Die radikale Wende des Subjekts

Als ich bei der Bundeswehr war, erzählte mir ein älterer Offizier, was die entscheidende Wende in seinem Leben war. Der Krieg war fast zu Ende, vielleicht hat er noch drei Tage gedauert, als er sich von seiner Einheit losmachte, also im Grunde genommen desertierte,  und versuchte nach Hause zu kommen. Er ließ sich auf der Ladefläche eines Lastwagens mitnehmen, als zwei, drei höhergradige, bewaffnete Militärs zustiegen und er damit rechnen musste, dass man ihn als Deserteur entlarven und sofort erschießen würde. Er fühlte in diesem Moment, dass etwas in ihm fest wurde, dicht, fester einfach und sein Atem etwas schwerer ging, sein Bauch sich verhärtete und seine Beine wie taub und doch schmerzhaft wurden. Ihm war in diesem Moment alles egal, das Empfinden von Dumpfheit und Dichte ließ lange nicht nach, und doch hatte er schon bald den Eindruck, dass er irgendwie in sich zum ersten Mal in seinem Leben gefestigt, gestärkt und unverletzbar wurde. All dies, das er nunmehr sein Gefestigtsein nannte, verließ ihn nicht mehr.

 

In meinem Buch ‚Signifikant Gott?‘ habe ich die Situation des Menschen früherer Zeiten aufgegriffen, der zwischen zwei ganz bildhaften Geistwesen, Gott und Teufel, eingeklemmt ist. Ich benutze extra das Wort ‚eingeklemmt‘, weil es an etwas Ähnliches erinnert wie es mein Offizier erlebt hat, auch wenn es nicht um ein ‚gefestigt‘ sondern eher um ein  ‚gebunden‘ oder gar ‚gefesselt‘ geht. Ich hatte in diesem Buch die Linguistik und die Psychoanalyse Lacans herangezogen, um Gott als etwas darzustellen, das nicht als Einheit, einheitliche Person oder als rundes Ganzes zu denken sei, und der Mensch nicht mehr als zwischen zwei stark durch bildliche Vorstellungen bestärkte Geistwesen, sondern zwischen zwei Signifikanten, zwischen zwei Bedeutungseinheiten, Bedeutungskörpern, subjektbezogenes Repräsentiertes zu verstehen wäre. Der Kampf, der zwischen zwei Mächten die menschliche Seele repräsentierte, sollte jetzt laut Lacan durch einen Sprach- und Bedeutungskonflikt repräsentiert sein. Kurz, Gott (samt Teufel) hat etwas mit dem Unbewussten und mit dem Charakter von Sprache zu tun, und wird daher viel besser von der Linguistik und Psychoanalyse her dargestellt, als durch mächtig aufgestellte Vorstellungen und dramatische Bilder, die ihre je eigene Lumineszenz enthalten.

In ganz ähnlicher Weise wird Gott (samt seinem Schatten) vom urkatholischen Religionsphilosophen R. Spaemann als ein „unsterbliches Gerücht“ bezeichnet. Ich habe in meinem Buch betont, dass dies keine negative Aussage ist, denn es handelt sich um ein Sprechen, das seit ewigen Zeiten her und auch für weitere Ewigkeit Gültigkeit hat, doch verkündet es sich nicht halsschreierisch und laut, sondern nur wie hinter vorgehaltener Hand und nur vom Gläubigen zum Gläubigen wie ein Gerücht. Die zwei Signifikanten stehen jetzt einerseits dem ‚Unsterblichen‘, einer nie erlöschenden Lumineszenz, andererseits dem Gerücht, dem Gerede nahe, und der Mensch samt seiner Seele befindet sich eben dazwischen.

Trotzdem besteht die Frage, wie kann solch ein ‚unsterbliches Gerücht‘, dass also kein persönlicher, anthropomorpher, Allmächtiger und Allwissender mehr ist, sondern ein zwar unsterblich und sprachlich Verfasstes, überhaupt noch zu einem Wendepunkt im Leben eines Menschen werden? Wenigstens ist klar, dass ein menschliches Subjekt, repräsentiert von einem Signifikanten für einen anderen, zweiten, Signifikanten (ein Statement J. Lacans wie gerade oben ausgedrückt) diesem psychischen Beziehungskonflikt, der auch eine Bild- und Sprachkonfrontation ist, ausgeliefert ist. Lacan meinte natürlich, solch ein menschliches Subjekt geht am besten in eine Psychoanalyse wie er sie konzipiert hat, und lässt sich dort behandeln und den Konflikt lösen.

Doch zweifellos geht in der Psychoanalyse Gott als dieses Herrliche, wenn auch vom Teufel jederzeit Störbare, irgendwie verloren. Nun sagen die Psychoanalytiker, dass dieses Herrliche nur der Effekt einer besonders starken Übertragung ist. Die eigene Lumineszenz wird auf den Anderen übertragen und spiegelt sich als Herrliches zurück.[1] So wie man auf den Psychoanalytiker in inadäquater Weise, aber dennoch positiver Regung Bedeutungen aus anderen oder verjährten Beziehungen überträgt, so tut dies auch der Gläubige gegenüber Gott und verhält sich damit genauso inadäquat. Was verloren geht und in der analytischen Psychotherapie auch verloren gehen soll, ist diese Inadäquatheit, doch geht auch die positive Regung damit unter. Nur das ‚unsterbliche Gerücht‘ und die Eingeklemmtheit des Subjekts bleibt, denn das Subjektbezogene stellt doch gerade die Seele dar. Mag das Ich auch ein ‚imaginäres Objekt‘ sein, wie Lacan behauptet, so ist doch das Unbewusste und der dort angesiedelte Sprachbezug  tiefgründig seelisch, egal ob unsterblich oder nicht. Und eben da liegt die Möglichkeit des Wendepunktes.

Der besteht jetzt nicht darin, sich vom sogenannten Teufel abzuwenden und sich dem sogenannten Gott zuzuwenden, sondern in der Konfrontation der Bild- mit der Sprachwelt. Wie geht Bildhaftes in Worthaftes über und umgekehrt. Dass großartige Poesie Bilder hervorzurufen vermag und Bilder großer Maler etwas (oft schon in ihren Titeln) sagen, ist bekannt. Doch es muss eine viel direktere Umwandlung geben, die eben direkt im Subjekt selbst passiert. Dazu kann die positive Regung, die positive Übertragung durchaus hilfreich sein, sie muss nur durch die kompakteste, konkretest mögliche Wendepunktigkeit von statten gehen. Eine derartige Wendepunktigkeit stellt das seelisch Reale dar, das Lacan zufolge immer am selben Platz erscheint und die Grenze oder Unmöglichkeit darstellt, psychisch weiterzukommen. Die Kehre, Begriff des Philosophen M. Heidegger, das radikale Anders-herum-gestoßen-Werden, die Konfrontation mit dem Tod, alles dies sind jedoch eher negativ Reales, so wie Gott eben auch nicht mehr positiv genug erscheint, um die totale Wende meistern zu können.

Diese Wende kann nur eine Kehre ermöglichen, die das Subjekt im Bild- und Worthaften in engster Kombination auf sich selbst zurückwirft. Für das Bildhafte spielen dabei einfachste Formen der Lumineszenz, etwa Topologisches aus der Einsteinschen Geometrie eine Rolle, und für das Sprachhafte phonematische Elemente, die gerade noch am Rande des Normalsprachlichen stehen. Ich zeige eine Kombination dieser beiden in der nebenstehenden Abbildung. In der hier gezeigten Boyschen Figur stellen Vor- und Rückseiten der drei Wölbungen nur eine zusammenhängende Fläche dar, auf die Buchstaben geschrieben sind, die in einem Schriftzug mehhrere Bedeutungen enthalten, je nachdem von welcher Krümmungs- bzw. Schnittstelle aus man sie liest. Meditiert man diese Formulierung, wird sie einem sowohl von der bildhaften wie auch der worthaften Seite her auf einen selbst zurückwerfen und aus dem Unbewussten eine entsprechende Antwort zur eigenen Identität provozieren. Ausführliche Schilderungen und Begründungen zu diesem letzten Absatz will ich hier nicht weiter ausführen, sie finden sich in vielen Kapiteln dieser Webseite.



[1] Um es besser zu verstehen kann ich hier Saint-Exupérys Satz zitieren: ‚Nur mit dem Herzen sieht man gut‘. Das heißt, nur mit der aus dem eigenen inneren Körperbild zu Anderen hin projizierten Lumineszenz sieht man deswegen gut, weil diese Lumineszenz einen innerlich selbst erleuchtet. Für den Psychoanalytiker ist die Lumines- oder Phosphoreszenz ein ‚ultrasubjektives Ausstrahlen‘ des Körperbildes, der bildhaften ganzkörperlichen Verfasstheit.