Mathematik des Unbewussten

Mathematik und Unbewusstes
„Die Mathematik ist die Wissenschaft vom  Unendlichen“, sagte der Mathematiker H. Weyl. „Das Unendliche selbst ist keine Zahl. Es ist deren Hintergrund, ohne den das Zählen selbst undenkbar wäre“, schreibt R. Taschner, ebenfalls Mathematiker.  Trotz dieser Aussagen ist das Zählen bis heute noch äußerst problematisch geblieben. Die Sache hat damit begonnen, dass man von einem „abzählbaren“ und einem „überabzählbaren“ Unendlichen gesprochen hat, wobei man irgendwie dann auch an ein „nicht abzählbares“ Unendliches denkt, das für den Mathematiker freilich ein Horror wäre, denn dann hätte ja Zählen keinen Sinn mehr. Immerhin, eine Wissenschaft vom Unendlichen ist eine konkrete Aussage und eine gute Definition. Und auch, dass das Unendliche selbst keine Zahl ist, klingt logisch. „Das Unendliche ist ein Grenzbegriff, der sich dem Zugriff durch das Denken ewig entzieht“ (Taschner, R., Die Zahl, die aus der Kälte kam, Hanser (2013) S. 210).

Mathematiker wie G. Cantor haben dennoch mit Zahlen (Aleph 0 und 1) versucht, das Unendliche rechnerisch zu erfassen (Ob es ihm gelungen ist, ist schwer zu sagen. Eine Stellungnahme lässt sich am besten vermittels des Buches zu Cantors Arbeit von D. F. Wallace „Die Entdeckung des Unendlichen“ herauskristallisieren. Wallace wurde eigentlich durch sein Kultbuch „Unendlicher Spaß“ im Jargon von Außenseitermilieus berühmt. Er war jedoch primär Mathematiker und es ist ganz ersichtlich, dass  er in dem oben zitierten Buch versuchte, Cantors Theorie unendlicher Mengen in seiner belletristischen Underdog-Sprache darzustellen. Dies ist ihm jedoch nicht gelungen, es wurde wieder vorwiegend Mathematik für Mathematiker. Ich denke, dass Wallace sich in Literarisches und Mathematisches als faszinierende strukturelle Elemente verstrickte und deswegen schwer depressiv war und durch Suizid endete. Auch Cantor war schwer gemütskrank).
 
Der bekannte Mathematiker K. Gödel ist wohl mit aus diesen Gründen, nämlich der Schwierigkeit des Endlichen und Unendlichen mit Zahlen und dem Zählen beizukommen, ebenso gescheitert. Er muss wohl auch eine Persönlichkeitsstörung gehabt haben, denn er wurde so paranoisch, dass er wegen eines Vergiftungswahns durch Verhungern starb. Vorher hatte er jedoch großen Erfolg mit seinem Unvollstädigkeitssatz, dass in jedem „logisch widerspruchsfreien System“, das die Arithmetik der Zahlen in sich beherbergt, Sätze existieren, „von denen prinzipiell nicht entschieden werden kann, ob sie wahr sind oder nicht.“ Grundsätzlich hieß dies, dass die gesamte Mathematik nur von einem Punkt außerhalb ihrer selbst beurteilt werden kann, unser Universum also nur von einem Paralleluniversum aus eingeschätzt werden und berechnet werden kann. Jeder Schritt – und dies macht Gödels Krankheit auch irgendwie sichtbar – wird eigentlich von außer her mitbestimmt, so dass man nie sicher sein kann, wer und wo man ist.
Nachdem die Mathematiker sich von dem Schock dieses Unvollständigkeits- bzw. Unentscheidbarkeitssatzes etwas erholt hatten, formulierten sie als Ausweg ungefähr Folgendes: es gibt unendlich viele Mathematiken, die jeweils nur nach den in ihnen geltenden Regeln (Axiomen) für sie selber bewiesen wahr sind. Die vom Unendlichen her in der Endlichkeit zu fixierende Mathematik, die als eine solche für alle gelten könnte, muss noch gefunden werden, und eben dies macht den Reiz dieser Wissenschaft aus. Denn schließlich geht es ja in anderen Wissenschaften auch nicht anders zu. Keine hat die ultima ratio aller Universalien bei sich zur Hand. Trotzdem kann man sagen: als Wissenschaft gilt nur, was sich an den mathematischen Beweis zumindest anlehnt, in ihn einbinden lässt und somit von den Mathematikern wenigstens toleriert und akzeptiert ist und deren Segen bekommen kann, wenn auch nicht arithmetisch bewiesen und mathematisch voll anerkannt. In diesem Sinne hätte D. F. Wallace ein anerkannter mathematischer Literat sein können.
Dies haben ihm vielleicht die Psychoanalytiker voraus, vor allem Lacan mit seiner Übersetzung der Freud´schen analogen Wissenschaft ins digitale Zeitalter. Für Lacan beginnt das Unbewusste mit der leeren Menge, was ungefähr der Null entspricht. Wenn diese leere Menge – die man auch das Freud´sche Urverdrängte nennen kann – das einzige Element einer anderen Menge ist, hat man die Eins, also das Unbewusste samt seinem Es, Überich und Ich-Idealen, samt seinen Verdrängungen und Verknotungen, also all das Endliche, das dem Unendlichen der Null und der leeren Menge entgegensteht. Denn das Unendliche ist nicht unbedingt das unendlich Viele, sondern auch das unendlich Wenige. Eben, das ist es ja, was alle Wissenschaften eint, dass sie eigentlich Nichts sind, immer nur noch am Anfang stehen und doch in einer Fülle existieren, die immer Neues zu Tage fördern kann. So  repräsentiert die Eins, die z. B. der Analytiker ist, eine Null für die andere Eins, die der Patient ist und umgekehrt. Zwei Einsen stehen sich gegenüber, sind aber durch die Notation des Unbewussten Nullen füreinander, es sei denn, sie schaffen es, durch eine behutsamst begonnene Kommunikation, durch ein vorsichtigst mit Authentizität und Ernsthaftigkeit gestaltetes Gespräch diesen Null-Eins-Abstand eine wirkliche Zahl zu geben. Kurz etwas, womit man wirklich zählen kann.
So kann man von der Psychoanalyse her gesehen sagen, man muss den Mathematikern wie den psychisch Kranken ihre Widerstände lassen, d. h. zumindest die, die man nicht auflösen kann. Nur so kann sich ein wahres Gespräch entwickeln, auch wenn in ihm das Unendliche eines nicht letztlich abschließbaren Gesprächs lauert. Auch S. Freud hatte ja von der endlichen und unendlichen Analyse gesprochen, denen sich der Patient oder Proband unterzieht. Solange dieser noch etwas zu seinem Psychoanalytiker zu sagen hat, ist die Analyse nämlich noch nicht völlig beendet, und so stellt sich eben auch bei der Psychoanalyse die Frage, wie man mit dem Wesen des Endlichen und Unendlichen umgeht. In der alltäglichen Praxis sieht dies meist so aus, dass sich Analytiker und Patient mehr oder weniger kompromissartig auf ein Ende einigen und analytische Psychotherapien meist nach 160 bis 240 Sitzungsstunden enden. Vom Unendlichen ist also hier keine Rede. Dennoch ist es erlaubt, rein theoretisch von der unendlichen Analyse zu sprechen und wirkt das Unendliche ohnehin stets in die Endlichkeit von uns Menschen hinein.
Die leere Menge, die den Anfang macht, ist nichts anderes als die Apodiktik des Herrn, des Potentaten, der den Kindern lauthals verbietet, auf dem Rassen Fußball zu spielen und man das Gefühl hat, er tut dies nur, weil er selbst gerne herumtoben würde. Er will vielleicht nicht Fußball spielen, aber sich austoben würde er schon gerne. Damit wird sein Sprechen, sein Schimpfen unsinnig, aber er verdrängt damit auch seine Lust, den Spaß sich auszuleben. So bleibt die Menge leer. Es geschieht viel, es entleert aber das eigentliche Geschehen. Damit verbleibt das Ganze auf unendliche Weise im Endlichen. So ist auch die Psychoanalyse des Sexuellen zu verstehen. Das Verbot täuscht und verhindert das Genießen, gleichzeitig erzeugt es aber das Begehren, es zu übertreten. Die herkömmliche Mathematik ist keine sinnlose Wis-senschaft, auch wenn keine ihrer Handlungen auf einen konkreten Sinn bezogen sind. Deswegen verführt sie auch so leicht zu Gemüts- und Geisteskrankheiten.
Dennoch schreibe ich diese Zeilen, weil ich glaube in dem von mir entwickelten Verfahren der Analytischen Psychokatharsis einen besseren Ausweg aus der Misere des Endlichen / Unendlichen gefunden zu haben. Ich könnte dieses Verfahren auch eine Mathematik des Unbewussten nennen wie es auch J. Lacan schon von seiner „praktischen Logik“ (wie er seine Psychoanalyse nannte) her getan hat. Er hat gesagt, dass die imaginäre Zahl (Wurzel aus minus Eins) uns Nicht-Mathematikern irreal vorkommt. Der Physik-Mathematiker  A. Sokal hat deswegen gemeint, Lacan verwechsle die imaginären mit den irrealen Zahlen (Sokal, A., Eleganter Unsinn, C. H. Beck (1999). Damit ist er selbst dem Unsinn zum Opfer gefallen. Was Lacan sagte, betraf den Gedanken, dass die Mathematiker zumindest gelegentlich in Psychoanalyse gehen sollten. Denn dann würden sie die Zusammenhänge vom Endlichen/Unendlichen besser verstehen. Es liegt natürlich am Subjekt, das die Mathematiker wie alle anderen Wissen-schaftler auch, zu verdrängen versuchen.
Die Psychoanalytikerin A.Bitsch erklärt den Zusammenhang zwischen der Null und der Eins Lacan folgend mittels der symbolischen Ordnung, also dessen, was wie eine Sprache aufgebaut ist (Bitsch, A., Always crashing in the same car, Lacans Mathematik des Unbewussten, VDG, 2001). Diese Null/Eins-Mathematik ist „der in symbolischer Notation vorliegende Abglanz einer primordialen Erfahrung des Reellen [also der ersten Versuche sich mit Zahlen auszudrücken] in Form von Mamas Körper, Mamas organischem Meer - schrankenlos, scheußlich und zugleich saughaftes Ding, das alle Zahlen an sich zieht.“ Weiter schreibt sie, dass das menschliche Subjekt dadurch nicht nur zählbar wird, es wird auch erzählbar – die Tätowierungen seines leichenhaften Körpers werden zu Geboten seines sozialen Lebens. Um sein Begehren immer wieder in diesen Geboten chiffrieren zu können, muss der Mensch „sich iterativ dem Akt der symbolischen Tötung unterwerfen [der Eins], um dann das Zeugnis der ersten Tötung [der Null] . . . zu ope-rationalisieren“, also verkrümmt, verdrängt und verschroben in sich zu integrieren.
Die ganzen mengentheoretischen Begründungen bezogen auf das menschliche Subjekt – und für was sollten sie sonst sinnvoll sein? - , angefangen mit Cantor bis zu Zermelo, Peano und von Neumann erweisen sich – so A. Bitsch – als völlig hoffnungslos. Man muss sich selbst, sich als Subjekt des Unbewussten ins Zentrum stellen, nur so lässt sich die Grundrechnung des menschlichen Seins lösen. Mit reiner Mathematik allein geht das nicht. Die Analytische Psychokatharsis ist deswegen eine Mathematik des Unbewussten, weil sie wie die Psy-choanalyse es jedem selbst überlässt – und zwar nur durch das minimalste Null/Eins – Konzept, das als ideale Führung gelten kann – zu sich selbst, seiner Erkenntnis und wahren Lebensweise zu kommen. Dazu muss man nur verstehen, dass sich auch Buchstaben wie Zahlen -  und sogar ganz im Sinne einer mathematischen Ordnung - verwenden lassen. Buchstabenfolgen, die schon Bedeutung, ja Sinn mit sich tragen, können durch Schnittstellen (Null/Eins) in ihrem Gefüge ganz andere Bedeutungen und Sinn bekommen und so eine für das menschliche Subjekt viel verbindlichere Art des Zähl-Erzählens ermöglichen.
Eine ausführliche Erklärung der Methodik der Analytischen Psychokatharsis findet sich auf dieser Webseite.