Die zutreffendste Wissenschaft

Die Jagd nach der zutreffendsten Wissenschaft

Es kann nicht um die höchste, wichtigste, beste Wissenschaft gehen, wenn man sich nach dem Fortschritt, der Relevanz und Bedeutung unter den bestehenden Wissenschaften fragt. Es muss um diejenige Wissenschaft gehen, die jedem einzelnen ermöglicht das Gesamt der Wissenschaften zu überschauen und zu ordnen, richtig einzuschätzen und zu verwenden (oder ihrer Verwendung zuzustimmen), also um diejenige, die einfach auf die entscheidenden Probleme von hier und heute eingehen kann und für die Gemeinschaft der Menschen Gültigkeit hat. Kurz: um die auf alle genannten Punkte zutreffendste und an vorderster Front der allgemeinen Bedeutung stehende Wissenschaft.

Das kann die Physik beispielsweise nicht mehr sein. Zu sehr ist sie einem rein materialistischen Weltbild verhaftet und hat auch an Relevanz für die Probleme verloren, die uns eben heute auf den Nägeln brennen. Mit immer gigantischeren Anlagen und Maschinen versuchen die Physiker den Zusammenhang von Energie und Materie, von Gravitation und Quantenmechanik und ähnlichem weiteren Physikalischen zu lösen, doch als Ergebnis kommen nur seltsamere „Teilchen", virtuelle Bruchstücke oder nur mathematisch zu berechnende Theorien heraus. Kein Zweifel, eines Tages werden uns die Physiker diese „Allumfassende Theorie" liefern, aber sie wird rein abstrakt und nur für ein paar Fachleute von Interesse sein. Man wird das Higgs-Teilchen gefunden haben und uns Bilder von explosionsförmigen Linien zeigen, die beeindruckend sind und die Frage entstehen lassen: Und dann? Und was jetzt?

Ist es mit der Theologie besser? Man ist von einem Begriff ausgegangen, dessen Bedeutung man als einheitlich vorausgesetzt hat oder umgekehrt, dessen Einheitlichkeit man von vornherein mit Bedeutung ausgestattet hat. Aus dem Go plus Doppel-t oder dem griechischen θεος, aus diesen vier Buchstaben also (oder auch aus dem hebräischen Elohim) hat man ein fertiges Ganzes, ein Reales oder gar Über-Reales gemacht, wo es doch lediglich um ein mythisches Wesen ging, das sich aus der frühen Ahnenverehrung heraus entwickelt hat. Die Erfahrung dieses Wesens, die mit einer psychischen Dissoziation einherging, hat man als Offenbarung bezeichnet und diese quasi einer empirisch bewiesenen Erfahrung gleichgestellt. Egal, ob jemand jetzt diesen sogenannten Glauben hat oder nicht, ist doch die Frage vielmehr die: ist die Theologie noch am ehesten zutreffend für hier und heute als einer Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, wo es doch Hunderte von Theologien gibt, christlich aramäischen, muslimischen, jüdisch ultrakonservativen, evangelischen, griechisch oder russisch orthodoxen usw., und wo eine von der anderen nichts wissen will?

Und weiter: Soziologie, Biologie, Informatik, Psychologie, Biochemie, Linguistik, Semiotik, Astronomie und ebenso Hunderte von weiteren Wissenschaften, die alle gut etabliert sind und ihren Wert haben: ist eine von ihnen die zutreffendste Wissenschaft? Wir scheinen sie alle zu brauchen, aber wie sind sie eigentlich untereinander vernetzt und verbunden? Gibt es etwas, das sie zusammenhält oder zumindest ihre gegenseitige Relation benennt? Die Politikwissenschaft kann doch nicht sein, ist doch noch nie ein Politiker ihr entwachsen, so wie selten einer der bekannten Maler aus der Akademie der freien Künste hervorgegangen ist. Es ist eigentlich unglaublich, wie brav die Menschen sich diese unbekannte Macht der Universitäten und Wissenschaften gefallen lassen. Immer und überall gibt es Revolutionen, aber gegen die Universitäten hat sich noch niemand erhoben (außer den 68ziggern, aber dies war nur ein schwacher Protest). Gut, die Stalinisten haben die Akademiker ermordet, aber diesen Schwachsinn haben sie teuer bezahlen müssen.

Als ich Arzt war, habe ich mich in der Psychoanalyse ausbilden lassen und bin bis heute überzeugt, das hier, in dieser neuro-psycho-sozialen Wissenschaft das Potential zur Erneuerung und zur Zutreffendstheit liegt. Doch ganz so einfach war es nicht. Erst die Seminare J. Lacans, die von der Mathematik angefangen über die Philosophie zur Psychoanalyse Freuds und wieder zurück zur Mathematik führten, ließen mich einen Weg erahnen, der zumindest momentan an Zutreffendstheit nicht zu überbieten wäre. Eben gerade weil Lacan alle Wissenschaften durchforstend und sie schließlich in einer neuen „Physio-Linguistik" zusammenführte, gab eine derartige Umfassendheit den Ausschlag hier weiter zu machen.

Am Anfang war die Zahl - und zwar die Zahl Eins, die eine Null repräsentiert für eine andere Eins.

Lacan fängt auch mit der Mengenlehre an, doch nicht in der Art und Weise wie sie heute meist verstanden wird, nämlich dass 1,3,1,7,5, zum Beispiel eine Menge ist, die 5 Elemente enthält und dann mit anderen Mengen und deren Elementen Rechnungen aufgemacht werden können. Er fängt nicht mit dem an, was man vereinfacht das rein „numerische" Rechnen nennt, also die Arithmetik von 1, 2, 3, 4, 5, etc.. Bei einer solchen Zähl- und Rechen-Auffassung kommt man nicht von den Problemen der Zahlengeraden und deren Reichweite bis ins Unendliche los. Eine unendliche Zahlengerade lässt den Abstand zwischen den einzelnen Zahlen unendlich klein oder groß werden, und was macht man dann damit? An Anlehnung an die Boolsche Algebra repräsentiert für Lacan eine Eins eine Null für eine andere Eins. Dies ist eine Formel, die exakt auch auf das Unbewusste des Menschen zutrifft. Der mit der Geburt zu sich erwachende Mensch ist kein instinktgeleitetes Tier, sondern ein vollkommen von seiner Umwelt und Bezugsperson abhängiges Subjekt. Subjekt heißt, dass außen dem einfachen Dasein des Kleinkindes bei diesem auch ein rigoroser Anspruch besteht, dem unmöglich völlig entsprochen werden kann, auch wenn beispielsweise die Mutter alles perfekt so richtet wie sie es eben kann. Der Anfang ist also gekennzeichnet von einem grundlegender Mangel, einer Null, die somit der gerade entstehenden Eins von der anderen Eins (Mutter, Bezugsperson etc.) repräsentiert wird.

Trotzdem ist damit ein großer Fortschritt gemacht. Der realen Nichtung, die das Subjekt erfährt, wird hiermit ein symbolischer Wert gegeben, eine Mathematik, eine Berechnungsmöglichkeit. Ja mehr noch, diesem Oszillieren, Pulsieren zwischen der Null und der Eins wird in der mutter-kindlichen wie auch in der therapeutischen Situation noch zudem ein Halt gegeben, indem die Mutter doch viele Bedürfnisse stillt und Ansprüche anerkennt oder der Therapeut positiv zugewandt ist und zuhört (damit stellen beide eine Eins dar, die allerdings ständig von der Null konterkariert wird, weil das Bemuttern nicht gleich reife erzeugt sowie auch das Zuhören ja nicht gleich die Heilung ist), aber der Therapeut gibt ja auch Interpretationen, die zwar auch nicht mehr als Eins-Null-Eins sind, aber im Subjekt diese Symbolisierung weiter festigen, so dass es damit in einer echten Weise zu zählen wird anfangen können. Echte Weise heißt beispielsweise, dass es durch die Therapie zum ersten Mal einen Partner haben wird, eine wirkliche Zwei also, die es dann im Leben auch auf andere Partner wird übertragen und so weiter wird zählen können.

Wir müssen mit dieser Psycho-Mathematik beginnen, die uns die Wissenschaftlichkeit garantiert, sodann müssen wir natürlich noch etwas anfügen, was die Zutreffendstheit erklärt. Ich habe schon gezeigt, dass eine rein objektive Wissenschaft wie die Physik, Chemie, Biologie etc. zu materiell bezogen sind, und die Geisteswissenschaften sich zu sehr auf vorgefestigte fertige Begriffe stützen, die sie dann hintenherum als durch ihre Wissenschaft gefunden herausgeben. Im Gegensatz dazu ist der Mangel (die Null) , der durch zwei Stützen (due Eins und die andere Eins) wenigstens in der Schwebe gehalten wird, etwas, das subjektbezogen bleibt, also nicht subjektiv ist, aber doch haltbar, gefestigt und bezogen auf das menschliche Subjekt. Linguistisch lautet die Formel von der Eins / Null / Eins laut Lacan daher: ein Signifikant (Bedeutungsträger, Bezeichner) ist ein Subjekt für einen anderen Signifikanten. Das menschliche Subjekt ist eingespannt zwischen zwei es bestimmende Wesenheiten, die man in der Linguistik eben Signifikanten nennt.

Denn in der Sprachwissenschaft gibt es auch das Problem, dass die Sprache in sich selbst einen tiefen Riss enthält, der bewirkt, dass wir niemals alles genau so sagen können wie wir meinen, dass der anderes es verstehen müsste. Man kann mit der Sprache lügen, dass sich die Balken biegen, und doch kann man damit auch etwas Wahres ausdrücken, was sich nicht anders ausdrücken ließe. Die Linguisten unterscheiden den Signifikanten vom Signifikat (dem Bezeichneten), was jedoch nur eine Unterscheidung innerhalb ihrer eigenen Wissenschaft ist und bleibt. Zwei Signifikanten sich gegenüber zu stellen erzeugt natürlich ein viel spannungsreicheres, aber eben auch subjektbezogeneres wissenschaftliches Arbeiten, als es alle anderen Wissenschaften vermögen. Dies ist auch die Basis der Psychoanalyse, auch in ihrer herkömmlichen Form.

Der Patient redet all das, was ihm in den Sinn kommt und stellt damit die erste Eins dar. Aber in seinem Reden lauert natürlich auch die Null, denn wenn er wirklich ganz „frei assoziierend" redet, kommt er an einen Punkt, wo man ihn nicht mehr versteht. Mit dieser Null muss der Analytiker, der die andere Eins repräsentiert, leben. Er muss sehen, dass er diese Null etwas aufwerten kann, indem er doch eine gewisse Klärung, Aufdeckung in die enthüllenden Äußerungen seines Patienten bringt. Würde es den beiden, Patient und Analytiker wirklich gelingen, die Null weitgehendst aufzulösen, entstünde eine echte Zwei. Der einen würde für den anderen nicht mehr die Eins sein, die durch die Null konterkariert wird, sondern eine wirkliche Eins (die durch den Eins / Null - Abstand gefestigt und definiert worden ist) für eine andere ebensolche, so dass sie beide eine ebenso gefestigte und wohldefinierte Zwei wären. Zwei Subjekte im perfekten, und das heißt signifikanten Austausch.[1]

Leider gelingt es in der klassischen Psychoanalyse nicht so ganz, dass diese Zwei erreicht würde. Vielleicht war dies zwischen Freud und Lacan der Fall, aber sonst sehe ich dies nirgendwo realisiert. Meistens reden die Patienten nicht wirklich „frei assoziierend", dann gelingt dem Analytiker auf Grund seiner Gegenübertragung (eine Gegenreaktion darauf, dass der Patient alle möglichen Bedeutungen auf den Analytiker überträgt, wenn er in dieser ungewöhnlichen Form mit ihm redend in Beziehung tritt) nicht immer die zutreffende Deutung der Einfälle des Patienten. Und schließlich hat sich die Welt seit der Freudschen Entdeckung erheblich verändert, so dass die sehr aufwendige und langwierige psychoanalytische Behandlung heutzutage nicht mehr ausreicht, um als die zutreffendste Wissenschaft gelten zu können. Denn die psychoanalytische Theorie ist sehr eng an ihre Praxis gebunden und kann es sich so nicht leisten, dass ihre brillianten modernen Theorien, sich immer mehr von einer zutreffenden Praxis entfernen.

Ich habe deswegen auf die elementaren Grundlagen der Mathematik und Psycholinguistik zurückgegriffen, um wieder dahin zu kommen, was ich an Lacan seine „Physio-Linguistik" genannt habe. Darin sind Physis, Materie, Körper der eine Pol (Signifikant, Prinzip oder in Freudscher Terminologie: Trieb), die symbolische Ordnung wie sie auch in der Sprache (der Sinn- und Bedeutungswissenschaft) steckt, der andere. Nun könnte man ein Gesicht malen mit einer Sprechblase, um diesen beiden Polen in einer Form Ausdruck zu geben. Dies wäre aber gerade wieder etwas, dem es letztlich an Zutreffendsheit fehlen würde. Den man müsste immer wieder neue Gesichter und Sprechblasen malen, um etwas auszudrücken, was - wie oben moniert - „jedem einzelnen ermöglicht das Gesamt der Wissenschaften zu überschauen und zu ordnen, richtig einzuschätzen und zu verwenden (oder ihrer Verwendung zuzustimmen), also um das, was einfach auf die entscheidenden Probleme von hier und heute eingehen kann und für die Gemeinschaft der Menschen Gültigkeit hat."

Und das kann eben wieder nur etwas sein, das der Subjektbezogenheit vollen Raum gewährt. Gehen wir daher in der Psychoanalyse Lacans noch einen Schritt weiter und entfernen wir uns damit zwar von der herkömmlichen, klassischen Psychoanalyse, jedoch nicht ohne weiterhin ihre Grundsätze zu beachten, wie sie die Wissenschaften bis hin zu Freud - und mit ihm - entwickelt haben. Wir haben bereits die Zwei Subjekte im perfekten Austausch gesehen, uns vorgestellt, wie sie ideal mit den Signifikanten hantieren und sich die Bälle des Sinns und der Bedeutungen zuwerfen. Aber wir haben noch nicht zu Genüge gesehen, was sich im Inneren dieses Vorgangs abspielt., ja wir wissen immer noch nicht ganz genau, was ein Signifikant wirklich sein soll. Dazu kann uns ein Lacanscher Begriff bestens helfen: es ist der Begriff der „ultra-reduzierten Phrase".[2]

Lacan zitiert hierzu eine Geschichte Dostojewskis. Dieser hatte einst in Moskau eine Gruppe völlig betrunkener Studenten beobachtet, die heftigst über universelle, kosmologische Fragen diskutierten. Schließlich stieß einer niederschmetternd das Wort „Merde" aus (ich verwende hier das französiche Wort, wie es Lacan bringt, in Wirklichkeit war es natürlich russisch). Dieses vernichtende „Merde" veranlasste jedoch einen Zweiten zu einem fragenden „Merde"? worauf jedoch ein Dritter Augen und Hände zum Himmel erhob uns ein flehentlich bittendes „Merde" ausrief. Fast schon ernüchternd stammelte zuletzt ein Vierter nur noch ein „Merde", „Merde", „Merde" . . . vor sich hin. Kurz: der durch den Alkohol nur noch zur Fäkalsprache fähige und bis zur „ultra-reduzierten Phrase" des „Merde" gehende Austausch der Studenten untereinander, hatte dennoch eine gewisse und vielleicht sogar gesteigerte Signifikanz. Verfluchen, Fragen und Flehen führte nur zum irdisch gebundenen Stammeln über die Universalien und die Kosmologie.

Selbstverständlich können wir nichtalkoholisiert bessere Aussagen machen. Aber wie? In einer klassischen Psychoanalyse könnte es z. B. sein, dass ein Patient einen Traum von verkohlten Leichen irgendwelcher seiner Verwandten hatte und dies dem Analytiker erzählt. „Aber das ist es ja", ruft dieser dann aus, „Sie sind doch lebenslang von diesen Menschen verkohlt worden". Die „ultra-reduzierte Phrase" des „Verwandt - Verkohlt" hat anscheinend zwischen dem Patienten und seinem Analytiker einen signifikanten Austausch erzeugt? Eine noch zutreffendere Geschichte erzählt Freud selbst: eine seiner Patientinnen erzählte von einem Traum, zu dem sie nur noch das Wort KANAL erinnerte, und wozu der betreffenden Patientin dann noch der Spruch einfiel: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt (franz.= pas), nämlich der KANAL von Calais (franz.= pas de Calais). Der KANAL - Schritt war also der vom Erhabenen (Frankreich) zum Lächerlichen (England). Doch der pas in der Erzählung der Dame war ein faux-pas, weil Freud in der Übertragung der Dame auf deren Assoziation als Kritik an seiner analytischen Methode deutete: seine, Freuds, Methode der Analyse, sei wohl eigentlich lächerlich und gar nichts Erhabenes, interpretierte er. Denn warum erzählt sie ihm sonst diese Geschichte? Nur aus dem Wort KANAL, konnte Freud diese Deutung ziehen. Je kürzer ein Traum oder eine Assoziation ist, desto bedeutender ist sie auch, weil desto mehr darum herum verdrängt wird. Nur mit dem Wort KANAL verriet die Dame, dass sie Freud eigentlich für eine KANAiLle hielt, wie sie es vielleicht bei ihren Eltern erlebt hatte, oder wassie fürchtete, dass man es ihr selbst nachsagte oder was sie über das Verhältnis von Frankreich zu England verinnerlicht hatte und was sie damit auf Freud übertrug. KANAL leuchtet auf wie eine Schicksalsrune, wie ein Mantra, ein BILD-Formel-WORT, in dem sich die unbewußten Assoziationen verdichten. Eine Signifikanten-Kombination in seiner Ur-Form, die „ultra-reduzierte Phrase" in Reinform.

Aus dieser Geschichte wird auch ersichtlich, dass diese Phrase sich zwischen dem Subjekt und seinem Anderen abspielt, ja deren Beziehung formuliert und formatiert. Der oder das Andere ist bei Lacan Ort des Unbewussten, Hort des Sprachwesens, der symbolischen Ordnung, der Signifikantenzusammenhänge. Früher war Gott dieser Andere, und es mangelte ihm nicht an „ultra-reduzierten Phrasen": „fiat lux" soll er am Anfang gesagt haben, und daran haben sich alle orientieren können. Aber vielleicht war dies alles nur ein Mythos. Diese(r)(s) Andere ist psychisch und physisch zugleich, er/es gehört keiner der herkömmlichen Wissenschaften und schon gar nicht irgendwelchen Glaubensrichtungen an, sondern nur dieser unbewusst-mathematischen Vorgehensweise, die man auch eine Konjekturalwissenschaft nennt.[3] Damit sind vorerst einmal weiterhin alle wissenschaftlichen Bereiche berücksichtigt, aber es ist immer noch nicht irgendeine Zutreffendstheit geklärt. Diese kann überhaupt erst Geltung haben in einem für jeden nachvollziehbaren Vorgehen, so dass er selber wissenschaftlich mitarbeiten und an den Wissenschaftsprozess teilnehmen kann. Denn „der Geist in der Teilnehmerperspektive" - sagt der Philosoph H. Hastedt ist als Subjekt der Erkenntnis methodisch vorrangig gegenüber Geist und Körper als Erkenntnis-Objekten in der Beobachterperspektive"[4]. Wenn es immer nur einzelne privilegierte Personen sind, die Wissenschaft machen können, kommt mit Sicherheit keine bevorzugte Zutreffendstheit heraus. Ich erinnere nochmals an meine eingangs erwähnte Formulierung vom „einzelnen" und der „großen Gemeinschaft". So lade ich also jeden zur Teilnahme an diesem Vorhaben ein. Aber wie?

Nun, die Sache ist jetzt einfach und klar. Es muss so eine „ultra-reduzierte Phrase" sein, die selber noch nicht das schon vorgegriffene Ergebnis darstellt wie beim „fiat lux", wo man einen Gott annehmen musste, dem man weiterhin noch ein Sprachorgan unterstellen und dann auch noch Kenntnisse in Syntax und Grammatik zuschreiben musste. Und dann noch ein Medium, das dies alles übersetzte. Und warum „lux"? An anderer Stelle soll er vermittelt haben, dass es der „logos" war, „in initio fiat verbum". Es müsste also etwas geben, wo die „ultra-reduzierte Phrase" so sehr reduziert ist, dass sie eigentlich oder fast nichts mehr sagt. Sie müsste noch Phrase sein, aber keine gezielte Bedeutung oder Sinn mehr haben. Dazu haben sich z. B. die Linguisten schon etwas Zutreffendes einfallen lassen, z. B. den berühmten Satz: „Colorless green ideas sleep furiously" (Farblose grüne Ideen schlafen fürchterlich), der genau so wie der Satz „Der Gnafel gircht, dass Inkeln schnofel sind" zu allen möglichen linguistischen Zwecken formalisiert werden kann, nur mit welchem Ende?

E-N-S-C-I-S-N-O-M-E-N-S-C-I-S-N-O-M-E-N-S . . . . . . . . .

Denn der Satz mit den „grünen Ideen" ist überhaupt nicht sinnlos, wie die Sprachwissenschaftler behaupten. Gerade in heutiger Zeit, wo es vor „grünen Ideeen" nur so wimmelt, können wir uns gut vorstellen, dass diese Ideen trotzdem farblos (ineffektiv) sind und zudem auch, dass sie nur unter der Oberfläche ganz fürchterlich dahindösen. Auch der andere Satz erweckt sofort zutreffende Assoziationen: es geht um irgend so etwas Mittelalterliches aus der Zwerg- und Gnomwelt, man will wohl durch die Silben gna, gir, ink, schno einen Lautmalerei erzeugen, eine Grunz- und Schniefstimmung. Kurz: es handelt sich ganz und gar nicht um „ultra-reduzierte Phrasen", die Sinn- und Bedeutungszuschreibungen nicht oder kaum noch zulassen würden. Die „ultra-reduzierte Phrase" müsste eine sein, deren Sinn ohne jede Bedeutungshilfen auskommt, oder eine Menge von Bedeutung enthält, die einen äußerst vielschichtigen und somit keinen wirklichen, direkten Sinn bewirkt. Eine solche ist z. B. der hier im Kreis geschriebene Buchstabenkranz.ENSCISNOMBild0001

Schreibt am dieses E-N-S-C-I-S-N-O-M oder I-S-N-O-M-E-N-S-C etc. im Kreis, ist für jemand, der die lateinische Sprache kennt, sehr schnell zu sehen, dass von verschiedenen Buchstaben aus gelesen ganz verschiedene Bedeutungen heraus kommen. Schließlich weiß man ja nicht, von welchem Buchstaben aus man zu lesen beginnen soll. So heißt MENS CIS NO, der Gedanke innerhalb von No, NOMEN SCIS, du kennst den Namen, OMEN SCIS N, du kennst das Omen, das Zeichen N, CIS NO MENS, dieseits schwimme ich, der Geist, ENS CIS NOM, das Ding diesseits von Nom, C IS NOMEN S, hundert, dieser Name S, SCI S NOMEN, wisse den Namen S, und andere mehr. Auch wenn einige dieser Bedeutungen recht unsinnig sind, sind es doch Bedeutungen, die gerade deswegen, weil sie so viele sind, keinen einheitlichen Sinn aufkommen lassen. Von welchem Buchstaben soll man das Ganze denn lesen? Welcher Bedeutung soll man mehr Gewicht beimessen? Je mehr Bedeutungen da sind, desto weniger Sinn ergeben sie. Ziehen wir doch einen Sinn heraus, dass es sich z. B. um ein Emblem handelt oder um einen Eigennamen, so haben die ganzen Bedeutungen, die ja für den Lateiner doch sichtbar darin stecken, wiederum keine Bedeutung für diesen Sinn. O-M-E-N-S-C-I-S-N ist eine „ultra-reduzierte Phrase", die ganz besonders effektiv zwischen dem Subjekt und dem Anderen vermitteln und wirken kann. Man muss und kann sie nur meditieren.

Das Subjekt, das langsam gedanklich diese Phrase in sich wiederholt, wird unweigerlich auf den oder das Andere(n) stoßen. Gerade weil dem Subjekt alle anderen Wege versperrt sind, muss und kann es nur auf das Gegenteilige, Widersprüchliche und doch eben total Unbewusste treffen. So und nur so wird es Teilnehmer des wissenschaftlichen Prozesses, um den es hier geht. Ich habe diesen Zugang zum Unbewussten, physisch-psychisch Unbewussten, von der Psychoanalyse und der Mathematik hergeleitet, aber ich könnte es von jeder anderen Wissenschaft her ebenso tun. Was die Mathematik angeht, ist jetzt leicht zu sehen, dass jeder einzelne, insofern er als Subjekt die eine Eins darstellt, über die Null, die die Formulierung des M-E-N-S-C-I-S-N-O ja repräsentiert, zu der anderen Eins kommt, die der, das Andere ist. Damit überbrückt der Mensch letztlich die Null, vielleicht nicht gleich von Anfang an perfekt, aber mit der Zeit der Meditation doch immer mehr.

Von den Naturwissenschaften her ist gleichermaßen leicht zu sehen, dass ihre Propagandisten nicht wahrnehmen, dass in ihrer Wissenschaft versteckt etwas „Spricht". Sie haben zwar den „Urknall" gefunden, aber nicht so gehört, dass sie ihn perfekt hätten weiterentwickeln können. So haben sie nicht erfasst, dass der „Urknall" um so deutlicher für jeden wahrnehmbar wird, je mehr er sich vom absoluten Stillschweigen abhebt. Die Physiker decken diese Stille noch bevor sie sich ausbreitet mit ihrem Getöse von Paralleluniversen, Inflations- und Stringtheorie und vielem anderen zu, und können daher nicht sehen, was ein Meditierender erfährt, der E-N-S-C-I-S-N-O-M mental reverberiert. Natürlich ist Gott früher gerade im Stillschweiger der Wüste und Isolation den Menschen erschienen, aber er war nur mythisch erfasst. Lacan fasst dieses Stillschweigen anders: je länger es sich ausdehnt, meint er, windet es sich in und zu topologischen Formen, die schließlich etwas laut werden lassen. Es muss nicht gerade ein Knall sein oder eine göttliche Stimme. Eine nunmehr auf den einzelnen bezogene und für seine Perspektive wichtige „ultra-reduzierte Phrase" genügt.

Ich habe an vielen Stellen mein Verfahren der Analytischen Psychokatharsis beschrieben und erklärt, und will daher dieses hier jetzt nicht weiter ausführen. Wie schon betont, ermöglicht es jedem einzelnen an der zutreffendsten Wissenschaft teilzunehmen, denn nur so kann die Wissenschaft überhaupt zutreffendst sein.

 


[1] Nicht nur wäre ein Signifikant Subjekt für einen anderen Signifikanten, die Subjekte würden auch die Herren der Signifikanten sein.

[2] Lacan, Seminaire12,

[3] Konjektur heißt Vermutung, die Konjekturalwissenschaften vermehren und verdichten ihre Vermutung bis ein Höchstmaß an Gewissheit erreicht ist.

4] Hastedt,H., Das Leib-Seele Problem, Suhrkamp (1989) S. 291