Psychosomatik neu

Nachdem ich fünfzig Jahre als Arzt tätig war und in dieser Zeit noch eine psychoanalytische Ausbildung und  – übertriebener Weise – mich auch mit Yoga und Meditation beschäftigt habe, schreibe ich jetzt ein Buch über das Resümee dieser Tätigkeiten. Es besteht in einigen Essays und einem psychosomatischen Therapieverfahren, das leicht anzuwenden ist, aber auch eine intellektuelle Mitarbeit erfordert. Denn heutzutage kann man nicht mehr eine Methodik anbieten, die nicht wissenschaftlich gut begründet ist, aber mit der auch der interessierte Laie gut zurande kommt. So ein Vorgehen kann man nicht als populärwissenschaftlich einstufen, bei dem ein profunder Wissenschaftstext auf ein sehr vereinfachtes Niveau heruntergestuft ist. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: ein wissenschaftlicher Text wird von vornherein auf einer laientheoretischen Stufe erstellt.

Trotzdem bin ich mit meinem Bemühen, nachdem ich bereits vorher mehr als zwanzig Bücher zu dieser Thematik veröffentlicht und viele Seminare abgehalten habe, nicht glücklich. Es mangelte nicht an Lesern, aber bisher fand sich kaum einer bereit, das psychosomatische Verfahren auch anzuwenden, obwohl es doch – wie gerade erwähnt – leicht zu erlernen und auszuüben ist. Einerseits liegt es wohl daran, dass man viel Zeit und Ruhe aufwenden muss, um so tief in sich hineinzugehen, wie notwendig ist, um nicht nur ein kurzfristiges Resultat zu erzielen, sondern – und das ist das Wesentliche an meiner Methode – auch eine direkte und reale Antwort auf die entscheidenden Fragen zu bekommen. Mein Verfahren Spricht nämlich. 

Ich schreibe dies groß und kursiv, weil es ein besonderes Sprechen ist. Es ist eines auf den tiefsten Stellen des unbewusst Seelischen. Dort gibt es nämlich etwas, das die Struktur von Sprache hat, aber nicht einer üblichen Sprache. Es handelt sich um ein ‚Vorausgesetzt Sprachliches‘, eines also, das noch nicht ganz da ist und doch bereits sogenannte ‚ultrareduzierte Phrasen‘ produzieren kann, wie der Psychoanalytiker J. Lacan dies nennt. Lacan zitiert hierzu eine Geschichte Dostojewskis. Dieser hatte einst in Moskau eine Gruppe völlig betrunkener Studenten beobachtet, die heftigst über universelle, philosophische und kosmologische Fragen diskutierten. Schließlich stieß einer niederschmetternd das Wort „Merde“ aus (ich verwende hier das französische Wort, wie es Lacan bringt, in Wirklichkeit war es natürlich russisch). Dieses vernichtende „Merde“ veranlasste aber einen Zweiten zu einem fragenden „Merde“? worauf jedoch ein Dritter Augen und Hände zum Himmel erhob und ein flehentlich bittendes „Merde“ ausrief. Fast schon ernüchternd stammelte zuletzt ein Vierter bekümmert und fast resignierend nur noch ein „Merde“, „Merde“, „Merde“ . . . vor sich hin.

Kurz: der durch den Alkohol nur noch zur Fäkalsprache fähige und bis zur „ultra-reduzierten Phrase“ des „Merde“ gehende Austausch der Studenten untereinander, hatte dennoch eine gewisse und vielleicht sogar gesteigerte Signifikanz. Die ganze elaborierte Diskussion hatte nichts gebracht, aber Verfluchen, Fragen und Flehen führte letztendlich zum irdisch gebundenen Stammeln über die Universalien, über die Kosmologie und das Wesen der Existenz. Knapp und präzise, zwar mit negativem, aber doch kompakten Ergebnis, fanden die vier Studenten einen eigenartigen aber dennoch intensiven Konsens etwa der Art: wir sind nicht weitergekommen in der Erforschung der letzten Dinge, im Gegenteil; wir sind am Boden zerstört. Aber wir sind uns wenigstens einig, noch nie war unsere Übereinstimmung so stark und präzise.

Die Welt sieht düster aus. Bald sieben Milliarden Menschen, über die allabendlich unschöne, zum Teil sogar grauenhafte Nachristen im Fernsehen zu erfahren sind. Ohne das übliche Altersgejammer muss ich erzählen, wie ich – vielleicht sechs, sieben Jahre alt – in der Vierzigern des letzten Jahrhundert durch die üppigen Blumenwiesen gestreift bin, voll von Glockenblumen, Margariten, Primeln, Habichtskraut, Beinwell, Blutweiderich, Ehrenpreis, Kornblumen, Türkenbund und tausend anderen bunten, pastellfarbenen und malerischen Flecken im hohen Gras. Nichts mehr von dem heute, überall nur noch Löwenzahn und gelegentlich ein paar Disteln. Ruhe war da, keine Hast, alle werkelten irgendwo vor sich hin, die Wege noch staubig und unasphaltiert. Dafür ist heute vieles andere viel, viel besser, mondäner, technisierter und effektvoller.

Doch mein Verfahren schätzt nicht diese Fried- und Heimeligkeit, die Entspannung und Loslösung vom Alltag, auch wenn diese nicht schlecht ist. Es schätzt die gesprochene Antwort, die aus einer persönlichen, individuellen Dialektik kommt. Mit sich selbst als anderem im Gespräch zu sein. Die Andersheit des eigenen Seelischen zu verstehen. Im Alleinsein nicht mehr isoliert, gelangweilt, scheu, voll unbekannter Angst zu sein. Denn die Menschen haben alle Angst, eine diffuse, meist unbemerkte, schleichende, ungute Angst und daraus kann nur ein signifikantes Wort helfen..

Das psychosomatische Verfahren funktioniert so: man wiederholt in Gedanken ein formelartiges Wort wie z. B. das hier aus der lateinischen Sprache im Kreis geschriebene:

Lacan nannte das Unbewusste auch einen ‚linguistischen Kristall‘, und dies wird durch das im Kreis Geschriebene dargestellt und besitzt somit genau die Signifikanz des Unbewussten. Denn im Uhrzeigersinn gelesen, kommt bei verschiedenen Buchstaben angefangen jeweils eine andere Bedeutung heraus, ein Mechanismus, den Freud bekanntlich bei Fehlleistungen und Versprechern herausgearbeitet hat.[1] Eine Überlappung von Buchstaben, von Signifikanten spielt im Drehkreuz des Unbewussten exakt diese Rolle. Aber was hat man davon, wenn man eine derartige Formulierung gedanklich wiederholt?

Davon bekommt man vielleicht die oben erwähnte Entspannung, weil damit alle anderen, alltagslogischen Gedanken ausgeschaltet werden. Das Wesentliche, nämlich dass das Unbewusste Spricht, dass man also mit ihm auch sprechen kann, kommt in einem zweiten Schritt zustande. Denn es ist unvermeidbar, dass man durch das gedankliche Wiederholen einer mehrschichtigen, mehrdeutigen Fomulierung das Bewusste, die Alltagslogik nur vor den Kopf stoßen kann, das Unbewusste aber – ist es doch genau so kristallin-sprachlich aufgebaut – wird dadurch provoziert, etwas Eigenes herauszugeben. Und eben dies muss man auffangen, erfahren, heraushören.

So einfach ist es, und nur wenige fangen damit etwas an. Gewiss habe ich hier das Ganze nur auf einer einzigen Seite erklärt, während in meinen Büchern hunderte von Seiten dazu dienen, das Verfahren zu verstehen. Ich werde es auch hier nochmals darlegen, möchte aber erst noch einmal einer allgemeinen Weltsicht das Wort reden. D. h. ich möchte erklären, warum es sich bei der derzeitigen unerfreulichen Lage der Menschheit rentiert, das psychosomatische Verfahren zu erlernen und anzuwenden. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder man richtet seinen Blich nach vorne, nach außen, in die Geschehnisse der Welt. Oder man geht nach innen, zurück, zu dem Punkt, von dem aus man im Grunde genommen ausgehen muss, um sowohl im Inneren wie im Äußeren erfolgreich zu sein und den Schlüssel in der hand zu haben, der überall sperrt.

Meine Bemerkungen erinnern mich selbst an Herrigels ‚Zen in der Kunst des Bogenschließens‘. Das Spannen des Bogens bedeutet ein tiefes Nach-Innen-Gehen soweit wie die Kraft reicht. Der Flug des Pfeils und dessen Treffer zeigen an, dass man damit auch das äußere Ziel erreichen kann und dass dies eben nur so gelingt, wenn man vorher tief zurückgezogen war. Freilich sind dies alte mystisch-mythische Weisheiten. Herrigel lebte in der Zeit von 1884 bis 1955, also hauptsächlich noch vor der Wende durch den großen Krieg. Ich glaube dass die Mitte des letzten Jahrhunderts eine deutliche Zäsur war. Man darf sich Hitler weder im gut Verrückten noch im schlechten Verbrecherischen als eine wichtige Person vorstellen. Er war eine Figur seiner Zeit, und die Historiker zögern heute nicht, die ganzen Greueltaten als verursacht durch die Millionen von Mitmachern zu erklären. Von ihnen ist keiner nach Innen gegangen und hat der Pfeil abgeschossen.

Aber nach dem Krieg begannen all die Fernweh-Abenteurer und die coolen Insider-Typen wie z. B. der Indienfahrer P. Brunton ein Vorbild für die neue Generation zu werden. Brunton war ein amerikanischer Sinnsucher, der sich anfänglich der griechischen Mythologie und Philosophie zugewandt hatte und später ein ständiger Forschungsreisender  in Sachen erotischer Spiritualität wurde. So landete er zuerst bei den Theosophen, später dann – in den dreißiger Jahren – gelangte er nach Indien zum Maharshi von Tiruvannamalai, wo er das Ziel seiner meditativen und sozialen Anstrengungen fand. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts lebte er noch und seine Bücher – auch beeinflusst vom Buddhismus – waren Bestseller. Auch Shri Aurobindo,  Bruce Chatwin, Jack Kerouac (‘On the Road’) und Allen Ginsberg (als Vertreter der Beatgeneration), W. Burroughs und Hopper mit ihrem ‚easy rider’, Montherlants immer lässige und freiheitsberauschte Figuren wie Costals und Don Celestino, A. Camus und viele andere waren die heldenhaften Antihelden der damaligen Zeit.

Herrigel dagegen, der Vorkriegsbürger, bekannte sich noch zum originären Heldentum. Wie sein  Philosophen-Kollege M. Heidegger war er der NS-Bewegung zugeneigt, in der ‚pro patria mori‘ eine gute Geschichte war. Von solchen Ambitionen sind wir heute weit entfernt. Das Dumme ist nur, ein paar derartiger Leute bräuchten wir heute wieder. Der islamische Terrorismus bedroht uns, und Politiker sagen jetzt, wir müssten unsere Freiheit am Hindukusch und in Nordsyrien verteidigen. Das ist eine blöde Situation. Nunmehr muss man rausgehen und handeln, und für den Weg nach Innen bleibt bald keine Zeit mehr. Die Verhältnisse drehen sich wieder etwas um. Wie B. Erenz in der ZEIT vom 26. 11. 2015 schreibt, wächst das Interesse an deutscher Geschichte enorm wieder an, allerdings nicht mit der Betonung auf Nationales, sondern auf Geschichts- und Erzählungsvielfalt. Auch das also ein Zurück, wenn auch nicht tief nach innen.

Wenn es daran liegen sollte, dass ein Zurück in die Geschichte, in die Literatur und Politik genügt, dann braucht es vielleicht mein Verfahren gar nicht. Umgekehrt: mehr denn je existieren heute psychosomatische Erkrankungen, und dann ist natürlich eine Hilfe oder ein Weg nötig, der genug weit auch nach innen geht. In dem erst kürzlich erschienenen Buch von K. Plab werden die extrem frühen Wurzeln im Leben jedes Einzelnen beschrieben, aus denen solchen Krankheiten entstehen können.[2] Der Autor schreibt darin, dass allem psychosomatischen Erkranken der „tief unbewusste Verlust der (halluzinatorischen) Vorstellung, das (primäre) Objekt[3] sein allgegenwärtig für das Subjekt und stets für immer vorsorgend anwesend“ zugrunde liegt. Wenn die innerfamiliären Beziehungen jedoch einigermaßen gut sind, kann der Betreffende in einer „regressiven Form“, also in noch unreifen affektiven Besetzungen einzelner Organe ein gewisses gesundes Gleichgewicht aufrecht erhalten. Gefährdet, nur halb gesund, sind wir allemal.

Für dieses Gleichgewicht – so verstehe ich den Autor weiter – gibt also einen „Reset“-Mechanismus, mit dem der heutige Mensch, gestresst, übermüdet, gelangweilt und unpässlich sich jeden Tag wieder neu aufbauen muss. Aber auch das Abreagieren als sogenannter ‚Wutbürger‘, in erhöhter Scheidungsbereitschaft, in Alkohol- und Reisesucht – um nur ein paar zu nennen, die üblicherweise nicht so kritisch gesehen werden, aber es für mein Gefühl doch sind – verlangt nach diesem „Reset“-Mechanismus, der solange funktioniert, bis dass der Tod als Erlöser von diesem strapazenreichen Leben kommt. Denn psychosomatisch bedingte Kopfschmerzen, Tinnitus, grüner Star, Stottern, Bluthochdruck, Ekzeme, chronische Darmentzündungen und immunologische Erkrankungen bis hin zu bösartigen Tumoren werden von Plab aufgeführt, die Folgen von falschen sozialen und psychischen Lebensweisen auf der Grundlage der genannten frühen Schädigungen sind.

Doch all dies sind nur ein paar Beispiele und die Wege der unbewussten Störungen beschreibt Plab so vielschichtig und fachsprachlich, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann. Sicherlich empfiehlt der Autor zu Recht, dass hier viel mehr auf die Möglichkeit einer psychoanalytischen Behandlung geachtet werden sollte, mit der man bis in die Frühphasen der affektgeladenen Konflikte vordringen kann, um sie zu lösen. Ich glaube trotzdem, dass das von mir erwähnte Verfahren mit dem ‚linguistischen Kristall‘, mit der gedanklichen Meditation bis hin zu dem Punkt, an dem das Unbewusste in einer direkten Weise kommunikationsfähig wird, noch effektiver und auch leichter zu erlernen ist. Man muss nicht hunderte von Stunden zum Psychoanalytiker gehen, sondern nur hin und wieder, um die Ergebnisse der Übungen zu besprechen, über die ich noch ausreichend berichten werde.

(wird fortgesetzt, Fortsetzung kann vorerst auch im Buch 'inter-hot' gelesen werden)

[1]Man kann mit dem Lesen z. B. beim A anfangen, beim D oder beim V. Jedes Mal kommt ein anderes Wort, ein anderer Satz oder ein anderer Sinnzusammenhang zustande. Ich nenne erst einmal nur drei, es stecken jedoch noch weitere darin, doch drei genügen schon, um das Wesen dieser Formulierung zu erklären.

A  RE  VIDEOR             Ich werde von etwas gesehen

DE  ORARE  VI             Vom Sprechen mit Überzeugungskraft

VIDEO  RARE               Ich nehme ungewöhnlich wahr

 

[2] Plab, K., Psychoanalytische Psychosomatik, V&R (2015)

[3] Darunter ist meist die Mutter zu verstehen.