslust. Wir sprechen vom Blick als dem Objekt der Schaulust, aber nicht vom „Getast“ als dem Objekt der Hautlust. Dagegen könnte ein „Es Fühlt“, „Es Empfindet“  uns vielleicht anschaulicher vermitteln, was mit diesen „inneren Sinn“ wirklich gemeint ist, der von der Wissenschaft auch als Könästhesie und Propriozeption bezeichnet wird. Im Grunde genommen geht es um die Konnaturalität, die totale Natur- und Wesensverbundenheit. Das Konnaturale ist ja ein Gemeinsinn, ein Sinn, in dem wir schon von jeher dem anderen verbunden sind. Thomas von Aquin benutzte den gleichen Begiff, um von der tiefen Verbindung aller Wesen untereinander zu sprechen. Der Psychoanalytiker N. Symington wählte hier auch den Begriff  der „Thathood“, der „Dasheit“.
Es gibt ein Das, das – wenn ich es vorerst einmal so pauschal sagen darf - in allen Menschen und evtl. sogar allen Lebewesen als eine Art von Urvertrauen ganz primär erst einmal da ist. Vielleicht nur kurz, flüchtig, weil sich dann der erworbene Charakter des entsprechenden Lebewesens meldet, und dann kommen ganz andere Verhaltensweisen zum Vorschein. Der Ökosinn, die Dasheit, der innere Gemeinsinn ist auch ein wichtiges psychisches Objekt der Psychoanalyse. Es wird dort – insbesondere in der klassischen Form der Psychoanalyse, die sich auf die Neurosen konzentriert – nicht so verwendet. Bei psychosomatischen Leiden ist es jedoch sehr wichtig. So hat schon vor fast hundert Jahren  G. Hellpach in seinem Buch "Geopsyche" versucht, Umweltbezüge auf den Menschen mit psychischen Objektbeziehungen dieser direkt körpervermittelten Art zu erklären. Hellpach hatte jedoch keine psychoanalytische Ausbildung und konnte so die wesentlichsten, weil besonders unbewussten Zusammenhänge zwischen der Neuro-Psyche (dem Unbewussten) und der Umwelt nicht beschreiben.
Dass dieses „Durchrieseln“ einen Bezug zur Freud´schen Sexualtheorie hat, ist jedoch nicht schwer einzusehen. Recht anschaulich kann man diesen Zusammenhang in dem Märchen von dem „der auszog das Gruseln zu lernen“ darstellen. Bekanntlich fürchtete sich dieser vor nichts, nichts gruselte ihn. Er legte sich im Dunkeln unter den Galgen, „wo“ – so provozierte man ihn – „Siebene mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben,“ hängte die Toten ab und trieb Schabernack mit ihnen. Nach weiteren Schauderprüfungen durchwanderte er drei Nächte lang das Geisterschloss des Königs und sollte die Königstochter zur Frau haben, wenn er alle Grusel-Teste bestand. Dem war so, aber es gruselte ihn immer noch vor nichts. Nach der Hochzeit mit der Prinzessin ließ diese eines Tages von ihrer Magd frühmorgens einen Eimer kaltes Wasser mit Gründlingen darin holen und schüttete ihn auf den Bauch ihres nunmehrigen Prinz-Gemahls. „Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau!“ schrie er auf, „Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist." Und so sieht man wieder, die Frauen müssen es einem zeigen, wie es mit dem Sex wirklich geht. Es muss einen ‚durchschauern‘, durchrieseln, durchwuseln, indem zwei Subjekte, zwei Signifikanten wie Mann und Frau gelungen kommunizieren. Gelungen heißt hier: über das „Getast“, über die Könästhesie.
Denn selbstverständlich war das „Durchrieseln“ nicht nur mechanische Folge der glitschigen Gründlinge, sondern eben Ausdruck der zwischenmenschlichen Beziehung, die hier auch einen erotischen Aspekt hat. Diese prickelnde Erfahrung des eigenen Körperbildes und der Dialog zwischen den Frauen und dem Prinz-Gemahl stellen wieder die Seite dessen dar, was ich auch das „Strahlt“ (blickhafte Körperbezogenheit)  und das  „Spricht“ nenne („was gruselt mir, was gruselt mir“), von dem auch Goethe im Faust sprach: ‚Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil‘, wobei es hier um den Abstieg ins mythische „Reich der Mütter“ ging. Indem sie von diesem Abstieg „Spricht“, setzt die Psychoanalyse ihren spezifischen. Schwerpunkt zwar mehr auf die verbalen Signifikanten, also das „Spricht“, doch der imaginäre Signifikant ist ebenso deutlich zu sehen:  das Bild des sich windenden Mannes in dem besagten Märchen , des „durchrieselten“ Körpers, des prickelnd durch-„Strahlt“-en Körperbildes. Der Dasheit.
Nirgendwo spürt man so stark, dass Es da ist, das Freud´sche Es, das Subjekt in seiner Eigentlichheit. Das. Das psychisch-könästhetische Objekt. Das „Getast“, die Hautlust. Weil dieses Objekt so tief emotional ist, so mit dem Eros verbunden, obwohl es nichts zu tun hat mit der üblichen, der alltäglichen Sexualität, ist es so stark verdrängt, dass es nie zur Sprache kommt. Fast könnte man sagen, es ist das, was Freud mit dem Ur-Verdrängten gemeint hat, einer Art psychisch-libidinösen „Gegenbesetzung“ wie er es selber nannte. Die Gegenbesetzung symbolisiert die Spaltung, denn im Moment der Hautlust wird diese auch schon wieder abgewehrt. Wer kennt nicht den Kitzel, den man nicht aushalten kann, obwohl er im Zustand einer totalen Entspannung oder Ablenkung oder wenn man es sich selbst tut, ganz leicht zu ertragen ist. Doch wenn man sich selbst kitzelt, steckt kein anderer dahinter so wie in Wirklichkeit die Könäathesie ja auch nur die Urvertrautheit für sich alleine ist: im neurotischen Fall die Mutter, im reiferen Fall der/das Andere als solches. Der Gott oder das Unbewusste in seiner urverdrängten Form. Hier wird der Kitzel zum Genuss, das „Durchrieseln“ zur genussvollen Erkenntnis und zur kathartischen Wahrheit: Er/Es ist da, „Du bist nicht allein“.  
Der Psychoanalytiker E. Gendlin, hat die Kombination dieses „durch-schauernden Strahlt“ und des mehr wissenschaftlich zu erfassenden  „Spricht“ durch eine Methode, die er Focusing nannte, als erster ganz gut in einer verbindlichen Kombination konzipiert. Hier war nämlich der Körperbezug gegeben (Gendlin sprach von seiner Methode auch als einem „körperbezogenen Philosophieren“). Er erreichte dies durch das, was er den  „Felt-Sense“ nannte einem körperbezogenen Gefühlssinn (auch einer Art „Prickeln“), dem man dann einen Begriff sprachlich zuordnen sollte, was wissenschaftlich nicht so ganz gut fundiert ist. Aber es ist ganz klar, dass der „Felt_Sense“ nichts anderes als wieder diese Getast-Lust ist, dieses Ur-Verdrängte. Doch diesem dann einen Begriff sprachlich zuzuordnen ist mystisch. Somit kann man seine Lösung nicht als ideal und absolut gelungen bezeichnen. Bei ihm „Strahlt“ es vielleicht schwach und es „Spricht“ eben auch nicht so eklatant wie bei dem gerade zitierten Satz meiner Patientin.
In der Analytischen Psychokatharsis nun wird diese Problematik gelöst, da hier sozusagen eine „Getast-Formulierung“, eine Formulierung die noch Sprache und doch auch nicht mehr Sprache ist und so wie ein Objekt, das man mehr tasten als denken kann, das sprachlich eher sperrig ist, so dass es, wiederholt man es gedanklich wie ein Das, ein psychisches Ur-Objekt eben, ein Widerhall-Objekt wirkt.  Es wirkt wie das Summen, Murmeln, Reden der Mutter, das das Kind nicht versteht und doch mitbekommt, halb versteht. Diese Formulierungen, die ich auch Formel-Worte nenne, sind ein rein formales Strahlt /Spricht, ein Getast und Gegengetast, und können somit eben beim Übenden die gleiche Struktur anregen und aufrufen. Damit fängt das Unbewusste dann an zu „entsprechen“, zu antworten. Und wenn diese Antwort relativ präzise ausfällt und im selben Moment auftritt wie das „Durchrieseln“ hat diese Antwort wissenschaftliche Beweiskraft, zumindest ist sie „praktisch logisch“. Sie ist keine einfach mystische oder mythische Erfahrung mehr. Sie ist so konkret und definitiv wie der „Ich bin, der Ich bin“ früher zu Moses gesprochen hat: überzeugend und  tatsächlich. Ein Strahlt / Spricht hat eine gelungene Aussage gemacht, die mit einer Erhellung, Katharsis (Befreiung) einhergegangen ist. Was kann man mehr verlangen.
Der französische Psychoanalytiker D. Anzieu hat versucht den Schauer des „Durchrieselns“ mit seinem Begriff des „Haut-Ichs“ zu ergründen. Mit Haut im eigentlichen Sinne hat dieses Haut-Ich nicht so viel zu tun, es handelt sich vielleicht eher um eine „Ich-Haut“, eine rein imaginär-symbolische Haut wie ich es mit dem Getast und der Hautlust schon beschrieben habe. Es geht vielleicht auch eher um eine semipermeable Membran, ja vielleicht gar nur um einen Blick, der manches zum Ich hin durchlässt und anderes, Unbeliebtes, ausblendet. Anzieu legt zumindest kein Konzept vor, wie man mit diesem „Haut-Ich“ operieren könnte. Er kann nur auf die klassische Psychoanalyse zurückgreifen und hat kein für sein Konzept eigentlich viel besser geeignetes psychosomatisches Verfahren zur Hand. Er kritisiert zwar etwas das Freud´sche Berührungsverbot in der Therapie, also diese strikte Vermeidung einer Begegnung von „Haut-zu-Haut“. Aber immerhin begrüßen sich Analytiker und Patient durch ein Händegeben und viele Therapeuten legen schon mal kurz ihre Hand auf den Unterarm oder die Schulter ihrer Klienten.
Doch muss man zugeben, dass es eine echte „Haut-zu-Haut“ Begegnung wohl niergendwo gibt außer beim  Säugling und seiner Mutter. Dort hat der ständige Hautkontakt (Kind auf der Rückenhaut der Mutter) Vorteile für die psychoneurologische Entwicklung des Kindes. Natürlich kommt nicht die volle zwischenmenschliche Kommunikation zur Geltung. In der Sexualität ist die Begegnung zwar von einer genitalen Berührung dominiert, auch wenn alles Mögliche sonst noch in einer derartigen Beziehung passiert und dazugehört. Aber auch hier fehlt eben das volle Sprechen.  Auch die Früh-menschen haben ihre „Haut-zu-Haut“ Kommunikation nicht uferlos und zu alles Zwecken und Enden betreiben können. Sie waren recht robust und sind wohl auch mal schnell aggressiv geworden oder haben ihre „Haut-zu-Haut“ Begegnung mit sehr opulenten Mahlzeiten verbunden, die also eine Identifikation (Haut-zu-Haut) mit einer Projektion (intensiver Fleisch = Hautkonsum) verbunden hat. Die reine Hautlust, das pure Getast hat noch niemand so verwirklicht, dass man davon etwas sagen und schreiben könnte.  
Auch die Sadomasochisten nicht, obwohl sich bei ihnen alles um die Haut dreht, die als Angriffsfläche dient oder deren Martern genossen werden. Sie haben so gesehen intensivste Begegnung von Haut-zu-Haut, doch schieben sie ein Werkzeug dazwischen. Die Peitsche ist ein materialisiertes Symbol des Lust-Begehrens ( Lacan nennt sie den künstlich materialisierten „Phallus“), als das sie auch dann wirkt, wenn sie nur zwischen den beiden Protagonisten auf dem Tisch liegt. Allein ihre sexual-aggressiv aufgeladene Gegenwart vermag die Haut schon zu durchschaudern, sie „durchrieseln“ zu lassen. Man muss dies offen so sagen, denn auch die Angstlust ist ein Gruseln und Durchwuseln genauso wie das  den Rücken Hinunterlaufende bei der Musik. So soll übrigens der Anfang der 3. Symphonie von Brahms mit dem sich weiter und weiter öffnenden Bläserakkord so ein „Durchrieseln“, oder Chill-out-Erfahrung auslösen,  die sich als solche also nicht von denen anderer Ursachen unterscheidet. Da liegt ihre Begrenzung.
Deswegen habe ich in meinem eingangs erwähnten Verfahren der Analytischen Psychokatharsis den Schwerpunkt nicht nur auf die befreiende, „durchrieselnde“ Katharsis gelegt, sondern auch auf das Analytische, das sprachlich Durchdachte. Denn beides ist wichtig. Wir könnten sonst „durchrieselungs-süchtig“ werden und bleiben.