wertlos

Bin wertlos. Bin ein kleiner Schreiberling, der noch dazu glaubt, etwas entdeckt zu haben und davon berichten zu müssen. Ich bin nicht Nichts, gewiss. Aber einen Wert über dieses ‚Nicht Nichts‘ hinaus gibt es – wie wohl bei den meisten Menschen – auch bei mir wohl nicht. Das soll nicht heißen, dass der Abteilungsleiter einer großen Firma oder der Oberarzt eines städtischen Klinikums nichts wert ist. Denen geht es ja vielleicht nicht nur um Geld und Macht, was wirklich jedem echten Wert spottet. Aber genügt Karriere? Genügt soziale Anerkennung? „Das Genügen des Genüges ist beständiges Genügen“, sagte der zenbuddhis-tische Lehrer Lao Tse dümmlicherweise.  Denn der Zenmeister meinte damit einen Zustand von totlangweiliger Selbstgenügsamkeit. So etwas hilft heute niemand. Kein Geld-, Macht- oder Karriere-Mensch würde von so einem Spruch auch nur zu einem Wimpernschlag be-wegt. Heute durchschaut jeder, wenn man durch Askese, Weltentfremdung und Eremitenda-sein, also durch die totale Selbstentwertung und Armutsgeste hintenherum als der Reichste und Weiseste gelten kann. Im Nichts steckt – so gesagt- das größte Etwas.

Aber auch Macht und Geld genügen nicht, auch die gelungene Karriere nicht. Selbst Wissen-schaft ist nur eine Form der Paranoia, behauptete Freud. Nach dem Krieg glaubten die Ame-rikaner, die Ursachen des Herzinfarkts in verengten Herzkrankgefäßen gefunden zu haben. In Deutschland gab es einige Ärzte, die die Ursache in der Herzmuskelzelle vermuteten, aber gegen die Macht der Karriereärzte aus der Siegermacht kamen sie nicht durch. Erst jetzt, fünfzig Jahre später, bestätigte sich die deutsche Version. Patienten, die einen Koronarstent  bekommen hatten, hatten oft weiterhin Schmerzen, aber mit den neuen, auf den Herzmuskel selbst wirkenden Medikamenten,  konnten diese gebessert werden. Überhaupt soll der Stent wertlos sein.  Auch in der Wissenschaft ist also nichts hundertprozentig gesichert, weil sie der Karriere dient. Doch diese Erkenntnis macht meine Wertlosigkeit nicht wett. Ich schrei-be aus Not.
Im letzten Jahrhundert erfanden die Sprachwissenschaftler die Signifikanten. Sie unterschei-den sich von den Signifikaten, den Bezeichnungen bzw. dem Bezeichneten, also ‚Tisch‘ z. B. für dieses Ding mit vier Beinen und einer Platte drauf. Die Signifikanten aber geben den Ton an, sie zählen, werten, bestimmen, was, wozu, für wen, warum etc. ‚Tisch‘ wirklich TISCH ist, Tisch zum Essen, Arbeiten oder mit der Faust draufzuschlagen. Für den Menschen aber gilt, dass er zwischen zwei Signifikanten steckt, zwischen zwei Bestimmern, Vater und Mut-ter z. B. am Anfang des Lebens und das ohne Signifikat. Der kleine Mensch weiß nicht, wer er wirklich ist, obwohl er viel wert ist. Doch dazu muss man Vater und Mutter hinter sich lassen, was ebenfalls viel wert ist, aber selbst da bin ich bin ich noch nicht viel wert, bin nicht gerade Nichts, aber eben auch nichts darüber.
Was soll werden? Wie gehe ich jetzt weiter? Jeden Tag sitze ich vor dem Fenster und denke mir: diese wunderbaren Blätter der Rotbuche, die im Wind schaukeln, dahinter Wolken, und alles ist da. Doch ich schreibe das nur. Auch wenn ich dem Leser einen Virtual-Reality-Brille aufsetzen könnte und er die Rotbuchenblätter sähe, erhöhte dies nicht den Wert. Dem Wertlosen ist alles gleich wenig wert, könnte ich Lao Tse ergänzen, aber es stimmt nicht. Ich bin nicht depressiv. Ich suche nur außerhalb von Karriere, Macht und Geld den Wert des Wertes.  Und ich habe etwas gefunden. Ja, jetzt könnte mein Wert steigen.
Denn wenn es die Signifikanten sind, die paarweisen oder mehrfachen Bestimmer, ‚Bedeu-ter‘, zwischen die wir eingeklemmt sind, hilflos, weil ohne Signifikate, könnte doch genau da der Wert liegen, den die Sprachwissenschaftler gemeint haben. Die Psychoanalytiker ha-ben ihn auch schon genutzt. Als ein Patient von ‚Van Houten‘ geträumt hat, fragte ihn Freud: „Wann haut denn – die Mutter?“ Und als eine Frau träumte, ‚schwarzer Rettich‘ lag im Ge-müseladen, fragte er: „Schwarzer: rett‘ dich?!“ Phoneme purzeln durcheinander, die Kette der Signifikanten überschneidet sich, die Kreuzworträtsel, die Versprecher, die Bild-Wort-Salven überlappen sich. Das erzeugt Wert, den Wert der Wahrheit, der hinter den sich durchwindenden Syllaben, Laut- oder Schriftzeichen steckt. Denn die Menschen können die Wahrheit immer nur halb sagen, sie müssten sonst beim Sprechen miteinander verschmel-zen. Sprechen heißt, die Dinge vor sich herschieben bis das Wort, die Silbe oder die Buch-stabenkombination gefunden ist, die wirklich etwas sagt. Sagt sie nichts, ist das Leben ver-tan.
Der Wert liegt nicht im Wert als solchem, sondern im Zwischenbereich, wo er wertlos er-scheint, es aber nicht ist. Zwischenbereich heißt: zwischen den Lauten, den Phonemen, den Buchstaben, also da, wo die Sprache schon fast nicht mehr Sprache ist, und doch ist sie noch Enthüllung. Enthüllung der Wahrheit. Diese Zwischenzeichen taugen eben nicht mehr so richtig zum Sprechen, sie sind wie ein Mene-Tekel, das man erst deuten muss, aber das ei-gentlich alles sagt. 
Die im vollen Wortlaut ‚Mene Tekel Phares‘ bekannte Zwischenzeichen-Metapher ist die des babylonischen Königs Belsazar aus dem Alten Testament. Als er prahlend und betrunken die heidnischen Götter preist, erscheint plötzlich eine geisterhaft leuchtende Hand, die an die Wand die genannten Worte schreibt. Niemand kann die Schrift deuten, nur Daniel, der junge jüdische Traumdeuter, kann sie lesen und nach seiner Aussage bedeutet sie: „Mene: „gezählt“ (die Tage der Königsherrschaft), Tekel: „gewogen“, (gewogen und für zu leicht befunden) Phares: den „Persern“ (wird dein Königreich gegeben). Daniel wird darauf reich beschenkt, doch dem König Belsazar nützt dies nichts mehr. Er wird noch in derselben Nacht umgebracht.
Ohne die wahre Zeichendeutung hat also alles keinen Wert. Bin selbst jetzt nicht mehr so wertlos, denn beim Schreiben steigt der literarische Pegel. Er fällt zwar sofort wieder, wenn einen nichts mehr Besonderes einfällt. Denn Unbesonderes, Unwichtiges, nichts Gescheites sollte man nicht schreiben. Ich will ja keinen Erfolg haben, aber etwas zum allgemeinen Fortschritt beitragen sollte man schon. Ich denke ich habe dies mit dem Zeichenkombinatio-nen getan, die man zur Meditation nutzen kann, und die ich in vielen meiner Bücher erläu-tert habe, denn sie haben nur den gleichen versteckten Sinn wie das Meine-Tekel. Den letzt-lichen Sinn muss das eigene Unbewusste selbst finden und zur Deutung herausgeben. Die Menschen lassen sich heute noch mehr als früher von allen möglichen anderen, von Philoso-phen, Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern etc. sagen, auf was es ankommt. Dabei haben die Menschen alles in sich, was viel mehr wert ist, auch wenn es das Gefühl von – ja die scheinbare Verdammung zur – Wertlosigkeit an sich hat.
Meine Entdeckung der Mene-Tekel-Formel-Worte, wie z. B. das ENS – CIS – NOM,(1)  könnte ich auch gut an die Seite der Formulierungen Lao Tses stellen. Es sagt nichts, und fördert doch die ganze innere Wahrheit. „Was ist das Klatschen mit einer Hand“ z. B. scheint ein großes Geheimnis zu sein, und hat doch keinen Sinn außer dem, dass ihm das Unbewusste, beziehungsweise die unbewusste Relation zum Zenmeister zu Grunde liegt. Man muss, wie man in der Psychoanalyse sagt, die Übertragung auf den Lehrer auflösen.

(1)Bei dem Formel-Wort  E N S - C I S -  N O M  muss der Leser sich nur hinsetzen und diese Formulierung meditieren, deren wissenschaftliche Begründung darin besteht, dass es mehrere Bedeutungen in seinem im Kries geschriebenen Schriftzug und damit keinen Sinn hat. Im Uhr-zeigersinn gelesen überlappen sich nämlich die Bedeutungen von ENS – CIS – NOM. Geht man einmal vom M aus, so heißt MENS CIS NO, der Gedanke diesseits, innerhalb von No, vom N ausgehend: NOMEN SCIS, du kennst den Namen, vom O aus: OMEN SCIS N, du kennst das Omen N. Weiter   CIS  NO,  MENS,  diesseits schwimme ich, oh Geist, ENS CIS NOM, das Ding diesseits von Nom (Namern), C IS NOMEN S, hundert dieser Name S, usw. Da man keine Bedeutung präferieren kann und soll, meditiert man etwas zwischen der Sprache und dem reinen Bild der Zeichen liegt. Das ist besser als ein zenbuddhistisches Koan oder eine psychoanalytische Sitzung.