AltersSex

Bekanntlich findet im Alter nicht mehr so viel Sex statt wie in den langen zurückliegenden Ehejahren. Irgendwann lässt die Potenz des Mannes etwas nach und dann versuchen viele Männer mit Sildenafil-Tabletten oder Papaverin-Injektionen nach zu helfen. Doch bei den Frauen hat auch die Lubrifikation nachgelassen und die Sache wird unangenehm. Und so finden sich in vielen Büchern und zahlreichen Internet-Artikeln Berichte über den Sex in fortgeschrittenen Lebensjahren, was man davon halten soll und wie man damit am besten umgeht. Dabei muss man zwei Unterscheidungen treffen.

Einerseits geht es beim Thema Alterssex um die Fortsetzung dessen, was man auch vorher schon gekannt und besessen hat und das eben im hohen Alter nicht mehr so klappt. Doch dazu habe ich ja schon angedeutet, welche Medikamente diesbezüglich hilfreich sind und kann ergänzen, dass es dafür auch psychologische und physiotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten gibt. Auch welche Feuchtigkeitscreme gegen die vaginale Trockenheit hilft lässt sich in jeder Drogerie oder Apotheke klären. Mir geht es in diesem Artikel jedoch um denjenigen Sex, den auch manche Menschen schon in jüngeren Jahren propagieren und bei dem die übliche Penetration keine Rolle mehr spielt.

Nun muss man auch hier gleich ein bestimmtes Vorgehen ausschließen, das ebenfalls in vielen Veröffentlichungen beschrieben wird. Es wird vor allem von Frauen favorisiert und dreht sich hauptsächlich um die Betonung von Zärtlichkeit, Romantik und recht harmlosen Formen des Pettings. Ich erinnere mich noch an die Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als von Carezza die Rede war, weil es damals noch keine Antibabypille gab und man damit eine ungewollte Schwangerschaft verhüten konnte. Doch das Ganze war trostlos langweilig, praktisch sollte man wie eine Katze um den heißen Brei herumschleichen und nicht zur Penetration und schon gar nicht zum Orgasmus kommen.

Ich habe meinen Patienten dann immer den Alters-Sex empfohlen, den mir eine ältere Patientin aus eigener Erfahrung stammend beschrieben hatte. Dabei wird keine Penetration, keine ‚immissio penis‘ mehr angestrebt, um es wissenschaftlich auszudrücken. Die Patientin sagte zu mir, dass viele Frauen ab einem gewissen Alter die Penetration nicht mehr mögen, wenn sie sie überhaupt je sehr geschätzt haben. Auf jeden Fall wird die Sache auch wegen der zunehmend trockenen Vaginalschleimhaut und Verengung recht schmerzhaft, so dass das erotische Liebesleben völlig zum erliegen kommt. Auch würde der Liebesakt dadurch nur verkürzt.

Wie gesagt, auch auf der Seite des Mannes gibt es Schwierigkeiten, die sich selbst bei der Nachhilfe durch Medikamente oft nicht ganz lösen lassen. Denn bereits ein geringes Nachlassen der anfänglich ausreichend guten Erektion kann intravaginal zum Problem werden, was mit einem sexuellen Erleben ohne Penetration nicht passieren kann. Schon beim geringen Nachlassen der erektilen Funktion kann nämlich die sexuelle Stimulation nicht mehr stark genug sein, um zu einer Ejakulation zu führen. Aber auch so, wenn alles perfekt verläuft, klagen Männer im Alter über das, was manche auch schon in jungen Jahren als recht störend erlebt haben: eine plötzlich auftretende Angst, im entscheidenden Moment nicht ausreichend potent zu sein. Auch wenn dies nur ein flüchtiger, lästiger Gedanke ist, kann der Akt nicht zu Ende geführt werden, und das ist vor allem im Alter ein großes Handicap.

Denn in der Jugend findet man noch therapeutische Möglichkeiten, man fängt sich selbst oder die Frauen helfen einem schließlich, wenn man sich aussprechen und erklären kann. Im recht hohem Alter aber wird man nicht mehr mit einer Psychotherapie anfangen, und wenn die Medikamente eben auch nicht genügend helfen ist man in der Klemme, aus der herauszufinden ein Problem darstellen kann. Es sei denn der Mann hat so jemanden wie meine Patientin zur Frau, die mir erzählte, dass es auch ohne Penetration guten Sex geben kann. Man sich umarmt und massiert sich dann eben gegenseitig, bewegt und berührt sich streichelnd, drückt sich, quetscht sich und kommt zur Sache.

Den Mann manuell einer Befriedigung zuzuführen, meinte meine Patientin, ist freilich immer möglich, aber damit wartet sie, lässt es oft auch ganz sein oder es gelingt ohnehin nicht jedes Mal eine Ejakulation herbeizuführen. Man kann viel variieren, erzählte sie mir und wies darauf hin, dass umgekehrt für eine Ejakulation nicht unbedingt eine starke Erektion nötig ist, und dies sei nunmehr sogar ein großer Vorteil, weil in dieser Form der Intimität das Problem des Mannes, nämlich seiner Potenzangst, beseitigt sei. Er müsse sich keine Gedanken über seine Stärke machen, man sei offener und entspannter. Sie fügte allerdings dazu, dass eine derartige sexuelle Begegnung auch nicht so häufig passieren muss, wie der sogenannte normale Sex bei jüngeren Paaren.

Schließlich sei man alt und oft sind die Männer gar nicht mehr so sehr dazu geneigt, diese Altersversion der Erotik mit zu gestalten. Ich sagte zu ihr, dass schon Freud, der Begründer der Psychoanalyse sich über die sexuelle Aversion des Alters mokiert habe, denn es gäbe eigentlich keinen physiologischen und psychologischen Grund, damit zu früh aufzuhören. Er selbst hat aber schon sehr früh, noch anfangs des vierziger Lebensjahre, sexuelle Betätigungen eingestellt. Das ist ungefähr sie gleiche Zeit, in der Goethe damit angefangen hat. Es ist offensichtlich nicht nur eine Frage der sexuellen Fähigkeit, sondern auch des erotischen Verlangens, um das es geht. Aber wird dies alles in der heutigen Zeit nicht viel stärker diskutiert?

Im Falle meiner Patientin ging und geht die Initiative hauptsächlich von ihr aus, ergänzte sie ihre Bemerkungen, was mich erstaunte. Denn andererseits ist bekannt, dass Männer jeden Alters, und besonders solche in späteren Jahren häufig masturbieren. Nicht umsonst nannte Lacan die Masturbation ‚das Genießen des Idioten‘, denn wenn man so etwas vielleicht mit einem Bild im Kopf alleine tut, versäumt man doch gerade die spannende und erregende Zweiheit, die auch im Alterssex nicht zu kurz kommt. Nun ist das keine sehr logische Argumentation von mir, denn die Männer empfinden die Masturbation als besonders einfach und als die angemessene Reaktion, wenn die intime Partnerschaft nachgelassen hat. Aber warum hat sie nachgelassen?

Man hat nicht ausreichend miteinander geredet und war nicht so phantasievoll agiert, wie es meine Patienten gewesen ist. Vielleicht schreibe ich deswegen diese Geschichte hier auf, obwohl es ausreichend Literatur auch von anderer Seite hergibt. Ich erwähne nur kurz das Buch des bekannten amerikanischen Paar- und Sexualtherapeuten D. Schnarch, der geschrieben hatte, dass die wahre Erotik erst mit über fünfzig beginnt, wenn man sich schon sehr lange kennt und besonders tief vertraut. (1)   Vorher sein man meist doch nur ein „Greenhorn“ gewesen, wie er es bezüglich vieler seiner Klienten und sogar bezogen auf sich selbst bezeichnet hatte.
Denn, so D. Schnarch, es braucht viel Zeit, um dieses bisschen an Finesse und Entspannung, Laszivität und Abgeklärtheit, Lust und Logik miteinander zu verknoten, um „guten Sex“ zu haben. Man muss lernen, sagt D. Schnarch mehrmals, selbst in der heißesten Phase „differenzieren“ zu können, d. h. einschätzen zu können, was braucht der andere, was man selbst. Man muss sich das mit echten Worten sagen, offen sein, durchschlingend mit einander, ehrlich sprechend, unverfälscht, voll, reich, lustvoll und eben vor allem differenziert.

Ihr Alterssex ginge – so sagte meine Patientin selbst – mit entspannenden, kontemplativen Gefühlen und Stimmungen einher, das sei wesentlich. Und vor allem – so sagte sie – sie habe es ja wortwörtlich ‚in der Hand‘ die Zärtlichkeiten und Erregungen so zu steuern, dass die Begegnung nicht zu vorzeitig endet. Aber damit war sie mit ihren Schilderungen immer noch nicht am Ende. Mit der Hand nämlich – so animiere sie auch oft ihren Mann, sie ein zu schlagen und umgekehrt tue sie dies bei ihm auch. Es klingt, als habe sie dies im Kamasutra gelesen, wo von derlei Praktiken viel die Rede ist. Mit Sadomasochismus hat dies jedoch nichts zu tun. Auch der Psychoanalytiker O. Kernberg beschreibt solche Erosspiele als normal,(2) und der Philosoph M. Foucault meinte: „Die Macht ist nicht das Böse. Macht heißt: strategische Spiele. . . Nehmen Sie z. B. sexuelle oder Lie-besbeziehungen: In einer Art offenen strategischen Spiels, worin sich die Dinge umkehren können, über den anderen Macht auszuüben, ist nichts Schlechtes, das ist Teil der Liebe, der Leidenschaft, der sexuellen Lust“.(3)

Im Sadomasochismus bedarf es nämlich eines Plots, der vorschreibt, dass Schmerz und vor allem Erniedrigung wesentliche Elemente sind, die unterschiedlich zur Geltung kommen müssen. Dagegen heißt es im Teil II, Kapitel sieben des Kamasutras: „Eine Art von Streit ist der Liebesgenuss, sagt man, weil die Liebe ihrem Wesen nach Streiten bedeutet und von sprödem Charakter ist. Daher ist das Schlagen ein Bestandteil der Liebe. Schultern, Kopf, Busenfurche, Rücken, Po, Schamgegend und Seiten sind die zum Schlagen geeigneten Stellen“. Daraus entstehen dann die acht Arten von Schmerz- und Liebeslauten, z.B. der „dut- und phut-Laut und der Wachtel-, Kuckuck-, Papageien-, Tauben- und  Flamingo-Schrei“. Auch andere Worte werden dabei ausgestoßen, die so klingen, als ob es sich um den Ruf nach der Mutter handelt, was etwas nach infantilem Liebesleben klingt, aber die Leidenschaft andeuten soll.

Auch muss man mit den Fingernägeln den „Halbmond“ oder die „Pfauenkralle“ leicht in die Haut drücken und oder ein bisschen kratzen. Auch sanftes Beißen gilt als wichtiger guter Ratschlag des Kamasutras, in dem jeder dieser Aktionen in dutzend verschiedenen Formen beschrieben wird.(4)  Es erinnert ein wenig an den holländischen Frauenarzt H. van de Velde, der schon vor hundert Jahren in seinem damaligen Bestseller ‚Die vollkommene Ehe‘ schrieb, ein blauer Fleck auf dem Arm der Partnerin sei kein schlechtes Zeichen, sondern eher eines der gelungenen Liebesbeziehung.
Ganz besonders wird im Kamasutra auch beschrieben, wie das mehrfache Andrücken des ‚Lingams‘ gegen die Vulva, die klidoridale Reizung, orale Manipulationen bekannter Art und anderes vor sich zu gehen hat, auf was ich hier nicht weiter eingehen muss. Denn nichts ist in diesem Bereich schlechter als ein Ratgeber, der auch in den Schilderungen meiner Patientin nicht zum Zug kommt.

Kurz gesagt: es sollte beim Altersex wohl etwas heftiger zugehen als in all diesen Romantikschmökern und tantrischen Äußerlichkeiten. Wie in dem oben genannten Zitat von M. Foucault schreibt auch der Philosoph Byung-Chul Han, dass „die Verführung ohne Geschlecht auskommt“, was ich übersetze mit: ohne den üblichen penetrativen Geschlechtsakt. Denn dieser, so Byung-Chul Han weiter, „spielt in der Dramaturgie der Verführung eine untergeordnete Rolle. Die Verführung ist Spiel. Der Sex ist dagegen eine Funktion. . . Die Verführung ist wie ein rituelle Zweikampf“, findet statt in einer „geradezu liturgischen Ordnung des Duells“.(5)  Genau dies trifft auf den Alterssex zu, indem dort experimentiert wird, denn die Erotik des Duells, zugreifen, abwarten, erneut zugreifen, ist „etwas anderes als die Intimität der Liebe“ wie Byung-Chul Han schreibt. Gemeint ist, das zu süßlich Romantische kann nicht den kamasutrischen Kampfgeist ersetzen.

Für das Alter ist er jedenfalls ein gutes Verfahren, die sexuelle Liebe nicht aufzugeben und eventuell nur langsam ausklingen zulassen, bis man schließlich – und dies ist jetzt meine Auffassung des Ganzen – ins reine ‚autochthone Genießen‘ eintritt, das alle Beziehungsprobleme löst. Denn ich sehe mich hier nicht als Vertreter eines sexologischen Seniorenclubs, auch wenn es nötig ist einmal über das Intimleben im wirklich fortgeschrittenen Alter zu reden. Selbst wenn man nämlich wie D. Schnarch sagt, über fünfzig erst richtig loslegt, heißt die ja nicht, dass auch noch mit bald achtzig – wie es bei meiner Patienten der Fall war – die gleichen Richtlinien gelten. 

Der Schwerpunkt meiner Veröffentlichungen liegt eher darauf, dass es wohl ein übergeordnetes, ‚autochthones‘ Genießen geben muss, das die Menschen auch seit jeher schon intensiv zu erreichen versucht haben. Kunst, Kultur, philosophische und religiöse Bestrebungen sind immer in diese Richtung gegangen, die Triebe zu sublimieren, also zu verfeinern, zu erhöhen, ja gar zu vergeistigen, was aber nicht heißt, dass sie nicht auch im Alterssex sublimiert werden. Denn gerade im geschilderten Duell passiert auch etwas Autochthones. Man muss im Vergeistigen nicht unbedingt zu weit gehen, auch wenn es im Alter wichtiger wird, gewisse Höhen der Erkenntnis erreicht zu haben. Was es damit auf sich hat, habe ich in anderen Veröffentlichungen geschildert, die nicht außer Acht lassen, im Alter auch auf den geschilderten nicht penetrativen Sex zu verzichten. 

(1)Schnarch, D., Passionate Marriage, Sex, Love and Intimacy in Emotional Comitted Relationships (1998

(2)Kernberg, O., Liebesbeziehungen, Normalität und Pathologie, Klett-Cotta (2014)

(3)Foucault; M., Freiheit und Selbstsorge: Interview 1984 und Vorlesung 1982, (Helmut Becker Herausgeber, Bearbeitung, Übersetzer, 1985)

(4)Ergänzend muss gesagt werden, dass die angedeuteten Handlungen im Kamasutra schon manchmal sehr heftig sind, aber die Menschen im alten Indien haben wohl mehr ausgehalten als die heutigen.

(5)Baudrillard, J., Von der Verführung, Matthes & Seitz (2012) S. 157