Myschkin oder die heilige Torheit

Früher haben die Menschen gemeint, dass das Auge Gottes alles erfasst und man so seinem strengen Bick nicht entkommen könnte. Doch Mystiker haben geglaubt, dass der Mensch selbst ein ‚Drittes Auge’ habe, mit dem er die Geheimnisse der Welt direkt sehen könne. Erst die Psychoanalytiker haben mit diesen Thesen aufgeräumt und gezeigt, dass es nicht das ‚Dritte’ oder das Auge Gottes ist, um das es hier geht, sondern ein zweiter Blick, der meist unbewusst agiert, weil er das Verdrängte wahrnimmt, das man selbst nicht sehen möchte. Dieser Vorgang erinnert wieder an die Positionen M. Kleins und an das von mir favorisierte Es Strahlt, und so ist das Bild der Welt, das wir

mittels zweier Augen haben, stets etwas entstellt und verzerrt oder – anders ausgedrückt – findet sich in jedem Bild, das wir irgendwie erblicken, ein Fleck, ein unbewusster Punkt, der das eigentliche Streben, Begehren, Wünschen – diesen zweiten Blick also – wiederspiegelt so wie es sich auch in den Positionen M. Kleins verhält und ebenfalls auch mit dem Blick von Freuds kleinem Fetischisten.

Es entsteht ein schizoides Blinzeln, ein Gaffen, ein Voyeurismus oder ein paranoider ‚böser Blick’ anstatt der wahren und vollständigen Sicht der ‚Dinge’. Der Mensch durchschaut nichts, er besitzt nur die halbe ‚Vision’, nur die verfälschte Wahrnehmung, nur den verfremdeten, den zerstückelten Blick, kurz: die Spaltung auf dem visuellen Feld, die ihn trotz allem jedoch nicht zu beunruhigen scheint. Im Gegenteil, die moderne Kunst lebt geradezu von dieser – einem Ausspruch Lacans folgend – ‚Augentäuschung’, wie die Künstler sie uns herüberbringen.  Dennoch ist sie Kunst, denn sie macht ja das Unsichtbare, unerträgliche Entlarvende und Rätselhafte soweit passabel, das es wenigstens zum Teil bewusst werden kann. Trotzdem, die Kunst ist keine endgültige Lösung, um das Problem des vollständigen Blicks zu klären und die Spaltung zu überwinden.

Wie kann der Blick grundsätzlich ganzheitlich werden, offen und klar, die ‚Dinge’ durchschauend je nachdem, was sie vorstellen? Warum kann der Blick nicht scharf und gleichzeitig empathisch sein? Enthüllend, aber auch erhebend? Durchbohrend, aber auch vor Schönheit strahlend? Warum haben wir entweder den Blick des nüchternsten Allerweltmenschen oder den des ‚Idioten’, wie ihn Dostojewski in seinem gleichnamigen Buch in Form des Fürsten Myschkin so grandios dargestellt hat? Warum existieren gar beide Blicke gleichzeitig, was nach mit der ‚paranoid-schizoiden‘ mit der ‚depressiven Position‘ zu tun hat.

In seinem Artikel ‚Dostojewski und die Vatertötung‘ beschreibt S. Freud die schwere Neurose des Dichters. Er führt sie auf den in der Kindheit gegen den ‚besonders harten Vater‘ entwickelten starken Tötungswunsch zurück. Auch die Epilepsie Dostojewskis hatte laut Freud nicht organische, sondern hysteriforme Ursachen und sei der Tendenz zur Selbstbestrafung geschuldet gewesen. Wie Dostojewski selbst, war Myschkin eine Epileptiker, der in der Aura, also in der Vorphase, des Anfalls wahrnahm, wie sich „sein Gehirn für Augenblicke gleichsam blitzartig erhellte … und „Verstand und Herz plötzlich von ungewöhnlichem Licht durchleuchtet waren. . . in eine höhere Ruhe voll klarer und harmonischer Freude und Hoffnung . . aufgelöst. . .  später, nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit . . sagte er sich oft, dass dieses Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Seins nicht anderes sei als Krankheit.“[1] Dies alles klingt danach, dass sich in Myschkin dieser zweite Blick beherrschend über den ersten, den alltäglichen und normalen Blick stülpt, doch führt er ihn zu erstaunlichen Äußerungen, so wie ja auch der Dichter selbst wohl durch die Neurose zur Kunst geführt worden sein mag.  

Wie Picasso aus dem zerstückelten Blick ein Gemälde macht, so erkennt Fürst Myschkin in den Auren seiner epileptischen Anfälle, dass „all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Momenten, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. . .  Wenn er im letzten Augenblick des Bewusstseins vor dem Anfall manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewusstsein zu sagen: ‚Ja, für diesen Augenblick könnte man das Leben hingeben!‘, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert,“ schreibt Dostojewski.

Und später bei einer Rede in einer größeren Gesellschaft bricht es aus Myschkin ekstatisch heraus: „Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne darüber glücklich zu sein, dass man ihn sieht; wie man mit einem Menschen reden und nicht darüber glücklich sein kann, dass man ihn liebt! Oh, ich verstehe es nur nicht auszudrücken, aber wie viele Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die sogar der verkommenste Mensch schön findet! Sehen Sie ein Kind an, schauen sie Gottes Morgenrot, betrachten sie einen Grashalm, wie er wächst, schauen sie in die Augen, die liebevoll auf Sie blicken…“, doch dann stürzt Myschkin  im Aufruf des „erschütternden und niedergeschmetterten Geistes“ anfallsverursacht zu Boden. Für eine kurze Zeit war er wieder in ganz frühe seelische Spaltung und deren ‚Positionen‘ zurückgefallen.

Natürlich findet sich in der Figur des ‚armen Ritters‘, wie Fürst Myschkin von seiner geliebten Natasja genannt wurde, oder des Don Quijote, wie andere ihn hießen, ein großer Teil der Persönlichkeit von Dostojewski selbst, der für die Unermesslichkeit und Stärke dessen lebte, was er das ‚neue Wort‘ Russlands nannte: der Ausdruck höchster und niedrigster Gefühle, die Gedanken des sich vom Verbrecher bis zum Heiligen sich wandelnden Menschen, ja selbst die Fähigkeit als Diener des Zaren mitten im russischen Volk zu stehen.[2] Im Jahre 1849  wurde Dostojewski als politischer Verbrecher zum Tode verurteilt und zur Hinrichtung geführt; doch es wurde nur eine Scheinhinrichtung, man wollte ihn nur strafen und am Leben lassen. In ihm selbst aber bebte, erschütterte und verdammte dabei der Zweispalt zwischen Leben und Tod seine Seele genau so heftig wie der eines epileptischen Anfalls. So versinnbildlichte Fürst Myschkin perfekt diesen zweiten, unbewussten Blick, der ihn mit allem und jeden identisch sein ließ.

Schon Freud hatte die Wahrnehmungsidentität von der Denkidentität unterschieden. Die erste besteht eben aus diesem unbewussten Blick, den ich hier den zweiten nenne, obwohl es ihn ja im frühesten Kindesalter als diese wahrnehmungsidentische Sicht schon in der ‚paranoide-schizoiden Position‘ gegeben haben muss. In Lacans Blick- und Bildtheorie sowie im A. Ruhs Buch ‚Das unbewusste Sehen‘ geht es auch um diesen zweiten (ursprünglichen) Blick, aber die Autoren haben den ersten, den in die Äußerlichkeiten der Welt, nicht aufgegeben. Sie lassen einerseits diese Blicke gespalten nebeneinander bestehen.

Nur durch psychoanalytische Deutung kann andererseits ein einigermaßen einheitlicher Blick herausgearbeitet werden, bis in der nächsten Therapiestunde die Blicksynthese wieder neu stattfinden muss. Und so flickt  ja auch der Gourmet seine Spaltung in Essgier, Hunger auf der einen und seinen Gaumenkitzel und ‚au gout‘ auf der anderen in sich so recht und schlecht zusammen, und geht so immer wieder hungrig nach neuen Geschmackskreationen nach Hause. Fachlich ausgedrückt: sie retten sich alle von der ‚paranoid-schizoiden Position‘ in die ‚depressive‘, die eben die mehr oder weniger normale ist, aber das Gespaltensein nicht löst.

„Fürst Myschkin ist keineswegs der ‚russische Christus‘ selbst, es ist nur ein Wurf zu ihm hin . . . Er ist von Krankheit gebrochen, aber diese Krankheit ist Gnade, weil sie ihn, wie den Dichter, im Augenblick ihres Sieges sehen lässt, was niemand sonst zu sehen vermag: die transzendentale, die verzehrende Wahrheit. Tor ist er im Sinne des Evangeliums: die Kinder der Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Aber seine Existenz ist unmöglich in einer Gesellschaft, die vor Geldgier von Sinnen ist. So ist er Opfer und gleichzeitig Lichtbahn . . . Er ist der Absichtslose, er ist nur da,“ schreibt Reinhold Schneider, den heute niemand mehr kennt und liest. [3]

Dabei war Schneider selbst eine Art Myschkin, der an die Intensität der Seele glaubte, allerdings nur in der christlichen Form. Dies tut zwar auch Dostojewski und sein Protagonist Myschkin, aber bei diesen beiden geht es um die russische Seele, die als so exorbitant, so konservativ auf der einen Seite und so glaubensbesessen auf der anderen beschrieben wurde. Für die Liebe und Tod immer eng verbunden sind und alle Gefühle, die der Wildheit und Anbetung, des Verrats und der Heilung in die gleiche Waagschale geworfen werden. Ich muss nochmals sagen, dass diese Seele – mas o meno – nur den zweiten Blick kennt, denn der erste ist ohnehin oberflächlich. Aber man braucht ihn doch auch zur Alltagsbewältigung.

Ich möchte in diesem Buch vermittels einer selbsttherapeutischen Methode  beide Blicke zu vereinen versuchen. Diese entsetzlichen Melodramen und Tragödien des ‚Idioten‘ sind für uns zwar immer noch wichtig, aber es genügt sie in ihrer Tiefe zu kennen und mit ihm nunmehr in wissenschaftlicher Form zu arbeiten. Denn wie schon angedeutet, sind ja Myschkins Reden und philosophischen Bemühungen zu Menschlichkeit und Glück wichtiger oder mindestens genauso wichtig wie die Erörterung seines Blicks. Er erlangt durch diesen Blick zwar eine primäre Identität mit seiner Umgebung und den Menschen, man könnte auch sagen: durch eine extreme Empathie. Eine solche könnte ein Psychoanalytiker sich kaum leisten, denn er wäre dann mit den seelischen Strukturen seines Patienten identisch, und dies wäre äußerst problematisch für ihn und seinen Patienten.

Bedeutsam an der Figur des Fürsten Myschkin ist eben auch, dass er trotz seines Tiefenblicks zu der Auffassungen kommt, die es wert sind, gelesen zu werden. Durch dieses tiefe Mitleid, Mitsein, Empathie, gelangt Myschkin nämlich dazu, sagen zu müssen, dass nur diese Art der Beziehung von Mensch zu Mensch Liebe ist. Er liebt die Menschen aus deren Leid und schmerzhaften Verstrickungen heraus. Eine andere Liebe kennt er nicht, was wohl einseitig ist und weswegen er auch in der Beziehung zu den zwei Frauen scheitert, die die weiblichen Hauptfiguren im Roman sind: Natasja und Aglaia.

Natasja ist die reife, taffe Frau, die zwar eine traumatische Kindheit hatte (bezüglich der Myschkin sie ja liebt), jetzt aber grundlegende Erfahrungen im Leben gesammelt hat und somit sagen muss, dass sie Myschkin nicht heiraten kann, weil er für sie ein Kind ist, ein Träumer. Aglaia, die aufgeweckte und neugierige Jugendliche würde gerne mit ihm leben, aber sie merkt, dass er niemals eine Familie gründen könnte und von Sexualität nichts versteht. Man hat Myschkin auch mit Jesus verglichen, da dessen Reden und Ehelosigkeit auch zu dem Bild des heiligen Toren passt. Denn der offizielle Rabbiner war verheiratet und stets hat damals etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Jesus für einen dämonischen Sonderling gehalten. So steht mehrmals im Neuen Testament, wie man ihn mit Steinwürfen vertrieben hat.

Aber was ist trotzdem an den Reden dieser Männer so anziehend? Ich hatte selbst einen jungen, psychotisch kranken Mann fast zwanzig Jahre lang in psychotherapeutischer Behandlung, der trotz seiner heftig schizoiden Symptome und abstruser Handlungen erstaunliche Dinge sagen konnte.[4] Er schrieb zahlreiche Tagebücher und benötigte später auch keine Medikament mehr. Auch die Gespräche mit ihm kreisten oft um das ‚eine Wort‘, um den entscheidenden Namen, den Dostojewski ja das ‚russische Wort‘ hieß, ein Schlüsselwort für die Seele. 

Doch bahnt sich hier nicht ein neues Problem an? Es geht nicht nur um die Spaltung innerhalb des Blicks und dessen imaginärer Ordnung, sondern auch um die des Wortes und dessen symbolische Ordnung. Denn so sehr Dostojewski auch Erfolg hatte, letztlich scheiterte er an chronischer Spielsucht, an von Alkohol mitbestimmter Epilepsie und missglückte ihm meiner Ansicht nach sein Schreiben an den ausufernden Reden und Beschreibungen. Seine Werke haben heute noch kaum die Bedeutung wie vor mehr als hundert Jahren, als sie geschrieben wurden. Auch der ‚Idiot‘ ist mit seinen – je nach Ausgabe – bis zu über neunhundert Seiten und entsetzlich vielen (fast zweihundert) erwähnten Familien und Personen und ständigen und langatmigen Diskussionen oder Detailschilderungen schwer zu lesen.

Und die russische Seele von damals klingt wie eine vielschichtige hysterisch-depressive Passion. So scheitert auch Myschkin trotz relativem Reichtums und trotz seiner Friedens- und Mitleidsreden. In den Brüdern Karamasow, dessen Ausgabe bei Piper von 1922 fast sechzehnhundert Seiten umfasst, geht es wieder vorwiegend um das Problem der Vatertötung. Es ist ja gut, dass Dostojewski diese seine Vater-Ambivalenz durchs Schreiben zu lösen versucht, aber wer quält sich heutzutage noch durch ein so umfangreiches Werk? Ich bin wohl zuviel mit mir  beschäftigt und suche meine Allein-Seins-Ruhe zu retten und werde von Literaturwissenschaftlern für einen Kleingeist gehalten. Doch die Zeit rast voran und braucht knappe, persönliche und doch auch wissenschaftlich begründete Bücher (mein Oberlohn).



[1] Dostojewski, F., der Idiot, Anaconda Verlag (2007) S. 346-348

[2] Auch in diese Tendenz Dostojewskis, sich dem Zar bis zur Verherrlichung des Türkenkriegs 1877 und dem Christengott bis zur masochistischen Demut zu unterstellen, deutet Freud als Folge des Vaterkonflikts.

[3] Schneider, R. Pfeiler im Strom, Insel Verlag (1958) S. 134

[4] Hummel, v. G., Das Gerade und das Gekrümmte, BoD (2012)