Das Ja der doppelten Verneinung

S. Freud hat immer wieder betont, dass es kein Nein im Unbewussten gibt. Es existiert also etwa Bejahendes, Widersprüche und Gegensätze sind im Unbewussten aufgehoben, und trotzdem gibt es dort eine Art von Rede, Sprachliches, symbolisch Geordnetes, von dem man gewohnt ist, dass man damit Widersprüche ausdrücken kann. Das Ganze ist am leichtesten zu verstehen, wenn man das unbewusst Seelische so auffasst, dass es wie eine doppelte Verneinung fungiert. „Der Gärtner hat Recht,“ ist eine Bejahung, „Der Gärtner hat nicht unrecht“, eine doppelte Verneinung, die also keine direkte Bejahung ist, und doch

drückt sie ganz klar etwas Bejahendes aus. Die Betonung des Rechthabens ist im ersten Fall viel stärker, während die Sache des Nicht-Unrechthabens im zweiten Fall etwas in der Schwebe bleibt. „Er hat nicht unrecht“, kann leicht ergänzt werden durch ein „aber um für wirkliche Recht muss noch etwas getan werden. Die Bejahung ist differenzierter, aber eben auch nicht so direkt und genau. Man könnte denken: „Der Gärtner hat selten Recht, aber jetzt hat er nicht unrecht. Jetzt muss man ihm etwas Recht zugestehen“.

Lacan hat diesen Sachverhalt so ausgedrückt:  Der Konflikt mit dem Vater-Symbol bringt grundsätzlich in das Seelenleben der Menschen die Negation, das Negative oder die Verneinung hinein. Da mit dem Vater-Symbol so etwas wie eine gesetzliche Rede verbunden ist, gibt es Auflehnung und Revolte dagegen, die im schlimmsten Fall zur Ermordung dieser Figur beiträgt, das Symbol selbst jedoch nicht ganz vernichten kann. In diesem Konflikt tritt somit auch der Tod zu Tage, der im Unbewussten eigentlich nicht existiert, da ja auch Leben und Tod dort kein Widersprich ist. Dort herrscht sozusagen noch eine weiblich-mütterliche Regie vor, in der das Sterben und er Tod nur eine andere Art des Lebens, ja eines Festes war, wie es auch heute noch in Teilen Indiens praktiziert wird.

Dort wird der Gestorbene in Tücher gewickelt und Tanzbewegungen und freudiger Musik zum Grab getragen, das Leben geht weiter wie vorher und ob der ganze Vorgang jetzt durch eine Wiedergeburtstheorie oder sonst etwas begleitet wird, ist egal. Bei den Frühmenschen verhielt es sich genau so, der Kampf ums Überleben war wesentliche härter als heute und für sexistische Veranstaltungen war ebenso wenig Zeit und Platz, wie für Tod- und Begräbnisgeschichten. Die große Muttergöttin waltete in allem, die Vaterproblematik wurde einfach durch äußere Gewaltanwendungen geregelt, indem die physisch Stärkeren und geistig Gewaltbereiteren den Ton angaben. In gewisser Weise ist dies auch noch so auf unserem Planeten zu beobachten. Doch im Grunde genommen war auch diese frühe Verfasstheit der Menschen durch die doppelte Verneinung charakterisiert. Man wusste sehr wohl, dass ein Vater mit zur Zeugung beiträgt, aber man verneinte sein gesetzartiges Wesen. Der große Baum hat im Mondlicht geraschelt, die Wellen des Flusses geschäumt, danach bin ich schwanger gewesen, sagten die Frauen.

Anders ausgedrückt: Die widerspruchs- und gegensatzlose, aber auch chaotische Urnatur war nämlich schon deutlich angekratzt. In dieser wilden Welt herrschte bereits die ‚Ein-Wort-Sprache‘ vor, also die Vermittlung durch Losungs- bzw. Identitätsworte in den menschlichen Kleingruppen.[1] Lacan nannte dies den ‚Herren-Signifikanten‘. Befehlsartige Losungsworte, die die Zugehörigkeit zum Clan betonten und schlichte Anweisungen waren, hatten noch eine starke Ähnlichkeit mit dem beginnend Sprachlichen Im Unbewussten. Verleugnung und Verdrängung spielten noch nicht diese Rolle. Die Negation, das Negative, Verneinende war jedoch als psychische Spaltung schon gegenwärtig. In dem Moment, in dem der Mensch sich zu einem ganzen Wort aufgeschwungen hatte, war ihm die Urnatur bereits deutlich verloren gegangen, eine erste Verneinung liegt also trotz aller noch ursprünglicher Verhaltensweisen und seelischen Einstellungen schon vor. Sie liegt im Fall der schwangeren Frau durch paranoide Projektion vor, im zweiten Fall durch depressive Verinnerlichung.

Eine zweite Verneinung war allerdings noch nicht so sichtbar. Wie wild kämpfte eben der Mensch um sein Überleben, das er mit rauschhaften Jagden, mit Fortpflanzung und Gruppendynamik ausstattete, um das Leben – trotz seiner Verneinungen – so zu bejahen. Eine zweite Verneinung kam erst mit dem geschilderten Vater-Symbol und dessen ausgeprägter Problematik ist Spiel. Sie rettete jetzt auch in komplexerer Weise die Gestaltung des Lebens, z. B. Viehzucht und später Ackerbau, indem sie so eine indirekte Bejahung produzierte, die jedoch auch zum Gesetz führte und zum Gesetz wurde. Doch jedes Gesetz fordert seine Verneinung heraus, die zweite Verneinung, die eine schwache Bejahung ermöglichte.

Wie gesagt ist es etwas anderes, wenn jemand sagt, „er hat recht“, als wenn gesagt wird, „er hat nicht unrecht“. Noch ein Beispiel: „ich tue das Mögliche“, klingt anders als wenn gesagt wird, „ich tue nicht das Unmögliche“. Das Mögliche zu tun frägt nicht danach, ob es auch ein absolut Unmögliches geben könnte, während im Fall der doppelten Verneinung klar ist, dass die Grenze des Unmöglichen existiert, die Lacan das ‚Reale‘ nennt. In diesem Fall klingt die doppelte Verneinung auch danach, dass „Unmögliches zu tun“ wie eine Erwartung im Raum steht. Denn wo wird nicht Unmögliches erwartet, die Eltern erwarten es von den Kindern, die Arbeitgeber von den Angestellten und die Gläubigen von Gott.

Auch wenn das Unbewusste also keinen Widerspruch und keine Gegensätze kennt, wenn es den Unterschied von Mann und Frau oder den von Tod und Leben nicht artikuliert, so enthält es doch die doppelte Verneinung, nämlich die der ‚Ein-Wort-Sprache‘, die die Urnatur verneint, aber auch die der Spaltung und später auch noch die der Verdrängung und Verleugnung, indem alles zunichte geredet und wird. Trotzdem hat diese  doppelte Verneinung einen Sinn, denn sie ermöglicht die Fülle des Sprechens und der Sprachen, wenn es auch die Lüge und das leere Sprechen enthält, in dem im Grunde genommen nichts gesagt wird. Insgesamt stellt so die Situation des Menschen nur die halbe Lösung dar. Die Gebundenheit an die Urnatur, der das Tier noch völlig unterliegt, ist zwar aufgehoben, aber eine perfekte Verständigung und Orientierung im menschlichen intrasubjektiven und intersubjektiven Leben ist nicht gegeben. Der Vater ist zwar anerkennt, aber dennoch nicht in seiner Komplexität begriffen.

Doch – über all diese früheren und heutigen Geschehnisse hinaus – die doppelte Verneinung enthält ja auch eine kreative und positive Fähigkeit. Sie ermöglicht auch eine Rückkehr zur Urnatur und ursprünglichsten Bejahung des Unbewussten. In der klassischen Psychoanalyse gelingt diese Rückkehr (als Regression zur frühen seelischen Verfasstheit) zwar nicht ausreichend, jedenfalls kommt man nicht noch hinter die erste Verneinung zurück. Grund dafür ist die oben genannte Vaterproblematik, die Verwendung des Vater-Symbols. Schon in der ‚Ein-Wort-Sprache‘ ist das Vater-Symbol konfliktbeladen und wird nur durch Mythen vom Schöpfer oder Vatergott und schließlich gar vom monotheistischen überglobalen Gott thematisiert. Immer strahlen in dieses Wesen der Mann, der Bruder, der Clanherrscher, das Familienoberhaupt und alle anderen möglichen Bezeichnungen hinein und lassen nicht den eigentlichen, symbolisch-realen, den wirklichen Vater, kurz: denjenigen erscheinen, der beweist, definitiv belegt, zeigt, sagt, was es heißt Vater als solcher zu sein. Vater in seiner Paternität, nicht nur aus der Bejahung der doppelten Verneinung heraus, sondern als –wie Lacan es schreibt – als ‚ex-sistierender‘ Vater (der ‚ex‘, von außen her, ‚sistiert‘, d. h. beharrt, ist). Derjenige ‚Urvater‘ inmitten der Urnatur, den Freud schon den Urvater nannte, was jedoch nichts endgültig klären konnte.

In der herkömmlichen Psychoanalyse wird mittels ‚freien Assoziationen‘, Versprechern, Fehlleistungen, Traumdeutungen die zweite Verneinung so umgebogen, dass die im Unbewussten bestehende Bejahung als Wahrheit herauskommen kann. Doch wie gesagt gelingt diese Umwandlung des Negativen ins Positive nicht weit genug. Klären kann jedoch etwas – so mein Versuch eines neuen Verfahrens aus der psychoanalytischen Tätigkeit heraus entwickelt – das schon inmitten der ersten Verneinung die zweite so einschließt, dass die Bejahung geradezu erpresst wird. Das Verneinungselement wird so gestaltet, dass es die regressiven Zurückelemente schon in sich birgt, also das Vater-Symbol unmittelbar darstellt, das sich selbst zurückbiegt. Selbst das Ein-Wort ist dann kein richtiges Wort mehr, hat aber doch so viel Wort- und Sprachhaftes, dass es gedacht und auch artikuliert werden kann. Ich habe so etwas ein Formel-Wort genannt, das in einem einzigen Schriftzug mehrere Bedeutungen enthält, je nachdem von wo aus man es liest, so dass man sich auf keine einzelne Bedeutung stützen kann, obwohl es eindeutig Wortcharakter hat. Man könnte es ein Wort aus einer Fremdsprache heißen, doch dies würde seinem rückwärts wirkenden Wesen nicht genug gerecht. Ein Beispiel zeigt die nebenstehende Abbildung des im Kreis geschriebenen Formel-Wortes AREVIDEOR, das eben auch VIDEORARE oder ORAREVIDE geschrieben werden kann, denn es enthält z. B. folgende in der Fußnote angegebene Bedeutungen.[2]

Übt man nämlich ein derartige Formulierung in einer Meditation, wird sichtbar, warum damit – sogar auf wissenschaftliche Weise – die zweite Negation in eine rückwirkende Position verwandelt wird, die jetzt anstatt die indirekte Bejahung zu haben, zur direkten Bejahung führt. Denn dieses Formel-Wort repräsentiert selbst eine Verneinung, es hat keinen Sinn. Der Sinn ist von den vielen Bedeutungen überdeterminiert wie man es auch vom Traum sagt, er wird gerade durch die vielen Bedeutungen verhindert, weil man sich auf keine einzelne festlegen kann. Dennoch aber spricht man, wenn man diese Formulierung gedanklich wiederholt. Man spricht zurück ins eigene Unbewusste und bricht dadurch deren Ein-Wort-Sprache auf, so dass die Bejahung frei gegeben wird, und zwar durch ein neues Ein-Wort. Nochmals  kurz:

In den üblichen Meditationsverfahren richtet man die Aufmerksamkeit ins dunkle, leere Innere. Dadurch wird der seelische Innenraum erweitert und letztlich gefüllt oder beherrscht von dem Rahmen (religiöser, mythisch vorgegebener Art), in dem die Meditation stattfindet. Das Verständnis der doppelten Verneinung ermöglicht jedoch eine wissenschaftlich begründete Meditation. Wie gesagt drücken die zwei Verneinungen eine geschwächte Bejahung aus, so auch, wenn ein Patient in der Psychoanalyse einen Gedanken massiv abwehrt, also verneint, damit aber genau auf die Lösung hinweist, in der die Wahrheit als Bejahung aus dem Unbewussten herausgedeutet werden kann. Oft bleibt der Patient aber bei seiner Abwehr, er kann den Vorteil der Wahrheitsbejahung trotz Hilfe des Therapeuten nicht erkennen. Anders jedoch bei der Meditation eines oder mehrerer Formel-Worte.

Hier hilft, aber hindert auch kein Therapeut. Lacan sagt ganz klar, dass der größte Widerstand in der Therapie vom Therapeuten selbst ausgeht, da dieser meist nicht alles perfekt analysieren kann. Der Meditierende dagegen wiederholt nun eines oder mehrere sinnlose Formulierungen und gerät dadurch immer tiefer ins Unbewusste hinein. Er kommt an die Schnittstellen der Verdrängungen und Spaltungen, an die ursprüngliche Ein-Wort-Sprache, die mit – und nur mit – derartigen Formel-Worten bombardieren und schnittstellenbezogen aufbrechen kann.[3] Das einzige was wichtig ist: er muss von der wissenschaftlichen Seite her klar überzeugt sein, muss nachlesen und intellektuell selbst immer wieder geklärt an dieses Verfahren herangehen, so dass er auch in der Bedrängnis durch die traumatischen Stellen im Unbewussten bei der gedanklichen Formulierung beharrlich verbleiben kann, bis er soweit hindurch ist, dass es ‚sieht‘ oder ‚hört‘, was ich ein Pass-Wort nenne, also genau dieses Identitäts- oder Wahrheitswort, das die ursprünglichste Bejahung mit sich führt.

Durch die erste Verneinung bestimmt, hat er durch die zweite Verneinung (jetzt das Verneinen der normalen Sprache im Formel-Wort, das fast nur noch ein Nonsenswort ist), die nunmehr jedoch rückwirkend, zurückgehend ist, wieder den Ausgangspunkt der ersten Verneinung erreicht. Diese kann er zwar nicht völlig nivellieren, völlig löschen, denn sonst wäre er wieder in der chaotischen Urnatur, in der total ‚vaterlosen‘ Welt, in der traumatischen Urschreikommunikation, erhält aber – wenn er immer wieder meditiert – vielleicht nicht gleich jedes Mal oder doch häufig ein Pass-Wort, das ihm zur Selbsterfahrung und Wahrheitsfindung, zur völligen seelischen Regeneration dient. Ausführliches dazu in vielen Artikeln der Webseite und in dem Buch ‚Analytische Psychokatharsis‘.



[1] Ich benutze hier einen Ausdruck, der das wiedergeben soll, was Lacan die Sprachstruktur des Unbewussten nannte.  Sie besteht aus „ultrareduzierten Phrasen“, wie sie wohl auch die Frühmenschen benutzt haben und deren Relikt auch unser Unbewusstes zumindest rein strukturell noch beherrscht. Ausführlichere Hinweise in meinem Buch ‚Das konjekturale Denken‘.

[2] A  RE VIDEOR Ich werde von etwas gesehen, DE ORARE VI Vom Sprechen mit Überzeugungskraft, VIDEO RARE Ich nehme ungewöhnlich wahr, REVIDE ORA Schau wieder hin, bete! IDEO  RARE  V  Deswegen selten Fünf, AREVI  DEO  R Ich bin vertrocknet durch den Gott R. und einige weitere. Ich habe hier absichtlich auch die skurrilen Beispiele aufgeführt, denn es ist ja egal, wie sie heißen. Wichtig ist nur ihre Disparatheit, dass man den psycholinguistisch wissenschaftlichen Aufbau kennt und dass es nur um den Wortklang des einen Schriftzugs geht.

[3] Wenn man einen ultraorthodoxen Katholiken, einen Rechts- oder Linksradikalen, einen Perversen, einen Drogensüchtigen oder Geisteskranken etc. nicht mit Worten, nicht mit üblicher, wenn auch behutsamen oder professioneller Rede, im Kern seines Wesens erreichen kann, dann deswegen, weil man ein derartiges Werkzeug nicht zur Verfügung hat.