Jesus und die Frauen I

In der Geschichte mit der Ehebrecherin zeigt Jesus, dass er etwas von Liebe, Sexualität und der Beziehung zwischen Mann und Frau versteht. Er war sicher der Meinung, die auch Freud teilte, wenn dieser schrieb, „dass etwas in der Natur des Sexualtriebes selbst dem Zustand der vollen Befriedigung nicht günstig ist”.[1] Sonst funktioniert das Sexuelle überall, nur da nicht, wo es zum wahren Genießen kommen sollte. Daher entdeckte Freud diesen Quotienten Begehren / Genießen[2] zuerst in seiner Angst-Form beim coitus interruptus, wo es nicht zum vollen Genießen kommt, zum großen Gefühl, auf jeden Fall nicht bei der Frau. Die üblichen sexistischen Männer heutzutage dagegen leiden am Kastrationskomplex! Sie halten ihre künstlich hochgeschraubte Power gar nicht durch. Spätestens in dem Moment nämlich, wo das Genießen eigentlich das wäre, Genießen als solches,  Genießen als ein Es Strahlt, geben sie auf! Gerade da, wo das Sexuelle erwartet wird, funktioniert es nicht, schlägt es um in die Angst.[3] Lacan meint, dass der Mann sozusagen am Höhepunkt der Angst ejakuliert. Es gibt „eine mit der Angst verknüpfte Gewissheit am Grunde des realisierten Orgasmus”,[4] die Gewissheit einer Einheit mit dem Anderen. Aber diese Gewissheit ist kein wirkliches Wissen. Diese Gewissheit ist oberflächlich und verbunden mit dem kurzen, isolierbaren (und dadurch der wissenschaftlichen Messbarkeit zwar zugänglichen, aber nicht wahren) Genießen eingesperrt in der Angst. Über die wahre Metapher des Genießens verfügen sie nicht.

 

Nicht anderes ist dies bei den kurzen Transzendenzerfahrungen in meditativen oder religiösen Übungen. Ich hatte vorhin schon bei der Schilderung der Erfahrungen des Sokrates den Unterschied erwähnt, den man im Yoga zwischen dem Nirvikalpi- (dauerhaften) und Sarvikalpi- (kurzem) Genießen (Samadhi) macht. Und auch die Mystiker, die in Ekstase ausbrechen, können die Metapher des Genießens nicht definitiv erklären, sie müssen zu Spekulationen greifen. Woher hat Jesus dagegen sein wirkliches Wissen, das von der Wahrheit her gestützt wird und nicht nur von einer subjektiven Gewissheit? [5]Der Theologe und Gefühls-Theoretiker J. F. Boeckel behauptet nämlich beschwichtigend, dass man sich bei der Transzendenzerfahrung in einer Meditation des „christlichen Wurzelgrundes wieder bewusst wird” oder werden könnte oder sollte. Vorher schwelgt Boeckel im Zen-Buddhismus und im Yoga, doch dann plötzlich - wenn es kritisch werden könnte - sollte man sich bitte doch gefälligst wieder an das gute alte christliche Zuhause erinnern.

Er macht nur eine vorgeschobene Anleihe bei diesen asiatischen Meditationszuständen, um den Mangel christlicher Glückszustände zu überspielen und eben dieses wahre Genießen als urchristlich auszuweisen. Richtig heran traut er sich nicht. Aber gerade darin kann man doch wieder den Kastrationskomplex sehen! Wenn es endlich bei der Transzendenzerfahrung, beim „Samadhi“, oder buddhistisch gesagt beim „Satori”, bei der Meditationsekstase ums absolute, wahre Genießen ginge, dann klappen sie das Visier herunter, dann bekommen sie Angst! Dann soll wieder alles beim „christlichen Wurzelgrund“ bleiben, obwohl das doch nur theoretischer Glaube ist, der durch eine Meditation mit der besagten oberflächlichen Gewissheit gestützt wird. Strahlt und Spricht sind bei ihm einfach nur durch Katechismusmeditationen verknüpft, und das genügt für den Erhalt der Gemeinde, aber mit Wahrheit und Wissenschaft hat dies nicht zu tun.Schon gar nicht ermöglich eien solches Vorgehen eine ‚logische Praxis‘ wie Lacan sie fordert.

Das Strahlt ist, wenn es nicht in gutem Gleichgewicht mit dem Spricht auftritt, nicht ungefährlich. Aber wenn man es fürchtet, sollte man keine Bücher über Meditation schreiben. Genauso natürlich kann man es nicht voll genießen, wenn man kein fundiertes Spricht dafür hat. Man kann dies heute noch bei Primärvölkern wie den Trobriandern sehen, von denen M. Mead sagte, dass sie genießen, die Natur, das Leben in der Südsee, die Freiheit (auch die sexuelle), daran ist kein Zweifel. Aber sie müssen auch ständig die Angst kommunizieren, d. h.  den Punkt, von dem das Strahlt übermäßig aus sich herausaustritt, denn überall gibt es Hexerei und gefährliche Magie. In jedem Moment kann man durch den Bann des Medizinmannes die gesamte glückliche Gnießensmetapher verlieren und zugrunde gehen. Dieser andere, weibliche, wahre Eros ist wirklich nicht leicht zu sagen. Es ist wie mit dem primären Glauben. Man muss schon einen sehr guten Sprecher dafür haben, dass man dabei wahrhaft genießen kann. Man muss im wichtigen Gefühl schon zu Hause sein, bevor man es eigentlich erst erlernt. Die Trobriander haben zwar kaum einen Ödipuskomplex, aber umso mehr ängstigen sie sich in der Präödipalität, also vor der unkontrollierten weiblich-mütterlichen Überich-Imago.

Auch in der Meditation wie in der ‚Jesus-Therapie‘ und in der Psychoanalyse gibt es also, will man es auf einen Nenner bringen, eine Art von Kastrationskomplex. Das Genuss-Objekt ist nicht in seiner Gänze zu haben, weil eben hier das Genießen nicht objektalisiert werden kann. Oder ich drücke es umgekehrt aus und sage, dass auch in der Psychoanalyse die Augen isoliert, der Blick gesenkt werden muss,[6] um wirklich zu „sehen”, was für ein gefährliches Unterfangen die Sexualität ist, und um zu wissen, wie man den Komplex Begehren / Genießen löst. Das konkrete, beschreib- und messbare Genießen, egal ob bei Mann oder Frau,  die isolierbare Potenz, von der Freud also ausgeht, suggeriert, ideal  mit dem Trieb, mit dem Begehren zusammenzugehen und in   - wie Freud sagte - der „genitalen Liebe” seine letzte Befriedigung zu finden. Nur, die Sache ist komplizierter. Die Frauen erscheinen viel potenter als die Männer, das wusste schon der alte griechische Seher Teiresias, weshalb Hera, die Gattin des Zeus, ihn mit Blindheit strafte.[7]

Die Frauen sind wie erwähnt diesem Genießen des Körpers als solchem und damit dem wahren Genießen viel näher, aber sie sagen nichts Präzises, Genaues, darüber, sie entwickeln kein eigenes Narrativ dafür, keinen eigenen hypersphärischen Raum,[8] kein eigenes Spricht. Sie sind dem Ur-Eigenen ihrer selbst gegenüber etwas versperrt zu sein. Deshalb meint Lacan, dass der Orgasmus bei der Frau „am rätselhaftesten, am verschlossendsten und in seinem innersten Wesen bisher vielleicht nie authentisch situiert worden ist”.[9] Die Frauen nehmen das Narrativ der Männer, dieses kleine isolierbare Genießens-Narrativ, das insofern ein Gegen-Raum ist, ein Übergangsraum, als es ja gerade nicht ein wirkliches Gemeinsames ist, sondern eher fast so etwas wie eine folie à deux.

Bei der Ehebrecherin von Joh. 7, 53 - 8,11 verfährt Jesus wieder nach dem Übertragungsprinzip, um die verhärtete, fest fixierte libidinöse Struktur aufzulösen und benutzt dazu das Schreiben. Hier kann ich sogar noch besser die Ähnlichkeit zur Psychoanalyse, zur ‚Jesus-Therapie‘ und zu meinem Verfahren beweisen. Da man Jesus auch hier wieder verführen will, diesmal dazu, sein Gewaltlosigkeitsparadigma zu verraten, indem er der Steinigung der Frau zustimmen soll,  behält er zuerst einmal Ruhe  und „schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Er reagiert erst gar nicht, wie ein guter Psychoanalytiker schweigt er und schreibt schon einmal einen Entwurf seiner Therapie, einen Entwurf seiner Deutung, des „Deutungs-Objekts“ in den Sand.In Gegenüberstellung zum Übertragungs-Objekt, das der Psychoanalytiker ist, spreche ich hier vom „Deutungs-Objekt“. Etwas nimmt besonders stark Bedeutung an, Deutung, die Sinn vermitteln kann, Schreibung, die wie ein topologisches Objekt ist. Ich werde diesbezüglich später hier auch das Wesen des Formel-Wortes einfügen. Es ist eine Deutungs-Maschinerie, ein „Deutungs-Objekt“, denn es handelt sich ja um schon ein sehr objekthaftes Wortgebilde, um einen „linguistischen Kristall“.[10] Und eben diesen kann man auch in der ‚Jesus-Therapie‘ sehen: Jesus hat immer schon den kompakten Schlüssel in der Hand, er lässt nicht unbedingt erst den Patienten stundenlang reden. Er hat das „Deutungs-Objekt“ schon aus der „Schau“ seines „Vaters“, ein kompaktes, in sich sehr schlüssiges Formel-Wort, kristalline Kurzsätze, spruchhafte Gleichnisse.

Etwas Ähnliches gilt auch für die Literatur, für den absoluten Roman, das perfekte Feuilleton. Während des Lesens eines sehr guten Buches stellt sich nämlich Vergleichbares ein wie in einer Psychoanalyse. Der Text hat jedoch dann schon selbst „die Autoritätsposition inne, indem er buchstäblich mit sich selbst identisch bleibt, sich nicht kommentiert, sondern diese Rolle dem Leser überträgt . . . Effekte auslösend . . . die den Leser zu Bildern und Interpretationen verleiten . . .“[11] Man fängt an, sich mit dem Text im Buch zu verwickeln, zu reden, sich zu verwandeln. Ein exzellentes Buch kann also auch eine Art von „Deutungs-Objekt“ sein, und genau so etwas geschieht auch durch den Text, den Jesus bei der Ehebrecherin in den Sand schreibt und was ich mit dem Wesen des Formel-Wortes noch vertiefen werde. Noch weiß zwar keiner, was Jesus wirklich tut, aber sehen wir weiter.

Nach Jesu Intention soll sich erst wieder jenes ungetrübte, reine, wichtige Gefühl einstellen, die positive Übertragung, das Strahlt. Die Männer, die schon die Steine zur Steinigung in der Hand haben und die „gefallene“ Frau sollen erst eingestimmt werden in einem Moment des Innehaltens, der Positivierung. Es erinnert fast ein bisschen an Magie, wenn Jesus, wie  wenn er nichts gehört hätte, Zeichen in den  Sand schreibt und damit dem  Strahlt schon langsam sein Spricht zugesellt. Aber mit Sicherheit hat er nicht mystische, magische Zeichen auf die Erde geschrieben, sondern wahrscheinlich irgendetwas, das auch Bezug zum Alten Testament hat. Denn die Männer, die steinigen wollen, berufen sich ja auf Moses, auf Leviticus 20,10 z. B., wo die Steinigung der Ehebrecherin legitimiert wird, und so könnte Jesus z. B. gut dazu Jeremias 5,10 zitieren, wo Ehebruch zwar verurteilt wird, aber es soll niemandem der „Garaus gemacht werden“! Soweit soll es nicht kommen! Dadurch, dass er ein Zitat – vielleicht gering abgeändert - auf die Erde schreibt und nicht selbst spricht, erzeugt er genau diesen Moment der Ruhe, des Übertragungsfriedens, der Stille des Absoluten, in dem sich die „inneren schützenden Repräsentanzen“[12] aufbauen können und in dem sich eine Wendung herstellt, die Wendung vom  Strahlt zum Spricht, zum „Deutungs-Objekt“.

Eine verbale Intervention gleich zu Anfang hätte aggressiv klingen können, die Zeichen im Sand dagegen muss man erst so stehen lassen und irgendwann versuchen, sie selber zu lesen. Gerade weil die herumstehenden Männer sie aber erst nicht lesen können, aber wissen, dass Jesus ein Rabbi ist, müssen sie innehalten. Selbst wenn er als Rabbi zwiespältig gesehen wird, müssen sie doch zuerst etwas fragen in der Art eines „Was schreibst du denn da in den Sand?!“ Ideal also wird hier tatsächlich auf die Schrift zurückgegriffen, auf Beziehnis-Formulierungen, auf das Formel-Wort, Knoten-Wort in seiner Plättung, dem Lacan das höchste Maß am Realem zuweist.[13] Es gibt die Sünde und es gibt die Sühne, alles befindet sich vorerst in diesem Zwischenraum. Jesus kann nicht zu lange warten. Der Moment der Besinnung ist inzwischen aufgebraucht, und so kann und muss  Jesus jetzt doch laut und mit klaren Worten sprechen. Vielleicht deutet er mit einer dezenten Geste auf das Geschriebene und ruft dabei: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“

Als hätte er eine  Bibelstelle abgelesen, als wäre es ein schon seit langem bekanntes Gesetz, so liest er es laut vor. Los Leute, werft doch, ihr seid ja Orthodoxe, Rechtgläubige! Ihr seid doch die Super-Frommen! Ihr kennt doch Leviticus 20,10, was der Herr zu Moses sagte! Aber habt ihr auch Jeremias 5, 10 gelesen?! Auch da steht, man soll strafen, dieser verdammte Ehebruch! Dieser Bruch zwischen den Geschlechtern, wo es doch - wovon der Lacanianer Jesus überzeugt ist - gar kein Geschlechtsverhältnis gibt, weil nichts davon sich wirklich sagen lässt, schreiben lässt! Nur, wer gestaltet sein Geschlechtsverhältnis schon so, dass es das reine Liebesverhältnis ist, das reine Abenteuer höchster Liebeskunst, einer Liebesschule, wie es der Psychoanalytiker Kernberg dargestellt hat (oder dargestellt haben will)?[14] Wer ist also ohne „Fehler“? Damit es nicht so aussieht, als würde Jesus sich nunmehr selbst zum Ober-Rabbiner aufmotzen, schreibt er ein zweites Mal etwas in den Sand.

Vielleicht haben einige der Männer das Erstgeschriebene schon gelesen. Jesus ist nach wie vor bemüht, nicht vorzeitig verbal zu intervenieren. Es ist der größte Fehler, den man als Analytiker machen kann, wenn man etwas zu schnell versteht, wenn man zu vorzeitig interveniert oder interpretiert, weil man glaubt alles verstanden zu haben! Etwas zu gut zu verstehen kann heißen, etwas zu schnell zu objektivieren! Der Objekt-Bezug muss sich aus der gesamten Situation, die der Patient vermittelt, seinen bewussten Aussagen und seinen darin enthaltenen unbewussten Stockungen, Versprechern etc. erst ergeben. Während der Analytiker aber schweigen muss, bis sich wirklich auch beim Patienten bereits der Punkt ergibt, wo die Deutung schon in der Luft liegt, muss Jesus „aktiv“ werden. Er hat zudem gleich eine Mehrzahl von Patienten, die Frau und die Steiniger um sich herum, und so muss er wieder beherzter eingreifen als es ein klassischer Therapeut tut! Er interveniert.

Er muss zwar wie der Analytiker eine Einschätzung des Falles vornehmen, diese aber seinen Patienten gleichzeitig und sofort vermitteln. In der heutigen Psychoanalyse muss der Therapeut ein Gutachten erstellen, das – anonym – ein Gutachter erhält, der die Einschätzung des Falles für die Krankenkasse beurteilt und damit auch eine Art Supervision ausübt. Jesus aber muss sein eigener Supervisor sein, er muss die Einschätzung so niederschreiben, dass seine Patienten sofort sehen, dass hier ein gut­achterliches Verfahren mitwirkt, dass wirkliche Wissenschaft im Spiel ist[15] und die Sache in Ordnung geht. Es ist, als kümmert Ihndie ganze Angelegenheit gar nicht. Er will nichts, Er ersucht nichts, beansprucht nichts  von seinen Analysanden, seinen Patienten. Er beschäftigt sich fast ausschließlich mit der analytischen (und das heißt hier mit der alttestamentarischen) Theorie und Einschätzung des Falles. Er  w i l l  nicht heilen, er weiß, dass das Unbewusste die Heilung in Gang setzt. Der Vater, das Formel-Wort als Unbewusstes, der weibliche Eros wird es tun. Er weiß, dass es ein Es Spricht / Es Strahlt gibt, und dass dies die Dinge regeln wird. Dazu muss er nur etwas in den Sand malen, Schreiben / Lesen, genau diese Kombinatorik induziert das Es Spricht / Strahlt in einer einheitlichen Schreibung. Eine Intervention durch das Sprechen wäre zu vorzeitig wichtigtuerisch und belehrend  gewesen.

Auf jeden Fall kritzelt Jesus wie absichtslos, wie maschinell und virtuell - denn es scheint an niemand (wie anonymen an den Gutachter) gerichtet zu sein – ein erneutes Mal etwas in den Sand. Beeindruckt von der Gelassenheit und Sicherheit dieses Theoretikers halten die Steiniger einen weiteren Moment inne. Irgendwie scheint dieser Therapeut ein Wissenschaftler zu sein – einer, dem man Wissen unterstellt. Damals war es der Rabbiner, dem man unterstellte, ein wirklicher Gottesmann zu sein, der geheime Kräfte besitzt. Die Formeln aus dem Alten Testament scheinen in besonderer Weise zu stimmen. Die Deutung, „wer ohne Sünde, ohne Fehler ist“ hat funktioniert. Denn Sünde, ja ein Fehler ist es, wenn man ein Liebesverhältnis hat, wo das Genießen nicht durchschlägt von Mann zu Frau, wo es gehemmt auf der Strecke bleibt! Männer, liebt ihr wirklich alle so gut, macht ihr´s wirklich so gekonnt, dass es kein Fehl (Sünde) ist?! Kann das jeder von euch sagen!?

Diese Frau ist doch vielleicht deswegen untreu geworden, weil´s der ihre nicht so richtig gewusst hat, was es heißt, richtig zu lieben. Zu Levitikus 20, 10 und Jeremias 5, 10 kann man nämlich, um das Formel-Wort voll werden zu lassen, noch Sprüche 5, 18-19 zitieren! „Freue dich mit der Ehefrau deiner Jugend! . . . Mögen ihre eigenen Brüste dich zu allen Zeiten berauschen! Durch ihre Liebe mögest du fortwährend im Taumel sein“! Ja hat denn der Ehemann dieser „Ehebrecherin“ vielleicht versagt? Hat er sich nicht berauscht, ist er nicht getaumelt im Liebesgenuss? Habt ihr nicht auch die etwas freieren Stellen im Alten Testament gelesen?! Von der Erotik des Hohen Lieds gar nicht zu reden! Eine Sünde ist es, wenn es mit der ehelichen Liebe nicht klappt! Das Liebesversagen der Orthodoxen, der Schriftsüchtigen, der Gesetzesfanatiker – das ist der eigentliche Fehler, die eigentliche Sünde, ihr Steineschmeißer, ihr Dummen, ihr Mörder!

Es kann nur so etwas wie eine mehrfach sich überschneidende Bedeutung in einer Formulierung zur Frage des Begehrens / Genießens gewesen sein, die die Steiniger schließlich zurückhält. Einfach irgendwelche aneinandergereihte Zitate aus dem Alten Testament verbal geäußert hätten nicht geholfen. So etwas hätte nur theoretisch moralisierend gewirkt, nicht echt therapeutisch. Aber diese Schreibung, bei der der Schrägstrich zwischen dem Strahlt des Genießens und dem Spricht des Begehrens selbst mitgeschrieben, selbst Signifikant ist, die bewirkt es. Natürlich haben sie alle bei ihren Frauen versagt! Klar, man müsste es mit der eigenen richtig können und nicht als Ersatz dauernd nach den anderen schielen! Also lassen sie die Steine fallen. Dumm wollen sie nicht sein. Wenn es in der Bibel so steht, dass man beim Ehebruch differenzieren, abwägen  muss, worin denn wirklich die Sünde besteht, wollen sie nicht die sein, die den Justizirrtum noch fördern und sie so zu Mördern werden lässt.

Als sie dann alle nachdenklich werden und weggehen, steht Jesus schließlich der Frau alleine gegenüber, Blick in Blick, schutzlos, nur getragen vom reinen, positiven Übertragungs-Gegen-Übertragungs-Ge­fühl. Aber er kann sich auf seine (analytische) Theorie verlassen. Auf den ABBA-Vater, auf diesen Namen des Namens, dieses Formel-Wort. Lacan vergleicht diesen Vater-Namen mit dem Borromäischen Kno­ten, „einer unbegrenzten Zahl von Schlingen“, wobei „alles auf einer beruht, auf einer als Lücke, die ihre Konsistenz allen anderen mit­teilt.“[16] Die Zahl der Schlingen, das ist die Zahl der sich überschneidenden Bedeutungen im Formel-Wort, wobei alles darauf beruht, dass wir mit dem Üben in ein Loch fallen, in das Loch einer letzten Bedeutung, die aus dem eigenen Unbewussten kommt. Ins Loch des Liebestaumels mit eben der Frau, die einem zugehört, zu der man(n) gehört.

Man(n) kann sich da hinein fallen lassen, denn das Unbewusste antwortet immer, wohingegen der Phallus (auch als Zepter der Mächtigen) keine Antwort hat. Jesus kann sich in den Vater-Namen fallen lassen, denn darin liegt die eigentliche Metapher des Genießens. Die Frau liebt ihn, sie ist voll positiv zu ihm eingestellt. Doch wie soll er ihr jetzt wieder diese Übertragungsliebe deuten, wie ihr die ihr selbst ureigentlich zugehörige Genuss-Metapher vermitteln, ist sie doch eine Frau, die nicht so zickig ist, und die sich schon mal einen anderen nimmt. Deswegen ist sie doch angeklagt. Denn so sehr auch die Dreier-Formulierung die Steiniger überzeugt hat, so ganz unschuldig ist die Frau ja nicht. Schon aus Dankbarkeit war sie manchem gefällig gewesen und wäre sie auch Jesus zu Diensten. Ihr Blick sagt: Ich danke dir, ich liebe dich, brauchst du mich vielleicht?. „Nein, ich verurteile dich nicht“, entgegnet Jesus, „ich mag dich auch, aber tu es nicht mehr.“ Auch du bist nicht Alle – Frau.[17]  (Du repräsentierst nicht das, was alle Frauen zusammen repäsentieren würden, wenn man das so rechnen könnte).

Ich kenne den Alle - Gott, dem du huldigst, ich huldige ihm auch, diesem universalen Genießen, aber ich tue es in der Form meines Formel-Wortes. Ich verknote Levitikus, Jeremias und auch noch andere Sprüche zusammen, schließlich muss man doch alles gelesen haben! und erreiche damit Sohn genau dieser komplexen Formel, dieser 3-in-1-Formel zu sein, also der zu sein, der den Auftrag des Vaters hat, diese Formel auch wirklich umzusetzen. Niemand kann Gott sein, aber auch niemand alle Frauen haben. In der Mathematik des Genießens müssen wir Gott das Alle zuordnen und Mann und Frau das jeweils ihre. Dieses „Jeweils ihre“ kann viel sein, aber eben nicht das Alle. Denn es wird nicht mehr, wenn man mehr Partner in der Liebe hat. Das ist die wahre Metapher des Genießens.

I. Kiefer gelangt in ihrem Buch zur gleichen Deutung dieser Szene. Zwar stellt sie sie in Form eines historischen Romans dar, aber intuitiv und aus einer etwas überzogenen weiblichen Perspektive vermutet sie richtig, dass die Ehebrecherin vielleicht eine Konventionalehe mit einem Mann, den sie nicht liebte, eingehen musste und deshalb einen Liebhaber hatte. [18]  Die gesellschaftlichen Regeln standen halt den realen zu krass gegenüber, und man durfte sich einfach nicht erwischen lassen. Auf jeden Fall ist Jesu rigorose Einstellung zur Monogamie bekannt und er trifft sich hier bestens mit der Auffassung Lacans hinsichtlich des nicht existierenden Geschlechtsverhältnisses, das ich gerade erwähnte, weil man nichts davon wirklich sagen, schreiben, und wahrhaft vermitteln kann. Der Sex ist einfach nur etwas zwischen Imaginärem und Realem, und ein Symbol gibt es dafür nicht. Etwas anderes ist es mit der Ehe. Sie existiert vorwiegend auf der symbolischen Ebene, und daher entsteht die Schwierigkeit für jede Zeit den Männern neu zu erklären, warum „um nur einer zu genügen, das Leben meist nicht ausreicht“, wie Lacan weiterhin argumentiert. Was der Autor der Sprüche im Alten Testament also von sich gibt, heißt, dass man den Spagat zwischen der realen und symbolischen Ebene schaffen muss im Sinne einer knisternden, einer „leidenschaftlichen Ehe“. So nannte daher auch einer der bekanntesten Sexualtherapeuten Amerikas sein Standartwerk.[19]

Auch die französische Psychoanalytikerin F. Dolto interpretiert diese Ehebrecherin-Szene ähnlich treffend. Auch sie weiß, dass Jesu anfängliches „Schweigen, seine Graffiti-Kritzeleien, seine zum Boden gebeugte Haltung, die zeigen soll, dass er niemanden angreift“, dazu dient, eine positive Übertragungssituation entstehen zu lassen.[20] Sie sieht ebenfalls die Steiniger in der Position der Eifersüchtigen, die nur neidisch auf den Liebhaber sind, der das getan hat, was sie auch gerne gemacht hätten: aber sie sind bei keiner so attraktiven Frau gelandet, also drehen sie den Spieß um: da gibt es doch noch das mosaische Gesetz! Da können wir uns doch abreagieren! Und gleichzeitig können wir noch diesen Revoluzzer Jesus dran kriegen, wenn er sich gegen das Gesetz stellt! Doch sie haben nicht mit der Macht der Formel-Worte gerechnet, mit jenen kompakten, stringenten Formulierungen, mit einer Art von „linguistischem Kristall“, mit dem Jesus gearbeitet hat und die ich in modernerer Sprache wieder aufleben lassen will, weil dieser „linguistsiche Kristall“ mit der Metapher des Genießens identisch ist.

Jesus macht es also von vornherein anders, er „objektalisiert“ seine Arbeit nur mit diesem Anderen, dessen Genießen zwar  rätselhaft ist, aber man es sich als das Genießen des Vaters vorstellen kann, dessen Sohn seinen Spuren folgt, seine Nachfolge antreten wird, seine Lehre weitergibt. Oder man versteht es als Selbstsublimierung wie ich sie schon bei Jakobs Kampf mit dem sogenannten „Engel“ beschrieben habe. Man kann sich hierzu auch gut an den Visionen der Heiligen Hildegard von Bingen orientieren, die behauptete, am Jüngsten Tag würden die sonst ja stillstehenden Fixsterne wild durcheinanderwirbeln, um eine neue Ordnung zu finden. Für sie war der Hauptstern der der Königsbraut, mit der sie sich wohl selbst identifizierte und bei ihr kann man sicher von einer extremen erotischen Selbstsublimation sprechen, einer Katharsis als Braut Christi, wie man sie in der damaligen Zeit kaum besser haben konnte. Auch in der Psychoanalyse spricht man von Selbstsublimation, doch der Literaturwissenschaftler E. Goebel meint,[21] dass Freud sich spätestens mit der Entdeckung des Destruktions- bzw. Todestriebs das Sublimationskonzept vermasselt hat.

Wenn nämlich die Strebung zu Destruktion und Tod tatsächlich ein Trieb ist, aktiv und dynamisch, dann zwingt ein solches Konzept miteinander legierter Eros- und Todestriebe zu viel Verzicht und Askese und mündet in Pessimismus. Es kommt dann etwas Ähnliches heraus, gegen das sich Freud so gestemmt hat, nämlich eine Zwangsreligion, die durch glorreiche Versprechungen im Jenseits das Diesseits recht schwarzseherisch gestaltet. Goethe – meint Goebel – habe es besser verstanden das Fortleben erotischer Triebregungen jenseits der Sexualität (also Selbstsublimierung) aufzuweisen. Wann immer ihn eine erotische Erfahrung erschütterte – also auch durch Gegenstrebungen negativer Art beeinträchtigte – konnte er sich sein Gequältsein vom Leibe schreiben. Goethe hätte, wie Freud selbst erwähnte, zu jenen Figuren gehört, die den Eros immer hochgehalten haben und so ist ihm eine umfassende Sublimation gelungen.

Und noch hilfreicher hierfür erscheint die Philosophie Ludwig Marcuses. Laut Wikipedia[22] „geht Marcuse im Unterschied zu Freud davon aus, dass ein solcherart durch weitgehende Sublimierung befreiter Eros nicht zum Untergang der Kultur führen würde, im Gegenteil: ‚Die Befreiung des Eros könnte neue, dauerhafte Werkbeziehungen schaffen.´ Es käme zu einer Selbst­sublimierung der Sexualität, die kultiviertere Beziehungen der Individuen untereinander ermöglichen würde.“ Diesen Gedanken greift auch R. Pfaller auf.[23] Auch er sieht einerseits eine falsche Sublimierung am Werk, wenn der Eros durch politisch-ideologische Steuerung nur auf eine Pseudokultur trifft bzw. eine solche mit Hilfe dieser Steuerung als Endziel erreicht. Oder andererseits, wenn der Eros, das Begehren, nur durch das Brechen kulturerstellter Verbote Fahrt aufnimmt und so eigentlich nur ein Pseudoeros ist. Wie auch immer, wir können diesen selbstsublimierenden Prozess auch bei Jesus sehen. Für ihn ist der „Geist ohne Maß”, und eben dieser ist es, „der lebendig macht”.[24] „Das Fleisch” - das Phallische – „ist nichts nütze”. Also ist es besser mit den Frauen zu reden, als sich auf sie einzulassen. Wessen Werk, Kraft, Lehre auch immer bei Jesus im Spiel ist, es ist auch die Schreibung der Selbstsublimation, die Metapher des ureigentlichen Genießens mit dabei.

Man kann nämlich dieses Schreiben nur üben, einüben (was mit wiederholen zu tun hat). Wenn Freud sagt, dass man „die Liebes-Übertragung für die analytische Arbeit erhalten muss, ohne sie zu befriedigen”,[25] so könnten wir es umdrehen und formulieren: Wiederholt man das Es Strahlt / Es Spricht in einer praktischen, praktizierbaren Formulierung, in Form eines wissenschaftlichen Narrativs, Namens, dann könnte man die im Es Strahlt /  Es Spricht, die im wichtigen Gefühl enthaltene Liebes-Übertragung sehr wohl befrieden, ohne dass dies die analytische Arbeit stört! Denn genau dies ist die von Jesus begonnene Art der Therapie. Er befriedet, wie wir noch sehen werden, die Übertragungsliebe sowohl zum Vater wie zu den Frauen in einem einheitlichen Formel-Wort, das den Freud’schen Formulierungen nicht nachsteht, das aber kompakter ist. Dass Jesus tatsächlich diese Schreibung meint und nicht die der Schrift, des Alten Testaments, die der Sadduzäer und Pharisäer, können wir wieder an einem Beispiel sehen.



[1] Freud, S., Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, GW,  8, S. 89

[2] „Die analytische  Erfahrung zeigt uns das menschliche  Begehren  nicht in einem schlichten und einfachen Verhältnis zum Objekt, das es befriedigen würde, sondern in der Hingabe an eine fundamentale Perversität: Genießen des Begehrens als Begehren”. Pontalis, J.B., Wiedergabe der Seminare IV-VI von J. Lacan, Riss Extra 3, Riss-Verlag (1999) S. 91

[3] Lacan, J., L´angoisse, Seminaire Nr. X, Sitzung vom 5.6.63

[4] Lacan, J., L´angoisse, Seminaire Nr. X, Sitzung vom 15.5.63

[5] Man muss hier daran erinnern, das eine Überzeugtheit, Gewissheit subjektiver Art, wie sie dem Mythos, auch den mythischen, antiken Wissenschaften, der Mystik etc. zugrunde liegt, sich erheblich von dem Wissen und auch der Wissenschaft unterscheidet, die der Wahrheit dienen. Deshalb spreche ich sowohl hinsichtlich der Arbeit von Jesus als auch der von Freud als einer „der Liebe unterstellten Wissenschaft“, Liebe hier verstanden als eine Erkenntniskategorie, als Liebe zur Wahrheit, zur Wahrheit als Ursache. Der Psychoanalytiker nimmt seinen Patienten positiv an, weil er ihm endlos zuhört, indem er so die Wahrheit aus ihm heraushören kann.

[6] Er wird in der Sitzung sogar ganz ausgeschlossen, obwohl er im zeitweisen Au­gen­kontakt dann doch wieder da ist, ein ungelöstes Problem für viele Psychoanalytiker!

[7] Teiresias war nämlich wegen eines anderen „Vergehens” dazu verurteilt gewesen, zehn Jahre lang eine Frau zu sein. Befragt, wie das Genießen bei Mann und Frau verteilt sei - er musste es nun ja wissen - sagte er  1 : 10.

[8] Den Begriff des „hypersphärischen Raumes”, des Gegen-Raumes (wie wir ihn schon von der Inflationstheorie her kennen) benützen wir deswegen, weil sein Studium  im Sinne der neueren Geometrie, der mathematischen Topologie, geradezu eine „Erleuchtung” hinsichtlich des Übergangs vom geometrischen Strahlen zum mathematischen Sprechen darstellt. Siehe die einfachen Erklärungen in den Büchern von J.P. Petit, z. B. Das Topologikon, Vieweg (1995).

[9] Lacan, J., L´angoisse, Seminaire Nr. X, Sitzung vom 15.5.63

[10] Ein Begriff Lacans für das Unbewusste, das Strahlt / Spricht.

[11] Fechner-Smarsly, T., Die Wiederkehr der Zeichen, P. Lang –Verlag (1991) S. 68

[12] Volz-Boers, U., Transformation des frühen psychischen Traumas durch Neubildung von Repräsentanzen, Psyche Nr.11 (1999)  S. 1137 -1159

[13] Nach Lacan erreichen wir das Reale am besten dadurch, dass wir von der dreidimensionalen Welt zur zweidimensionalen  gehen, durch ideale Formeln aber zur wirklichen (vierten) Dimension gelangen.

[14] Kernberg, O, Liebesbeziehungen, Klett Cotta (1998). Der Autor stellt hier allerdings die Intimität von Liebesbeziehungen nach der Objektbeziehungstheorie dar, was häufig dahin führt, dass auch präödipale, also „perverse“ Elemente dosiert (!, Objektbeziehung und Über-Ich beider Partner müssen abgewogen und abgestimmt sein wie die Dosierung eines Medikamentes) zur Anwendung kommen.

[15] Nochmals betone ich, dass es sich selbstverständlich nicht um heutiges Wissenschaftsverständnis handelt, sondern um antike, mythische „Wissenschaft“.

[16] Lacan, J.,  R.S.I., Seminar Nr. XXII, Lacan-Archiv (1998) S. 70

[17] Ich erinnere hier nochmals an Fußnote 138, in der vom Ein des phallischen Liebesgenusses ausgehend, die Frau zwar das Mehr oder Viel vertritt, jedoch nicht das Alle. Nur Gott ist – in Libido-Mathematik ausgedrückt -  dann die zu Alle gemachte Frau, also der universale Liebesgenuss, wie Lacan anmerkt. Das Ein und das Alle stehen sich hier als sogenannte Quantoren gegenüber.

[18]  Kiefer, I., Frauen auf dem Weg, Burckhardthaus-Laetare (1996) S. 27-34

[19] Schnarch, D., Passionate Marriage, Love, Sex and  Intimacy in Emotionally Co-mitted Relationship (2004)

[20] Dolto, F., L`Evangile au risque de la psychanalyse, tome 2, j.-pierre delarge (1977) S. 81 und 86

[21] Goebel, E., Jenseits des Unbehagens, transcript (2009) S. 10 - 14

[22] Siehe unter >Triebstruktur und Gesellschaft<

[23] R. Pfaller. Die Sublimierung und die Schweinerei, PSYCHE Nr. 7, 2009. Weitere Stellungnahme zum Begriff Selbstsublimierung im Text.

[24]  Joh 6, 63

[25]  Freud, S., GW Bd. X (1915) S. 315-24