Die Null des Vaters und die 'reiche Frau'

In Freuds Theorie des Ödipuskomplexes spielt der ‚tote Vater‘ bzw. der ‚Mord am Vater‘ eine zentrale Rolle. Bekanntlich erschlug im Sophokles‘schen Drama Ödipus seinen Vater mehr oder weniger aus Versehen, denn er hielt ihn für einen Fremden der ihn an einer engen Wegstelle tätlich angegriffen hatte. Zur Geschichte von Ödipus gehört auch noch, dass er ebenso unwissend, unbewusst die Mutter geheiratet hat. Doch wie es heißt schützt Unwissenheit nicht vor Strafe oder anders und mit den Worten von K. Marx ausgedrückt: Die Menschen handeln selbstständig, sie machen die Geschichte, aber sie tun es unbewusst. Sie wissen nicht immer ganz genau, was sie tun, und so verhalten sich auch die heutigen Neurotiker, die in sich selbst den ‚Vater‘, das väterliche Gesetz, getötet haben, um frei von seinen Regeln und Bestimmungen leben zu können. Zum Gesetz oder zum Apell des ‚Vaters‘ gehört auch, dass man sich von den Bindungen an die Mutter frei machen soll, vor allem von der in ihr steckenden, verlockenden Frau.

 

Der französische Psychoanalytiker J. Lacan machte dazu in seinem 18. Seminar einige Bemerkungen. Er meinte, dass die neurotische Frau, die also ein bisschen mit der verlockenden femme fatal in der Mutter zu tun hat, in ihrem Leben dazu neigt, ihren Partner, ihren Mann – symbolisch, im manifest übertragenen Sinne – kastrieren möchte, denn nur so bekommt sie die richtige Oberhand und kann ihn  nach ihren Vorstellungen dirigieren. Freilich geht die Sache nicht gut aus, denn was sie nicht weiß, bezieht sich auf die Tatsache, dass sie damit in ihrem Mann genau diesen ‚Vater‘, dieses ‚Vater-Symbol‘, diesen ‚Vater-Namen‘ auf einen Null reduziert. Damit kann der Mann schlecht leben, es sei denn er ist der absolute Softie oder krass gesagt: ein Masochist. „Die logische Entsprechung zur Funktion des Vaters,“ sagte Lacan daher weiterhin, „ ist genau dies: die Funktion der Null, die allzu oft vergessen wird.“[1]      

„Diese Null ist für jeden chronologischen Naturbezug wirklich wesentlich. Und dann verstehen wir, was der Vatermord bedeutet. Es ist eigenartig, es ist seltsam, nicht wahr, dass dieser Vatermord niemals erscheint, selbst in den Dramen nicht . . . kein Dramatiker hat es jedenfalls gewagt den absichtlichen Mord an einem Vater durch einen Sohn zur Darstellung zu bringen; achten Sie darauf – selbst im griechischen Theater gibt es das nicht, an einem Vater als Vater. . . . Konnte „Vatermord“ sich nicht genau deshalb, wenn ich so sagen kann, dem Denken von Freud auf der Linie seiner Zugänge zur Hysterikerin aufdrängen, weil er der Ersatz für die zurückgewiesene Kastration ist?   Es ist klar, dass in der Perspektive der Hysterie der Phallus das ist, was fruchtbar ist, und dass das, was er hervorbringt, er selbst ist, wenn man so sagen kann. Die Fruchtbarkeit ist phallische Fälschung, und eben daher rührt es, dass jedes Kind Reproduktion des Phallus ist, insofern er, wenn ich mich so ausdrücken kann, mit Zeugung schwanger geht.“

„Hierdurch kommt es, dass das unglaubliche Entgegenkommen von Freud gegenüber einen Monotheismus, dessen Modell er merkwürdigerweise von ganz woanders holt als aus seiner Tradition – Für ihn muss es Echnaton sein. Auf der sexuellen Ebene ist nichts mehrdeutiger, möchte ich sagen, als dieser solare Monotheismus. Wenn man sieht, wie er strahlt, mit all seinen Strahlen, mit kleinen Händen ausgestattet, die dabei sind, die Nasenlöcher unzähliger winziger Menschenwesen zu kitzeln, Kinder des einen wie des anderen Geschlechts, wobei in dieser bildhaften Darstellung der ägyptischen Skulptur erstaunlich ist, so muss man wohl sagen, dass sie sich ähneln wie Brüder und mehr noch wie Schwestern. Wenn das Wort „sublim“ einen mehrdeutigen Sinn haben kann, dann wohl hier, da es auch nicht ohne Bedeutung ist, dass die letzten Monumentalbilder von Echnaton, die ich sehen konnte, als ich das letzte Mal ägyptischen Boden verließ, Bilder sind, die nicht nur kastriert sind, sondern die schlichtweg weiblich sind.“

Lacan erklärt im Folgenden, dass der um den ‚Vater‘, um dessen Namen bzw. Signifikanten ‚kastrierte‘ Mann zu Zwangsneurotiker werden kann, der alles zu sehr erotische Begehren in sich unterdrückt, quasi wunschlos unglücklich, aber doch noch irgendwie männlich ist, wenn auch in unbewusst femininer Form. Trotzdem war es kein Fehler, dass die Neurotikerinnen Freud auf diese Spur des Ödipuskomplexes gebracht haben, denn von den Männern, ob zwangsneurotisch oder nicht, hätte er dies nicht erfahren. Es ist auch kein Fehler dieses Vater-Symbol mit der Null gleichzusetzen. Diese Setzung ist nur formal, ja sie ist ja wichtig und bedeutend, denn ohne die Null kann nicht gerechnet und gezählt werden. Umgekehrt sind die unzähligen Zahlen, die keinen festen Null-Bezug haben, für das Weibliche charakteristisch. „In ihrer Abstammungslinie ist die Mutter, so möchte ich sagen, unzählbar. Sie ist in allen richtigen Bedeutungen des Ausdrucks unzählbar. Sie lässt sich nicht zählen, da es keinen Ausgangspunkt gibt – auch wenn die weibliche Linie notwendigerweise völlig geordnet ist, ist es nicht möglich, sie von irgendetwas ausgehen zu lassen,“ erklärt Lacan daher. Das heißt nicht, dass die Frauen auf dieser Welt nicht gezählt werden könnten. Aber es haftet ihnen etwas Unzähliges, Reiches, Multiples an.

Dies wird noch besser verständlich, wenn man  - in einer Art von Parallelkonzept der herkömmlichen Psychoanalyse bezüglich des ‚toten Vaters‘ –  die sogenannt ‚reiche Frau‘ ins Zentrum der psychologischen Theoriebildung stellt. Die ‚reiche Frau‘ ist die, die – wie Lacan oft sagt – „alle wäre“, d. h. in allem rundum und auch in Φ (dem symbolischen Phallus)  unkastriert reüssieren würde. Sie ist im Gegensatz zum ‚toten Vater‘ lebendig, es hat sie allerdings wohl noch nie jemand gesehen. Lacan konstatierte daher, dass „Gott die zu alle gemachte Frau ist“, also ein Universalgenie in der Liebe, die Königin der ‚Lieb-ido‘, die eben genauso wenig sichtbar ist wie der ‚spiritus purus‘, der göttliche Geist der Theologen. Doch eine Lebendigkeit besteht bei ihr, auch wenn sie nicht rein biologisch ist. Sie ist ‚Jouissance’, das Genießen als solches, jeder kann sie in sich lebendig machen, denn nur so lebt sie. Der bekannte Mythenforscher R. von Ranke Graves gestand einmal, dass für ihn die „weiße Göttin“ zum obersten Prinzip geworden ist. Es handelt sich wohl um das gleiche Wesen wie die ‚reiche Frau‘. Wie er allerdings mit ihr umgeht, bleibt rätselhaft. Sieht er sie manchmal? Phantasmatisch? So ist sie wohl für den Mythenforschen typisch, denn die Worte ‚weiß‘ und ‚Göttin‘ machen sie wieder zu sehr mythisch, märchenhaft. Dagegen ist die ‚reiche Frau‘, die also hinsichtlich aller Aspekte ‚reich‘ ist, ein genau so gutes logisches Konzept für die Beziehungsstrukturen in der Psychoanalyse.

Denn Iokaste, Ödipus Mutter und Frau, war wirklich reich. Sie war Königin, sie besaß zudem materielle Reichtümer, war eine schöne Frau und schenkte Ödipus auch noch vier Kinder. Sie war Fee und Hexe, denn jeder Kommentator zu dem Drama von Sophokles hat sich gefragt, wie sie mit der Ahnung, dass ihr neuer Mann Ödipus auch ihr Sohn sei, umging: magisch, kryptsich denkend und nicht von der Null als zählbarem Bezugspunkt ausgehend. Sie muss sich in der ‚Jouissance‘ befunden haben, jedoch wohl in einem Tiefpunkt derselben, und dies trifft auch auf die Neurotiker zu. Sie genießen, aber nicht logisch und konstruktiv genug.



[1][1] Dieser und weiterer Text in Anführungszeichen stammen von der Übersetzung des Seminar 18 von R. Nemitz, lacanentziffern.de