Wahrheit, Eigenname und Selbstsublimierung

Niemand kann die Wahrheit ganz sagen, er müsste nämlich dem anderen einschließen in dem, was er sagt. Auch Lacan referierte im Seminar 19 darüber, dass er die Wahrheit nicht sagen könne, d. h. äußerstenfalls nur ein bisschen. Oft sagte er auch, man kann die Wahrheit nur halb sagen. Das hieß, dass von alldem was er sagte, der meiste Teil von seinen Zuhörern erarbeitet und erst dann für jeden einzelnen als Wahrheit verwendet werden kann. Viele Affekte, viele unklaren Gedanken, viele Vermutungen müssten erst geordnet werden, um von diesen einzelnen Personen als Wahrheit in ihr Seelenleben verinnerlicht werden zu können. So ergeht es einem auch beim Üben der Analytischen Psychokatharsis.

Die dort aus dem Unbewussten kommenden Sätze, Silben, Sprüche und rätselhaften Formulierungen müssen erst durch gedankliche Korrektur in das verwandelt werden, was ich die Pass-Worte nenne. Manchmal ist diese intellektuelle Arbeit gar nicht nötig. Manchmal genügen auch schon ein oder zwei Einfälle, um das Pass-Wort zu klären. Einer meiner Probanden vernahm einmal beim Üben das Wort ungenommen. Viele Personen die er dazu befragte und auch er selbst waren sich sehr schnell klar darüber, dass es ihn selbst betraf und zwar in dem Sinne, dass er nicht richtig genommen, nicht richtig angenommen worden sei, und zwar sein ganzes Leben lang, wie er meinte.

Es liegt an der Struktur dieser Pass-Worte, dass sie ganz konkret einen selbst betreffen, und es wohl auch deutlich ist, dass sie klingen wie wenn einem ein bedeutender Anderer dies sagen würde. Deswegen war diesem Betreffenden auch klar, dass er in erster Linie sich selbst nicht richtig angenommen hatte. Es mag ein bisschen pauschal klingen, wenn alles eine derartige Deutung bekommt. Aber so aus dem eigenen Inneren gehört das Pass-Wort jedoch eine besonders durchschlagende und eindeutige Wirkung. Es kommt nicht allein auf den genauen Inhalt derartiger wahrgenommene Formulierungen an, sondern auf die in ihm wohnende Überzeugungskraft, Plausibilität und Suggestionswirkung. Zudem erhält man ja im Laufe der Zeit etliche Pass-Worte, die in ihrer letztlichen Bedeutung zusammenwirken.

Es gibt jedoch auch andere Möglichkeiten mit den Pass-Worten umzugehen. So erzählte mir jemand, schon längere Zeit mit der Methode der Analytischen Psychokatharsis arbeitete, dass er beim Meditieren schon fast eingeschlafen war, er jedoch noch den Ausdruck vernahm: „Da kann nur der Brender Naida helfen“. Seltsam, der so noch gerade Meditierende konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Namen Brender Naida bedeuten sollten. Es gibt zwar im Internet Hinweise auf diese beiden Namen, aber auf keinen Fall einen Zusammenhang der beiden miteinander. Auch Assoziationen zu Naida als einen Hinweis auf Neid  brachte ihm kein Ergebnis. Er meinte jedoch gut damit leben zu können.  Er sagte, dass er in diesem Namenspaar eine für ihn wichtige, innerseelische Instanz erkennen könne, wie sie eben für das Unbewusste typisch sei. Im Verlauf eines weiteren Gesprächs über diese seine Erfahrung diskutierten wir zwei Bedeutungsmöglichkeiten.

Die eine bezog sich auf Freuds Auffassung des Ödipuskomplexes und des damit im Zusammenhang stehenden Motivs der Vatertötung. Freud war der Auffassung, dass der gehasste oder getötete Vater später aus Schuldgefühlen zu einem Gott erhoben wird, der dann wieder mit einen ihm eigenen Namen bezeichnet wird. Man kann es jedoch auch andersherum sehen. Der Vater könnte auch in zu idealisierter Weise geliebt worden und so nach seinem Tod als Übertragungsobjekt weiter namentlich bewahrt worden sein. Es handelt sich um ein Bewahren in Trauer und liebevoller Sehnsucht. Beim einem derartigen Übertragungsobjekt kann dann freilich nicht durch entsprechende Übertragungsdeutungen wie sie der Psychoanalytiker handhabt, die Übertragung, die inadäquate Bedeutungen enthält, korrekt aufgelöst werden. Dennoch hat der Eigenname auch seinen speziellen Wert.

Lacan hat ausführlich in mehreren Seminaren über den Eigennamen referiert und klargelegt, dass er nicht mit den üblichen logischen Mitteln definiert werden kann. Er führt eben sein eigenes Leben. Im Falle des gerade genannten Adepten der analytischen Psychokatharsis stellt sich trotzdem die Frage, wie kann man einen derartigen Namen, der keine historische, keine genealogische und auch sonst nicht zuordenbare Stellung hat, in den seelischen Prozess zutreffend einbringen. Soweit ich es mit dieser betreffenden Person besprechen konnte, durfte man die Frage aber offen lassen. Der seltsame Doppel-Name konnte erst einmal so bleiben und für den Betreffenden eine Stütze sein. Beim weiteren Üben würden neue Ergebnisse die Situation und Deutung verbessern. Für meine zusätzlichen theoretischen Erörterungen der Analytischen Psychokatharsis blieb die Sache dennoch auch so belassen interessant. Denn das Unbewusste als solches hat keinen Namen. Man muss ihm – wie Lacan sagt – einen geben. Dies tut er ja im Rahmen der psychoanalytischen Deutungsarbeit, und warum sollte man es nicht auch im Rahmen der Meditation tun, wenn diese auf wissenschaftlicher und psychoanalytischer Basis aufgebaut ist und der Übende sie akzeptieren kann.

Durch allgemeine Sublimation und Selbstsublimierung gelingt es ja vielen Menschen in Bereiche zu gelangen, die sie spirituell nennen. Es handelt sich um Bereiche, die von wissenschaftlicher Seite her für grenzwertig gehalten werden. Auch die Ausübung herkömmlicher Religion gehört hierher, und sie hat daher meist nicht die psychotherapeutische Wirkung, um die es hier in meinem Artikel letztlich geht. In einem neuen Buch hat der Soziologe Hans Joas (Die Macht des Heiligen, Suhrkamp, 2017) versucht, diesem durch hohe Sublimation zu erreichenden Bereich unter dem alten Begriff des Heiligen eine neue Stütze zu geben. Er versucht mit Religionsgeschichte sowie Aufwertung des Rituals und des Transzendezbegriffes eine neue Heiligkeit zu schaffen. Dafür propagiert er eine "kollektive Selbstsakralisierung", also so etwas wie eine Selbsterhebung in den Himmel, der nach wie vor von religiöser Konfession besetzt bleibt. Ist das nicht uralte Mystik wie sie die heilige Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz schon längst besser betrieben haben?

Aber so sehr dies nur in veralteter und zwanghafter Form gelingen würde, warum sollte dies dann nicht eine durch die wissenschaftliche Methodik der Analytischen Psychokatharsis gewonnene und vom innersten Unbewussten her stammende Namensgebung noch eher und zeitgemäßer erreichbar sein?. Denn damit könnte mein Proband wissenschaftlich und psychologisch modern weiter arbeiten. Schließlich beginnt er jetzt nicht den Namen Bender Naida allen möglichen Leuten als etwas Heiliges zu vermitteln und sich unter dem Mantel eines sogenannten "Sakralen" in Selbsttranszendenz zu versetzen. Er nutzt diesen Eigennamen des Unbewussten nur für sich und beruft sich weiterhin auf die wissenschaftliche, psychoanalytische Grundlage. Ein Problem entstünde vielleicht lediglich dadurch, wenn der Übende auf mehrere derartiger ungeklärter Eigennamen seine spezielle Gewichtung setzen würde. Der unbewusste Eigenname hat ja eine starke Position, bei dem man nicht unzählige aneinanderreihen kann. Wenn es bei einem, zwei oder drei derartigen anfänglich seltsamen, aber für den Betreffenden akzeptablen und lebbaren Ausdrücken bleibt, könnte man die Sache doch so belassen.

Denn man muss bedenken, dass bei der Analytischen Psychokatharsis ja bis zu fünf Formel-Worte verwendet werden, die ja ebenfalls eine ähnliche Position haben. Sie rufen zwar nicht Götter an, verwenden aber wie der „linguistische Kristall“ (eine Bezeichnung Lacans für das Zentrum des Unbewussten) sprachliche und bildliche Kernelemente im Zusammenhang von bewussten und unbewussten Strukturen. Von da her gesehen hat ja jedes Pass-Wort seine wichtige Stellung und Bedeutung. Lediglich eine kleine rationale Korrektur an einem nicht voll aussagefähigen Pass-Wort mag sinnvoll sein. Andere muss man eventuell verwerfen oder man behält sie – dann jedoch nur mehr oder weniger als einzelne – wegen der speziellen eigenen Bedeutung für den Betreffenden bei sich selbst. Dann kann man von wissenschaftlich orientierter Selbstsublimierung sprechen, die sich einen Namen gibt ohne den Himmel oder andere unwissenschaftliche und sogenannt spirituelle Vorstellungen bemühen zu müssen.