Der tote Vater und die omnipotente Frau

Freuds These vom Unbewussten und der Ödipuskomplex kreisen bekanntlich um die Zentralfigur, die Metapher oder das Symbol des ‚toten Vaters‘. In seinem Buch ‚Totem und Tabu‘ schreibt er, wie man sich die Entstehung der Religion aus psychologischen Gründen vorzustellen hat. Freud erzählt, wie die ursprüngliche Brüderhorde den Vater umbrachte, um in den Besitz der Mutter bzw. der Frauen zu kommen, die das väterliche Alphamännchen in seinem Besitz hat. Später aber holt das Schuldgefühl die jungen Männer wieder ein und sie erhöhen den ‚toten Vater‘ zu einem Gott. Dieser Gott verbietet schließlich eine überschäumende Sexualität und etliche andere Dinge. Ein vergleichbarer Vorgang findet sich in der Ödipusgeschichte. Auch Ödipus tötet unbewusst den Vater, um schließlich genauso unbewusst die Frau zu heiraten, die seine Mutter war. Doch Unwissenheit schützt nicht vor Strafe, und so ereilt ihn auch das Schicksal des reumütig Schuldigen. Ödipus kastriert sich selbst, indem er sich das Augenlicht nimmt und an einen einsamen Ort zurückzieht. Ähnlich – so Freuds These weiterhin – verhalten sich psychisch kranke, neurotische Menschen. Sie verstricken sich in den Kampf zwischen ihren Lebenslüsten und einem der Vaterfigur vergleichbaren Über-Ich, also zwei Teilen ihrer selbst.



Nun könnte man diesem Konzept, das um den toten, kastrierten und doch auch wieder idealisierten Vater  herum angesiedelt ist, auch einmal von der anderen, der weiblichen Seite her betrachten. Als Zentralfigur würde sich hier die ‚reiche, omnipotente Frau‘ eignen, wie sie heute in all den Pop-Ikonen und Performaz- bzw.Show-Managerinnen scheinbar verwirklicht ist. Denn diese Frauen scheinen alles zu haben, aber wenn man genau hinsieht, ist an ihrem allumfassenden Reichtum nichts dran. Die ‚reiche, omnipotente Frau‘ ist in Wirklichkeit noch gar niemanden begegnet. Die Sache verhält sich umgekehrt wie beim ’toten Vater‘, kommt aber im Endeffekt auf das Gleiche heraus.

Der ‚tote Vater‘ entfaltet ja gerade erst in seiner Entrücktheit, in seiner jenseitigen Ferne, seine ganze Macht und Herrlichkeit. Als Lebender hat er nicht viel gegolten, als kastrierter, toter, abstrakter jedoch überlebt er Jahrtausende. Die ‚umfassend reiche Frau‘ dagegen, baut im Hier und Jetzt des Diesseits all ihre verführerische Größe und Mächtigkeit auf, doch sobald sie in die Jahre gekommen ist, ist sie vergessen. Im Moment ihrer Erscheinung lebt sie offensichtlich in erotischer, materieller und seelischer Fülle. Aber nicht nur die neuzeitlichen Sex-Göttinen demonstrieren diese spannende Geschichte, auch in der Antike gibt es zahlreiche Beispiele dafür. So soll es in den matrilinearen Kulturen Mutter-Göttinnen gegeben haben, die männliche Liebhaber um sich scharten, um sie nach kurzer Zeit wieder zu opfern. Kleopatra ist das beste Beispiel. Sie pokerte mit ihrem Reichtum und ihren Reizen, doch als sie ihre Geliebten verloren hatte (Cäsar, Antonius und andere), wollte  Kaiser Augustus seine  Soldaten von ihrem Geld bezahlen und sie nur noch als Siegestrophäe durch Rom fahren, wo sie das gleiche Schicksal erfahren sollte wie ihre Schwester Arsinoe schon vorher, nämlich den Tod.

In Wirklichkeit hat also die ‚omnipotente Frau‘ keinen Reichtum und die ‚reiche Frau‘ keine Potenz. Alles ist nur eine Illusion sich gegenseitig aufschaukelnder Größen und Strebungen wie es auch für den überhöhten und gar nicht mehr lebenden Vater gilt. ‚D i e‘  Frau gibt es nicht, meinte Lacan daher, ‚D i e‘ Frau mit dem universalierenden Artikel ‚D i e‘. Und so gibt es auch nicht ‚d e n‘ Vater als solchen, den absoluten Vater, d. h. es gibt ihn eben nur in Abstraktion, sowie ‚d i e‘ Frau nur für den psychotisch oder perversen Mann gibt. Für die übrigen Männer gibt es sie als Luft- und nicht als Lust-Nummer.

Es existiert noch ein anderes Rätselwort Lacans zu diesem Thema, dessen Lösung jedoch auch zum gleichen Ergebnis kommt. So definierte Lacan einmal: ‚Gott ist die zu alle gemachte Frau‘. Lacan geht hier von der Freudschen Libido aus, mit der man im Seelen- und Sexualleben auch Mathematik betreiben kann. Schließlich war es ja früher nicht möglich gewesen, das Begehren zu messen. Anhand der Libido, die Freud der Aktivität und mehr dem Männlichen zuordnete, wurde jedoch die Libido als sogenannte ‚phallische Einheit‘ zählbar. Mit ‚Phallus‘ ist nicht so sehr etwas Reales, sondern etwas Symbolisches gemeint, nämlich einer gewisse sexuelle Protzigkeit, ein Mächtigkeitsgetue, ein Symbol für das Begehren schlechthin. Als solches hat der ‚Phallus‘ nämlich auch ein Ver-Phalls-Datunm, er schwankt so ein bisschen zwischen dem ‚kastrierten Vater‘ und der – sagen wir einmal als weiblich unterstellten - ‚Omnipotenz‘ herum. Doch das Weibliche ist nicht wirklich omnipotent. Es weist, nunmehr ja zählbar, mehr Potenzen auf als das Männliche, aber nicht alle. Unterstellt man ihr alle, macht man sie zu Gott, zu einem übernatürlichen Wesen.

In diesem Zusammenhang kann ich die Geschichte einer psychoanalytischen Behandlung erzählen. Der sechzigjährige Mann war in seinem Leben erfolgreich und auch mit seinem Sexualleben einigermaßen zufrieden gewesen. Doch mit beginnendem Alter und einem ebenso beginnenden Rückzug seiner Frau im Rahmen der Sexualität dachte er öfters über Selbstbefriedigung nach. Er lehnte diese nicht grundsätzlich ab, fand sie aber vor allem dann, wenn sie zum häufigen und notwendigen Ritual würde, äußerst negativ. Er erzählte mir von Jean Genet, der homosexuell und gewiss nicht zimperlich in sexuellen Dingen war, aber wenn er einmal masturbiert hatte, machte er sich danach schreckliche Vorwürfe und quälte sich mit Minderwertigkeitsgedanken. Wie so eigentlich? Ein Kerl wie er, der auch Drogen wie Nembutal nicht verabscheute und sagte, „ein Mord an einem Freund muss zudem durch einen raub geheiligt und gekrönt werden“. Es genügt nicht, dass man ihm umbringt. Die wahre Liebe zu ihm zeigt sich, dass man ihn auch noch bestiehlt. Genet beobachtete manchmal Menschen im Zug, die er vorher bestohlen hatte, und ergötzte sich daran, wie sie über den Verlust verzweifelt waren. So einer kann doch nicht Abscheu vor Selbstbefriedigung haben.
Mein Patient klärte mich jedoch auf und meinte, eine sadomasochistische Liebestheorie oder eine rein literarische Verarbeitung übelster Perversionen sind unproblematisch. Man kann sie öffentlich zugeben so wie auch Diogenes, der in Athen in einem Fass hauste, öffentlich masturbierte. Denn Diogenes tat dies nur gelegentlich um politisch zu provozieren. Das konnte er vor sich und anderen akzeptieren. Aber ein Dauer-Masturbierer zu sein, will man nicht öffentlich machen. Auch ein Heterosexueller outet sich nicht darüber, dass er ständig eine andere Frau braucht. Jede Sexualität hat eine Schattenseite, aber die will man nicht zeigen. Ich fing an, meinem Patienten recht zu geben und erinnerte daran, dass kein Homosexueller outet sich damit outet, dass er nach dem Motto lebt: Wer verliert, gewinnt (eine Aussage Lacans). Er verliert ein Stück Männlichkeit um auch wie eine Frau sein zu können, gewinnt jedoch gerade dadurch. Die eigene sexuelle Orientierung kommunizieren zu könne, ist kein Problem, aber deren Schattenseite kann man unmöglich vertreten. Die ist nicht kommunizierbar. Und so erfand mein Patient eine Methode, die Masturbation weitgehendst zu umgehen.
Er stimulierte sich zwar sexuell, verhinderte durch alle möglichen Techniken gleichzeitig, dass es zur Ejakulation kam. Er quetschte und kniff sich in den Penis, fügte sich Schmerzen zu und erklärte mir, dass dies alles ein Opferritual für die „Weisse Göttin“ sei, die ihm das alles auferlege. Angeregt durch den Mythenforscher Ranke-Graves, der eine trinitarische Mädchen-Frauen-Mutter-Gottheit aus früheren Kulturen beschrieb, fühle er sich so vor missbräuchlicher Sexualität gefeit und erhalte so eine Befriedigungserlebnis. Wer im Internet nachforscht, wird unter dem Begriff „Weisse Göttin“ über Vaginalkulte verschiedenster informiert werden. Man will den Freudschen Begriff vom ‚Penisneid‘ dem einer weiblichen Omnipotenz entgegen setzzen. Sicher nicht zu Unrecht, denn der Freudsche Begriff verführt zu zahlreichen Missverständnissen. Mit Freuds Penisneid ist eigentlich ein weiblicher Neid auf eine  spezifisch männliche Dynamik gemeint, die gerade darin besteht, der leicht überbordenden männlichen Sexualität männliche Bewältigungsformen gegenüber zu stellen. Der Mann muss die Probleme der Welt bekämpfen, er muss väterliche Autorität entwickeln und anders mehr, was gerade nichts mit seinem Penis zu tun hat. Umgekehrt ist der männliche Neid nicht der – wie einige Witzbolde behauptet haben -  auf die Gebärfähigkeit der Frauen, sondern mehr auf die Tatsache gerichtet, dass die Frauen die Libido in sich zum Kreis schließen können und so stets mehr bei sich gefestigt sind. Ob meinem Patienten durch seine Methode wirklich geholfen werden konnte, vermochte ich nicht mehr gänzlich zu beurteilen. Denn er verließ nach ca. achtzig Stunden die Therapie. Solange er nicht vollkommen in dem Göttinnen-Kult aufging – so dachte ich mir – ist sicher nichts allzu Pathologisches zu erkennen. Erst eine Vereinnahmung durch sektiererisches Verhalten wie es beispielsweise bei Otto Mühl und seinen Blutorgien der Fall war, wird problematisch. Ich traf den Patienten später einmal wieder, wo er mir bestätigte, dass alle ok sei.
Es ist ja so, dass auch Freud schon den Kult um den ‚toten Vater‘ gebrandmarkt hatte. Er sollte als Theorie gelten und funktionieren, und so wird es wohl auch mit den Kulten um die ‚omnipotente Frau‘ sein. Wichtiger scheint es mir, einen Kult um die Metaphern zu machen, um die Begriffe und die Namen, die in der Wissenschaft kursieren, um zur letzten Wahrheit des Realen zu kommen.