Voyeur und Exhibitionist

Die Kluft, die Spaltung, der Schnitt – das psychoanalytische Menschenbild
Für den Psychoanalytiker ist der Mensch nicht ganz. Entweder er ver-drängt etwas und ist sich daher selbst nur Halbheit, Hälfte. Oder er ist gleich sichtbar gespalten, und er und die anderen müssen sich dieses Leiden teilen, denn jeder bekommt es ja mit ohne zu wissen, was wirklich los ist. Oder es handelt sich um andere Formen seelischer Abwehr und Zerrissenheit, so dass der Schnitt sich durch mehrere Bereiche zieht. Lacan hat in seinem VI. Seminar  anhand des Exhibitionisten und Voyeurs sehr anschaulich zeigen können, wie man die Kluft verstehen kann.


Der Voyeur will nicht nur einfach eine nackte Frau durch das Schlüsselloch oder den Vorhangschlitz betrachten. Auf was sein Begehren abzielt ist vielmehr eine Geste, eine Bewegung oder sonst ein Zeichen dieser Frau, das er als eine auf ihn abzielende Erregung deuten kann. Schließlich weiß die Frau ja nicht, dass sie beobachtet wird und so streicht sie vielleicht mit der Hand über ihre Lenden oder wirft den Morgenmantel mit einer lässigen Bewegung von sich, die dem Betrachter als lasziv erscheinen mag. Wüsste sie, dass ihr ein Fremder zusieht, würde sie dies vielleicht nicht so tun. Der Voyeur lauert also auf dieses scheinbare erotische Arrangement, zu dem ja nur er eingeladen ist und von dem niemand sonst weiß. Es sieht so aus, als gäbe es eine geheime Absprache, die durch Ahnungslosigkeit und Blick, durch Neugier und scheinbares Entgegenkommen Erfüllung findet. Was für eine Stimulation, was für eine erotische Spannung! Selbstverständlich bemerkt der Voyeur die Kluft nicht, die ihn von einer wirklichen erotischen Handlung trennt.
Denn er kann ja nun nicht hinter dem Vorhang hervorspringen oder an die Tür pochen durch deren Schlüsselloch er gestarrt hat und rufen: „Geliebte, da bin ich!“ Er muss auf die nächsten Gesten warten und auf die nächsten Abende, auf die nächsten Gelegenheiten und scheinbar verstohlenen Regungen. Er wird vielleicht einen Köder auslegen, durch den die Frau gezwungen ist noch weitere ihr selbst ganz natürliche alltägliche Handlungen zu tun, die nur der stille, versteckte und listige Beobachter als frivol deuten kann. Er wird in alle Ewigkeit Voyeur bleiben, weil ein irreales Schweigen, ein phantasmatisches Schauspiel ihn erotisiert, zu dem er notfalls ja mas-turbieren kann, wenn sonst nichts hilft. Kein Gespräch kann diese Kluft überbrücken und keine Vernunft sie auslöschen. Denn was sollte man dem Voyeur anbieten? Pornovideos helfen ja nicht das Arrangement so zu gestalten, als sei es echt. Und auch die Chat-Verbindung über den Skype-Kontakt kann nichts verbessern, denn hier sind ja alle Gesten bewusst, gekünstelt und gemacht. Wichtig ist ja, dass dies alles in einem virtuellen Raum geschieht, der durch einen tatsächlichen Raum gestützt ist und von heißer Luft/Lust erfüllt ist.
Dem Exhibitionisten ergeht es nicht anders. Noch Freud hat gemeint, dass Voyeurismus und Exhibitionismus gegenläufige Perversionen sind: der eine zeigt, der andere sieht. Doch in Wirklichkeit – nämlich was die Kluft und die Spaltung angeht – sind sie bei gleich. Auch der Exhibitionist gestaltet ein virtuelles Szenario, das reale Folgen hat. Denn auf die Letzteren hat er es abgesehen. Er will nicht, dass man sieht wie potent er ist und dass die jungen Frauen davor erschrecken, weil sie meinen den Teufel zu sehen. Auch er will, dass sie eine Geste machen, einen Schrei von sich geben, was zeigen und danach klingen soll, dass die Opfer im Insgeheimen ebenfalls erregt sind. Dass sie durch ihre heftige Abwehrreaktion ihr eigentliches, wenn auch nur halb deutliches Einvernehmen zeigen. Und tatsächlich, die Frauen sind nicht auf der Höhe ihrer selbst. Was immer sie tun, es ist zu heftig oder zeigt zu sichtbar Betroffenheit. Warum nicht schnell das Handy zücken, die Polizei rufen und dem Kerl im Abstand hinterhergehen, bis er gefasst ist? Wenn ein Messer zur Hand ist damit fuchteln und rufen: „Ich schneid´s dir ab“!Es hat noch keine gemacht, sie sind vom Überraschungsmoment zu verstört. Und genau diese Verstörtheit zeigt dem Exhibitionisten an, dass sie Komplizinnen sind in der deftigsten Erotik.
Niemand sieht die Kluft. Niemals wird hier Liebe im Spiel sein oder wahrer Sex. Es wird keine gelungenen Erosworte geben, keinen Austausch von Emotionalität und Wahrheit. Im Gegenteil, die Spaltung wird größer und größer werden, denn der Exhibitionist ist von der Harmlosigkeit seines Spaßes total überzeugt. Wie der Voyeur glaubt er ja nicht wirklich Kriminelles zu tun, keinen physischen Schaden anzurichten. Er weiß nicht, dass die Kluft der eigentliche Schaden und die eigentliche Dummheit ist. Er weiß nicht einmal, dass unbewusst Aggressives in seiner Leidenschaft mitspielt.
Doch Spaltung und Kluft gibt es auch sonst überall. Aller Anfang des Menschen ist von der Bildung einer primär-primitiven Identität bestimmt, also durch das blitzartige Auftauchen des  Bildes des anderen, d. h. jedoch des anderen von seinesgleichen. Eines Bildes „bin´s ich oder der andere“, eines „Ein-Bild-ungs“-Vorgangs, eines „Blitz des objektartigen anderen, der die Kluft öffnet hin zu einem anderen Begehren als dem seinen“ (Lacan, J., Seminaire VI, ed. Seuil (2013) S. 500). Das soll heißen, dass im identitätsbildenden Vorgang das erste ichartige Gebilde nur ein Es Strahlt ist, von dem eingenommen der andere und ich nicht zu unterscheiden sind, ich mir jedoch meine eigene dabei auftretende Schaulust, Blitzlust, Strahltlust nicht nehmen lasse. Mein erstes Ich ist ein Phantasma, ein „imaginäres Objekt“, das eine Kluft zurücklässt, die der Ursprung der Aggression sein wird. Nicht ein Aggressionstrieb – wie Freud noch meinte – steht am Anfang des Lebens dem Eros-Lebenstrieb gegenüber, sondern die ersten Identifizierungsmodi schleppen ihre Schatten in aggressiven Formen mit sich. Leidenschaft, Eros und die Phantasmen der Liebe werden immer von diesem Schatten verfolgt werden.
Trotzdem kann man auf das Strahlt nicht verzichten, man muss ihm nur ein Spricht gegenüber und zur Seite stellen. Das haben ja Voyeur und Exhibitionist nicht getan und auch als Kinder haben wir dies noch nicht gekonnt. Dadurch dass wir der Blitzzlust ein Sprechbegehren zuordnen, haben wir die Möglichkeit, den aggressiven Eros  unter Kontrolle zu halten und die Kluft nicht aus den Augen zu verlieren. Sie ist, meint Lacan, eine „suspendierte, stillstehende Zeit“, eine Zeit, die uns verloren geht und woanders nicht mehr zur Verfügung steht. Wir müssen sie ständig mit neuen phantasmatischen Gedanken füllen, anstatt dass wir das Gespräch, den dialektischen Austausch, die Wissenschaft vom Wort  in die Zeit bringen. Die Wissenschaft vom Wort ist nicht einfach nur Linguistik oder Poetik. Sie muss schon so etwas wie eine Psychoanalyse sein, wozu ich eine neue Form dieser Wissenschaft entwickelt habe. Ich bin dabei von der Spaltung als grundsätzlicher ausgegangen, von einem primären Strahlt und Spricht, die sich anfänglich wie zwei autonome Wesenheiten gegenüber- aber eben auch zusammenstehen. Sie sind ein Knoten wie sie uns die moderne Nicht-Euklidische Geometrie zeigt, und in den eine Schreibung eingewickelt ist, aus der man das schöpft, mit dem man sein eigenes Wort machen kann.
Dieser Knoten, den Lacan auch die Vater-Metapher nennt ist ein Symptom, Saint-Homme, Sin-thome wie Lacan das Wortspiel weitertreibt, um jeden herauszufordern, sein Rätsel auf sich zu nehmen. Auf dieser Webseite habe ich das Verfahren der Analytischen Psychokatharsis angeboten, es zu studieren oder auch versuchsweise zu praktizieren,  denn es ist im Moment meines Erachtens der einfachste Versuch die sonst zerinnende Zeit mit der Wissenschaft vom Wort zu füllen und die sonst unbewusst bleibende Spaltung zu überwinden.