Das Gehirn des Odysseus

Am interessantesten und erstaunlichsten erscheint die Beschreibung der Ineinanderverkettung von Gehirn, Genen, Neurotransmittern und der Psyche in Fall von Odysseus. So beschreibt Roth die Vermutung, „dass die Wirkung des Serotonins auf Aggressivität davon abhängt, in welchem Maße eine individuelle Neigung zu Aggressionen ausgebildet ist. . . Männer mit einer ausgeprägten Neigung zu Aggressionen reagieren auf eine Verminderung von Serotonin mit erhöhter Aggressivität, Feindseligkeit und Streitsucht, . . während eine Erhöhung bei diesen Menschen das Gegenteil bewirkt. Männer hingegen, die eine geringe Tendenz zu Aggressionen aufweisen, reagieren auf die

Veränderungen der Serotoningabe nicht mit Veränderung der Aggressivität. Es scheint also, dass Serotonin nicht generell die Aggression reduziert, sondern die Impulsivität hemmt, d. h. die Bereitschaft, latent vorhandene aggressive Tendenzen auszudrücken. Bei niedrigem Serotoninspiegel bricht sich dann die impulsive Aggression Bahn.“

Nun beschreibt Roth nicht, was unter Neigung zu verstehen ist. Ist sie angeboren oder erworben? Wahrscheinlich beides, denn die Gene spielen ja in Roths Schilderungen eine bedeutende Rolle, aber sicher können durch Fehlentwicklungen und traumatisierende Ereignisse ja auch Neigungen erworben worden sein. Doch wenn sie erworben sind, hat die Seele ja das Gehirn gemacht und nicht umgekehrt. Das Gehirn hat ja neuesten Forschungen zufolge eine ausgeprägte Plastizität, so dass eine aus sozialen aber auch unbewussten Konflikten berechtigte Wut Einfluss auf das Serotonin haben kann und damit alles anders gesteuert wird. Letztlich will ich jedoch gar nicht auf eine spezielle Kritik an all diesen Neurowissenschaftlern hinaus. Für mich liegt das Hauptproblem darin, wie Hirnforscher bezüglich ihrer Gehirnbilder (bildbezogen) die symbolische Ordnung (wortbezogen) benutzen. Denn wenn die Geschichte von Odysseus so anders klingt, dann deswegen, weil bei ihm ganz oben im Gehirn (und für ihn und Homer sogar noch darüber) die Götter wohnten.

Für G. Roth sind Gehirnareale mit den sprachlich-kognitiven Vorgängen „befasst“ (vor allem im Frontalhirn). Es sind nicht wir, die denken, sondern Es. Nun ist dies gar nicht so weit von psychoanalytischen Vorstellungen entfernt, wenn auch befremdlich ausgedrückt. Freud konzipierte ja auch „unbewusste Gedanken“, aber das Es, das eigentlich Unbewusste, denkt und kalkuliert nicht, aber Es weiß, sagt er. Dieses Es war hauptsächlich durch libidinöse Vorgänge, durch die „genießende Substanz“ geprägt, was Lacan folgend dem „Signifikanten des Wissens“ zugehört, also diesem Anderen, insofern Es/Er weiß. Im Mythos von Odysseus wurde den Göttern (vor allem Poseidon und Athene als die zwei Gegenspieler) das Wissen zugeschoben, was mit ihm geschehen sollte. Aber die Götter waren auch die Herrensignifikanten, die Bestimmer, die Schicksalsrauner. Hier trifft man sich wieder mit den sprachlich-kognitiven Gehirnarealen. Trotzdem, wo bleibt der wirkliche Odysseus?

Ich denke, dass die Psychoanalyse mit ihrer Libido, ihrer ‚genießenden Substanz‘ eine eigene Wissenschaft ist, in der die Grundkräfte des Wort- und Bildbezogenen am besten in eine sinnvolle und wirksame Kombination gebracht worden sind. Die Natur-und die Geisteswissenschaftler alleine können ein solches Zusammenwirken nicht mehr herstellen, sie leben in dem jeweils für sie eigenen und vom anderen isolierten Bereich. Deswegen kann es so reichhaltig und interessant sein, sich mit dem Leben, den Erfahrungen und den Gedanken des Odysseus mitsamt Homers Rhythmik und plastischer Wortwahl zu beschäftigen, denn nur hier wird diese Dissonanz und Unfähigkeit der Natur- und Geistes-Wissenschaften sichtbar. So lässt sich psychoanalytisch klar sagen, dass zwar eine Schicksalsrune den Anfang von Odysseus Leben bestimmt hat, er aber wohl auch eine Heilsrune, ein letztliches Erfolgsepigramm entwickeln konnte, das in Homers Hymnen bis heute triumphiert.

Das unbewusste, bildhafte Wissen ist symbolisch, worthaft vorstrukturiert, wir müssen es als Schatz mit Hilfe beider Prinzipien in uns heben, wir könnten es uns so bewusst  machen und uns bereichern. All dies ist also nicht darauf angelegt, dass wir maschinell wie der Neuronenapparat reagieren, sondern kreativ fortschreiten sollen. Denn nicht nur bei Kalypso hat das Schicksalslogo des Archaiers Regie führt. Sein Gehirn hat die strategischen und erotischen Abenteuer nur begleitet. Das Gehirn des Odysseus hätte sicherlich in der funktionellen Magnetresonanztomographie viele Anreicherungen im hypothalamischen Bereich gezeigt, aber hätte dies etwas über ihn und sein Logo ausgesagt?

Kalypso gegenüber musste Odysseus zugeben, dass sie an ‚Wuchs und Bildung‘ Penelope weit übertraf. Zudem hätte er bei ihr unsterblich sein können, aber irgendeine Heimatsehnsucht trieb ihn fort. Hier sieht man am besten die massiven Grenzen der Neurowissenschaften. Ithaka muss für Odysseus so etwas gewesen sein wie es Tara für Scarlett O‘Hara in M. Mitchels Roman ’Vom Winde verweht‘ gewesen ist. Ein Hängenbleiben an Mutter Erde so wie es auch aus dem Schicksalslogo ‚Rosebud‘ in Orson Welles weltbekanntem Film ‚Citizen Kane‘ herausklingt. ‚Rosebud‘ sollte sowohl Kanes wie Orson Welles gestohlene Kindheit in Form einer frühen Trennung von der Mutter symbolisieren. Beide haben sie umständliche Abenteuer bestehen müssen, weil sie kein Verfahren zur Verfügung hatten, das Kindheitstrauma zu bewältigen.

Vielleicht waren es also wirklich nicht mehr die Frauen, auch Penelope nicht, die ihn zur Rückkehr bewegten, sondern Ithaka, seine weizenglühenden Felder, seine knorrigen Olivenbäume und die vielfach gekrümmten Weinstöcke. Das alles gehört genauso zum Trieb-Schicksals-Logo wie die Tatsache, dass der Jonglierer Odysseus den Womanizer, der er gar nicht war, ständig nur spielen musste, Er war er ein hausbackener Bürgerlicher, der gerne in seinem Königreich in Ithaka geblieben und nicht in den Krieg gegen Troja gezogen wäre. Dies beweist sich durch die Geschichte, dass er den Geisteskranken markierte, als man ihn an den Schwur zugunsten von Menelaos erinnerte und zum Kriegszug rief. Erst als jemand von der Menelaospartei sein Spiel durchschaute, blieb ihm nichts anders übrig als mitzugehen.

Dennoch kannte er seinen Schicksalsspruch nicht genug und konnte ihn nicht meditativ umgedeuten, denn letztendlich wurde er eines Tages von seinem Sohn Telegonos, den er mit Kirke gezeugt hatte, getötet. Damit spielt auch in seiner Sage das Schicksal von Vatermord und Mutterinzest eine Rolle. Denn nach dem Tod des Odysseus heiratet Telegonos Penelope, während der Sohn von Odysseus und Penelope,  Telemachos, Kirke zur Frau nahm (wenn diese Söhne auch nicht ihre direkten Mütter heirateten, so doch die jeweiligen Mutterfiguren). Psychoanalytisch gedeutet kann man aus den alten Sagen viel lernen, aber am besten ist es doch, wenn man aus sich selbst, vom Anderen her, vom unmittelbaren Unbewussten, die Wahrheit erfährt, die man braucht. Für Odysseus war Penelope nicht die ideale Partnerin, aber doch die Frau, die im allerletzten Sinne zu ihm passte. Denn zusammen hätten sie dazu beitragen können, den Krieg gegen Troja zu vermeiden und so das Schicksalslogo erheblich ändern können.

Immerhin hat Odysseus es ein bisschen geändert. Er verstand es zuerst sein Königreich erfolgreich zu verwalten, danach im Krieg gegen Troja als mutiger Kämpfer und schließlich sogar noch mit seiner List als Sieger zu reüssieren. Die Idee mit dem trojanischen Pferd stammte letztendlich ja von ihm. Und auch seine zehnjährige Fahrt durch die Ägäis von Kirke über Kalypso zu Nausikaa stand im Zeichen eines nicht nur ‚phallischen Genießens‘, wenn auch der sieben Jahre dauernde Aufenthalt bei Kalypso ein Rückfall war.

Dagegen wollen uns die Psychiater und Neurowissenschaftler vormachen, dass wir nur zwischen den verschiedenen Zentren im Kopf hin- und her-torkeln und uns  auf diese Weise mal verspannen, mal entspannen. So sollen die Amygdala (Mandelkerne im limbischen bzw. Emotionssystem) zwischen Panik/Verteidigung und Furcht/Vermeidungs-System vermitteln, als wäre der Mensch ein Tier oder ein Roboter. Ich sage daher nochmals, wir reagieren nicht, sondern handeln kreativ wie Odysseus dies getan hat. Das einzige, was uns bestimmt, ist das Bild- und Worthafte, die frühen und elementaren Symbolisierungsmöglichkeiten, der ‚linguistische Kristall‘.

Auch für den Philosophen A. Noë befindet sich das Bewusstsein und das Seelische in erster Linie nicht im Gehirn, sondern im Konnex und Kontext, in dem das Lebewesen mit seiner Umwelt und anderen Lebewesen in Beziehung steht und dynamisch interagiert. Dieser Konnex / Kontext ereignet sich also eher in einer Art von typographischem Hyperraum, zu dem das Gehirn wahrscheinlich keine intensivere und komplexere Beziehung hat als ein einfacher dreidimensionaler Gegenstand, den wir lieben.

Wir  sind es selbst, die das Gehirn steuern, unsere Seele könnte das Gehirn zu dem machen, als was wir es im idealeren Sinne brauchen. Dabei ist kein Zweifel, dass die Gehirnforscher Richtiges sagen, sie sagen es nur nicht gut und umfassend genug. Kein Wunder, sie sind selbst in dem ihnen geläufige Psychiatrischen ‚Dreiländereck‘ gefangen (Abbildung nebenan und  Begriff von D. Braus aus seinem Buch ‚Blick ins Gehirn‘). Das Gehirn ist wie die Stimulation des Sternhimmels und die Musik nur ein Begleiter, ein passender Bildschirm, ein Gebrauchs- und Genussgegenstand, und insofern kann man sich mit ihm beschäftigen. Es trägt zu den bildhaften ‚Oszillationen‘ und den worthaften Wellenformationen‘ bei, aber wir selbst sind unser eigenes ‚inter-hot‘.

Die Gehirnforscher sind noch nicht so weit wie die Physiker in Dürrenmatts gleichnamigen Stück. Denn sie sollten sich genauso wie diese ins Irrenhaus zurückziehen, um zwar letztendlich nicht unter die Fuchtel der Chefärztin zu geraten, aber doch unter die Domäne der Symbol-, der Sprach-, der Signifikanten-Ordnung. Bei Dürrenmatt ziehen sich die Physiker nicht aus unlogischen Gründen in die Klapsmühle zurück, sie haben nämlich Angst, die Weltformel könnte ihnen entwendet oder falsch genutzt werden. Die Gehirnforscher haben Angst, sie müssten sich selbst zeigen, als Subjekte, psychisch nackt. Das beste Beispiel dafür ist der Nobelpreisträger E. Kandel. Er wollte Psychoanalytiker werden und hatte dafür sogar die besten Beziehungen in Amerika, dem Mekka der Nachkriegsanalytiker. Doch er wurde Gedächtnisforscher bei Aplysia-Schnecke, wo man nichts enthüllen musste.