Das Schicksalslogo des Odysseus

Die Geschichte des Odysseus eignet sich besonders gut um ein anschauliches Bild hinsichtlich des Sinns des Schicksalslogo-Begriffs zu zeichnen. Ich leite den Begriff Schicksalslogo von Freuds Begriff des Triebschicksals ab. Doch dessen Charakter hängt damit zusammen, wie man die Triebe benennt. Von Eros-Lebenstrieb und Todestrieb auszugehen wie Freud dies tat oder den Schau- und Sprechtrieb zugrundelegen wie es bei Lacan zu finden ist, macht einen erheblichen Unterschied. Deswegen nenne ich eine primäre Kombination der Lacanschen Triebe ein Schicksalslogo, an das man fixiert bleiben kann, es aber auch verändern und verbesser kann.Denn auch diese Geschichte wird von Formel- und Pass-Wort durchzogen, von so etwas also wie ich es als akustische Rune oder ‚ultrareduzierten Phrase’ und als das Oszillieren von Blick- und Angeblicktsein bezeichnet habe, die die Wichtigkeit dieser Grundstruktur von Bild- und Wortbezogenem, ‚Strahlt / Spricht‘ zeigen. Bekanntlich war Helena, die Tochter des Tyndareos im mykenischen Zeitalter die schönste und faszinierendste Frau Griechenlands. Auch Odysseus soll – wie viele andere Freier - um sie geworben haben, rechnete sich jedoch selbst keine großen Chancen aus. Klug wie er war, nutzte er jedoch seine Bekanntschaft bei Tyndareos zu einem Deal.

 

Egal wen Helena heiraten würde, es würde stets ein Problem- und Konfliktfall um ihre Faszination herum existieren, und so sollte man alle Freier dazu verdonnern, sich im Notfall dafür einzusetzen, einen derartigen Konflikt zu lösen, riet Odysseus. Im Gegenzug für diesen Rat und dessen Umsetzung in einem gemeinsamen Schwur der Freier, setzte sich Tyndareos bei seinem Bruder Ikarios dafür ein, dass Odysseus dessen Tochter Penelope zur Frau bekam. Auch sie gehörte noch zu den Stars der ersten Riege im damaligen Griechenland.

Dieser Deal, dieser Schwur und dieses Ehegelöbnis mit der Cousine Helenas steht von Anfang an wie ein Schicksalsspruch, wie ein vertraglicher Pakt, eine gewichtige Headline über dem Beginn von Odysseus Leben und seiner Beziehung zu Frauen. Solch ein Spruch ist kein Fluch, lastet aber doch wie eine ernsthafte Verpflichtung, wie ein mahnendes Epigramm, eben ein Schicksalslogo über dem Ganzen. Mythisch drückt der besiegelte Pakt die gleiche Verantwortung und Belastung aus, wie sie Lacan für das Seelenleben auch des modernen Menschen formulierte. Lacan meinte, dass am Anfang der psychischen Entwicklung ein grundsätzlicher Mangel besteht, nicht nur eine Null, sondern sogar eine Minus-Eins, ein beunruhigendes Defizit. Dies hängt mit der schon biologisch zu frühzeitigen Geburt (Neotenie) des Menschen zusammen, aber auch mit dem Gewicht der Sprache, die zwischen Mutter und Kind noch ungleich verteilt ist und so den Mangel an wirklichem Identitätsaustausch charakterisiert.

So schwebt auch über jedem Kindesleben ein derartiges Epigramm, egal ob es aus den Informationen der Gene oder dem unbewussten seelischen Erbe besteht. „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort, sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte“, dichtete schon Goethe. Und was man früher die ‚Erbsünde’ nannte, ist auch nichts anderes als die Verschiebung dieses Epigramms in den religiösen Bereich. Odysseus’ Leben war also mit dem Schicksalsspruch des oben bezeichneten Deals behaftet, dieser Spruch war sein Logo, sein Formel-Wort, und nun musste er sehen, wie er dies in ein geeignetes Pass-Wort verwandeln könnte. Der italienische Schriftsteller A. Moravia hat in diesem Zusammenhang eine psychoanalytische Interpretation – zumindest nannte er es so – von Odysseus und Penelopes Eheleben gegeben und so ebenfalls versucht, das Motto, das Logo von der Beziehung von Odysseus und Penelope zu entschlüsseln. In seinem Buch ‚Die Verachtung’ stellt er eine Parallelität der Beziehung der Hauptprotagonisten des Romans, Ricardo und dessen Frau Emilia, mit der von Odysseus und Penelope dar.

Ricardo soll ein Drehbuch über die beiden antiken Figuren schreiben, endlich, denn bisher hat er im Leben nicht viel erreicht. Doch der deutsche Regisseur, der den Film über Odysseus und Penelope schließlich drehen soll, will eine andere Geschichte als die des Helden Odysseus und seiner bis zum Geht-Nicht-Mehr treuen Frau und behauptet Folgendes: Auch bei Penelopes Verheiratung habe es schon die viele Freier gegeben, die später, nach Odysseus Rückkehr von Troja, eine große Rolle spielten. Penelope sei nach anfänglich positiver Ehe sehr bald schon verärgert gewesen über die Art, wie Odysseus mit diesen verbliebenen Freiern umging. Er ließ sie gewähren, nahm nicht Stellung gegen sie und behandelte sie wachsweich und halbherzig. Er zeigte immer mehr, dass er der Intellektuelle und eigentlich Zivilisierte sei, während Penelope die noch im ursprünglich Affektvollen der geschlossenen griechischen Agrar-Gesellschaft lebende Frau war.

Penelope begann den Intellektuellen, den Arroganten und Zivilisierten in Odysseus zu verachten. Sie selbst als die gefühlvolle und ihrer Cousine Helena nicht nachstehende Frau lehnte Odysseus zunehmend ab.  Schließlich hielt es  Odysseus nicht mehr zu Hause aus. Er nahm daher gerne die Gelegenheit wahr nach Troja in den Krieg zu ziehen. Und nach Beendigung desselben – so der Regisseur in Moravias Buch - habe es keine zehn Jahre lange Irrfahrt gegeben, sondern Odysseus hat die endgültige Rückkehr immer wieder aufgeschoben und sich mit anderen Frauen vergnügt. Er habe sich vielleicht für edel gehalten, sei aber unbewusst immer wieder der ‚ehelichen Abneigung’, die auf seiner Beziehung zu Penelope wie ein Fluch lastete, verfallen. Schließlich habe er sich aber stets überwunden und dann doch die Heimkehr angetreten, habe die Freier verjagt und Penelopes Vertrauen wiedergefunden.

In Moravias Roman erkennt der Protagonist Ricardo, dass diese Version des antiken Dramas seine eigene Beziehung zu Emilia wiederspiegelt. Obwohl er sich bis zuletzt an das Helden- und Treue-Genre der antiken Odysseus-Sage klammert, weist ihn Emilia genauso zurück und verlässt ihn wie Penelope Odysseus in Moravias Roman. Wahrscheinlich liegt die übergeordnete Wahrheit, also die eigentliche Wahrheit der Geschichte irgendwo zwischen der antiken und der modernen Version. Weder war Odysseus der große Held, noch litt er unter einem ‚ehelichen Abneigungskomplex’. Aber wer war er dann wirklich?

Auch die Soziologen T. Adorno und M. Horkheimer haben in ihrem Hauptwerk ein Kapitel über Odysseus geschrieben.[1] Auch sie sind der Meinung, dass Odysseus nicht der alleskönnende Heros war, sondern eher der intellektuell zivilisatorische neue Grieche, der Aufklärung und Rationalität der veralteten magisch-mythisch denkenden Landbevölkerung entgegensetzen wollte. Er war ein Bürger, ein Bourgeois. Und nicht aus ehelicher Abneigung wie Moravia dichtete, lässt er sich auf das Liebesabenteuer mit Kirke, der femme fatal auf der Insel Aiaia ein. Vielmehr, so schreiben Adorno/Horkheimer, hat Odysseus sein Verfallensein an die Schwächen des Fleisches akzeptiert und nicht versucht, in heldischer Manier über allem zu stehen.

Odysseus geht der Versuchung und den Lockgesängen der Frauen nach, fährt tatsächlich an der Insel der Sirenen vorbei, will sich sogar voll bewusst ihren verführerischen musikalischen Künsten aussetzen. Aber er wendet das an, was Adorno/Horkheimer weiterhin  schreiben, nämlich ‚List‘, die sie als den ‚rational gewordenen Trotz‘ bezeichnen. Er lässt sich an den Schiffsmast fesseln und den Ruderern die Ohren verstopfen. Die beiden Soziologieprofessoren meinen, Odysseus versucht auf diese Weise die mythische Art der ‚Aufklärung‘, die immer gleich mit dem Tod hantierte, in die neue, beginnend rationale der griechischen Staatsräson zu verwandeln. War Odysseus vielleicht eine schillernde Persönlichkeit?

Der Philosoph G. Figal sieht dies alles etwas anders. Er meint, dass Adorno/Horkheimers Studie ‚mittelmäßig‘ sei. In keinster Weise sei Odysseus dem Sirenengesang verfallen, der angeblich die animalische Naturseite des Menschen charakterisieren würde und in Odysseus den Rationalisten sieht. Es bedarf vielmehr eines Dritten Bereichs, den Figal die ‚authentische Lebensform‘ nennt. Odysseus sieht ganz klar auf der Insel der Sirenen die Leichenberge der den primitiven Lüsten verfallenen Männer. Was ihn fasziniert und wo er sich von seinen Fesseln losreißen wollte besteht vielmehr in dem Versprechen, das die Sirenen geben: die Allwissenheit, die sie vermitteln könnten. In ihr geht es um das Wissen des Unbewussten, des Schicksals-Logos, von dem nur die eine Seite logische Fixierung ist, die andere ist die kreative, mit der sich Odysseus für immer befreien könnte.

Mehrere Absätze widmen Adorno/Horkheimer der Beziehung von Kirke und Odysseus. Bekanntlich verwandelte Kirke alle ihre Besucher in Tiere und Odysseus’ Gefährten in Schweine. Psychologisch gesagt, sie zeigte ihnen ihre ‚Triebschicksale‘ auf, ein Begriff, den Freud dafür verwendete, dass der Mensch vom Schicksalslogo seiner Trieben gesteuert wird. Die Gefährten hatten nur niedrige sexuelle Phantasien im Kopf. Sie glaubten - so wie es die heutigen Sexualtherapeuten auch tun, dass man sich gegenseitig möglichst alle sexuellen Wünsche und Vorstellungen erzählen soll, damit jeder den anderen so behandelt, wie dieser es ausleben möchte. Diese albernen Sexisten durchschaute Kirke sofort und ließ sie das sein, was sie ohnehin schon waren: Schweine eben. Aber Odysseus war nicht so dumm. Er wusste, dass er der Gewinner sein musste, und dass man dazu wie ein Psychoanalytiker am besten nichts beansprucht, nichts vordergründig begehrt, nichts sichtbar wünscht, sondern – wie bei den Sirenen - nur zuhört und das Gehörte interpretiert. Der Psychoanalytiker muss das Symptom, an dem die Menschen psychisch leiden, als zu hörendes Schicksals-Logo auf sich nehmen.[2]

Und so gelingt es Kirke bei Odysseus nicht, ihn auf animalische Instinkte zu reduzieren. Doch heißt dies noch lange nicht, dass sie sich auf ein „inter-hot“, ganz im Sinne des wahren ‚intercourse‘ mit ihm eingelassen hätte. Hier kommt vielmehr der vom Regisseur in Moravias Roman behauptete Intellekt und die Coolness von Odysseus zum Zug. Das fordert Kirke heraus und so wird sie selbst tätig. Aber dass Odysseus selbst die aktiven Verführungen Kirkes noch geschickt und zärtlich zurückwies, hat es ihm letztendlich ermöglicht, sich mit ihr zu vereinen. Denn diejenigen, die ihren Reizen gleich verfielen, waren doch wie bei der Sphinx im Ödipusdrama dem Tode geweiht. Diese Chance wollte Odysseus Kirke nicht geben. Er blieb cool bis zum letzten Akt, den er für sich siegreich gestaltete.

Ganz anders verhielt sich der Held allerdings bei Kalypso. Die ‚hehre’ und ‚schöngelockte’ Nymphe hat es ihm angetan und hier war Odysseus anscheinend selbst grenzenlos verliebt. Auf jeden Fall stellt ihn der Romancier M. Köhlmeier übertragen in moderne Verhältnisse und in literarisch recht seichter Form so dar.[3] Ich denke jedoch, dass Odysseus es hier aufgegeben hatte, sein Schicksalslogo zu ändern. Dieses bestand nicht nur in der Ausgangssituation mit dem Deal Helena / Penelope. Dass Odysseus Helena nicht bekam, hat er nicht verwunden. Diese Mischung aus Neid und Eifersucht hat ihn schließlich bei Kalypso schwach werden und gleich sieben Jahre seiner besten Zeit vertrödeln lassen. Odysseus mag es nicht so genau gewusst haben wie bestimmend sein Neid für sein Leben war, vielleicht hat er ahnungsvolle Kenntnis davon gehabt, dass solch ein Schicksalswort in ihm steckte, das vielleicht mit dem ‚ultrareduzierten’ Begriff ‚rationaler Trotz’ etwas abgemildert wurde, so dass er letztendlich dann doch zu Penelope zurückkehrte. Hätte er meditieren können, wäre es möglicherweise schon früher zur endgültigen Heimfahrt gekommen.

Anderes schreibt A. Döblin in seinem Essay ‚Gespräche mit Kalypso’, bei denen allerdings nicht ganz klar ist, ob es sich um einen Dialog mit Odysseus handelt. Denn Döblin lässt Kalypso in einen Dialog mit einem Musiker treten, der nicht gerade dem grandiosen Archaier entspricht. Döblin übt sich in diesem Buch als Musiktheoretiker und lässt Kalypso von der Festmusik schwärmen, die „das Meer singt. Es sind die Töne des Meeres, die herüberkommen.“ Das passt zu ihr, der liebestollen Meeresgöttin, die ihren Geliebten, der doch so viele und interessante Abenteuergeschichten zu erzählen hat, für ewig festhalten will. Döblin lässt die Gehirne der beiden über Musiktheorie delirieren,[4] denn statt Musik und Sternenhimmel wird auch gerne das Gehirn dazu bemüht, Repräsentant des elementar Bild- und Worthaften zu sein, und so versucht Döblin seine Kalypsostudie auch mit Theorien über Gehirn und Gedächtnis zu verbinden. Döblin war Nervenarzt und schrieb auch darüber ein Buch.

Er benutzt zwar nicht den Begriff der ‚Verschränkung‘, aber im Grunde genommen geht es ihm um die Verbindung der Unbestimmtheit der Seele mit der des Gehirns sowie der Ausbildung des Gedächtnisses. In den letzten dreißig Jahren sind zahlreiche Veröffentlichungen über das gleiche Thema (Psyche und Gehirn) erschienen. Ich muss darauf nicht groß eingehen, denn sie haben alle die Tendenz, dass es das Gehirn ist, das die Psyche macht. Somit steht wohl auch das neueste Werk des bekannten Hirnforschers G. Roth ganz im Gegensatz zu der Geschichte von Odysseus.[5]

Roth postuliert sechs `psychoneuronale Systeme´ (stressverarbeitend, intern beruhigend, intern bewertend und belohnend, impulshemmend, bindungssystemisch und das System des Realitätssinns und der Risikobewertung) und vier entsprechende, mehr oder weniger hierarchische `Ebenen´ (untere limbische, lebenserhaltende Ebene, mittlere limbische emotionsbezogene Ebene, obere limbische Ebene bewusster Gefühle und Motive und die kognitiv sprachliche Ebene). Nichts charakterisiert deutlicher, dass schon allein die Aufzählung dieser Systeme uns zur komplexen psychoneuronalen Maschine macht. Dennoch – meint Roth sogar – könnten wir mit Psychotherapie in diesem Zusammenspiel auch ein klein bisschen etwas ändern. Homer hätte sich im Grabe umgedreht, wenn er dies gelesen hätte.

Fortsetzung im Artikel Das Gehirn des Odysseus.



[1] Horkheimer, M., Adorno, T., Dialektik der Aufklärung, Fischer (2003) S. 66

[2] Lacan, J., Seminar XXIII, Lacan Archiv, S. 142

[3] Köhlmeier, M., Kalypso, Piper (1997).

[4] Döblin, A., Gespräche mit Kalypso, Walter Literarium (1980)

[5] Roth, G., Wie das Gehirn die Seele macht, Klett-Cotta (2014). Ich erwähne nur nebenbei die Bücher von S. Pinker, A. Damasio, E. Kandel, O, Turnbull und andere, da sie alle eine ähnliche Vorgehensweise haben.