Der männliche und der weibliche Blick

In meinem Artikel über die ehe (klein-) und die Ehe (großgeschrieben) habe ich auf das Problem der homosexuellen Mutter hingewiesen, die ja nicht nur das Mütterliche, Wärmende, Pflegende, Nährende an sich hat, sondern auch das Weibliche, das Wesen von dem,  was es heißt eine Frau zu sein, voll wiederspiegeln und repräsentieren sollte. Ich hatte den Patienten erwähnt der von der üblichen, guten Mutter und von der ‚interessanten‘ Mutter gesprochen hat, die in der Psychoanalyse auch die ‚ödipale Mutter‘ heißt und bei der man oft nicht weiß, ob jetzt die geheimnisvolle Frau oder die mütterliche Mutter im Vordergrund steht. Freud hatte ja selbst seinen Ödipuskomplex von der Begegnung mit

dieser vielschichtigen und doch so vereinheitlichenden Figur abgeleitet, als er sagte, er habe einmal ‚matrem nudam‘ gesehen, und dies sei für ihn erregend gewesen. Es war so erregend, dass er noch in seiner wissenschaftlichen Erklärung nur diese lateinischen Worte wählen konnte, das deutsche Original wäre ihm noch im reifen Alter wohl zu intim gewesen. Er hatte nämlich gar nicht ‚matrem nudam‘ gesehen, sondern die Mutter als nackte Frau, das war doppelt stark.

Man kann das ganze Problem der Zweigeschlechtlichkeit aber auch über das Bild-Wesen des Blicks verständlich machen, der ja auch eine Art von Dopplung in sich birgt. Lacan unterscheidet den sogenannt objektiven, von der geometralen Perspektive her erklärbaren Blick vom Blick des subjektiven Sehens. Das subjektive Sehen findet seine Blickorientierung nicht im Fluchtpunkt der Perspektive, sondern im Subjektpunkt einer grundlegenden Lumineszenz, strahlendem Spiegelpunkt. Dieser Punkt wird nicht im Zusammenwirken von Netzhaut, optischen Nerven und Sehrinde erzeugt, sondern von der psychisch-neuronalen Regression, vom Rückzug des Seelischen in den Brennpunkt des Konkavspiegels, wie ihn das Gehirn als Spiegelpunkt darstellt (siehe Abbildung). Hier sammeln sich die unbewussten Bilder und Blicke speziell im Traum, aber auch in den meisten Bildern, indem dort die libidinöse Schaulust eine besondere Konzentration erfährt. Und hier lässt sich am besten das Problem Mann und Frau, männlich/weiblich als heute in ‚Genderdiskussionen‘ oft endlos problematisiert, gut klären.

Denn der weibliche Blick ruht viel stärker in sich und der Libido des Schauens, und bleibt meist letztendlich etwas rätselhaft, während der männliche Blick unruhig und libidinös suchend im ebenso libidinösen Gegenüber verharrt. Damit ist von vornherein eine biologische Orientierung der Geschlechter zurückgestellt, aber es handelt sich auch nicht um eine rein psychische oder soziale Ausdrucksweise. Es geht nicht um den angstvollen, aufgewühlten, emotional geladenen, unsicheren, gar gesenkten oder gaffenden Blick. Es geht um einen vom tiefsten, unbewussten Begehren gesteuerten Blick, der außerhalb jeder psychischen oder physischen Zuordnung nur als männlich oder weiblich definiert werden kann. Dazu kann eben mein Beispiel mit der ‚ödipalen Mutter‘ Gesichertes beitragen. Denn ich erwähnte aus meiner eigenen Kindheit, aber auch aus späteren Erfahrungen und aus vielen meiner Psychoanalysen, das ein homosexueller Mann kaum in der Lage sein würde, diesen weiblichen Blick der ‚interessanten Mutter‘ auszustrahlen. Er kann eine sehr gute Mutter sein, auch ein feminines Wesen kann er vielleicht sogar ganz originell repräsentieren, aber nicht diesen in sich ruhenden und geheimnisvoll bleibenden, leicht verschleierten libidinösen Blick.

Mit einem homosexuellen Patienten diskutierte ich einmal die Geschichte vom ‚Eisenhans‘, das er als Buch in meinem Regal hatte stehen sehen. Er besorgte es sich selbst und fand es ideal, weil der ‚Eisenhans‘ der starke, ältere, intime Freund es Königssohns gewesen war und er nicht verstehen konnte, warum der Prinz sich schließlich ein Mädchen zu Frau nahm. Diese Männerfreundschaft ging doch über alles! Zurecht meinte er, es sei doch egal, ob man auf vollen Busen und weichen Rundungen stehe oder auf prallen Hoden und Muskeln. Aber ist dies nicht, meinte ich, der Blick auf die Oberflächen, auf das äußere Bild? Hat der Prinz nicht vielleicht in der Frau das abgrundtief sich im Inneren seiner Partnerin im Kreis bewegende Libidinöse gesehen, das seine nach außen strebende und drängende Libido beruhigen kann und für seine Aufgabe, selbst König werden und Nachkommen zeugen zu müssen und also bedeutender Vater zu sein, idealer ist, als der männliche Blick des ‚Eisenhans‘, den der Prinz ja nun selber von ihm ausreichend gelernt hat? Als Vater und König braucht man beide Blicke, habe ich meinem Patienten gedeutet. Als normale Menschen können wir bei dem Blick unserer psychosexuellen Identität bleiben.

Es sind ja vor allem die Transsexuellen, die unter der Einseitigkeit des Blicks leiden und daher gleich das Geschlecht wechseln wollen. Aber die Hormone und die Operationen und auch die psychische und soziale Einstellung genügen nicht, um auch wirklich das Geschlecht zu wechseln. Meist kommen zwar beide Blicke ins Spiel, verwirren und überscheiden sich aber, so dass Lacan vom transsexuellen Delir sprach, eine etwas heftige Bezeichnung. So sehr ich auch gesagt habe, dass ich in dem Blick des Homosexuellen nicht die durch den Blick der Frau als solcher erzeugte Ödipalität wahrgenommen hätte, so sehr bin ich dafür, dass auch Homosexuelle Kinder aufziehen können sollten. Denn eine schlechte Ehe heterosexueller Partner kann den Wert des positiven Ödipuskomplexes ebenso schmälern. Mit dem von mir entwickelten Verfahren der Analytischen Psychokatharsis hoffe ich, wenn auch vielleicht nicht ganz den Königsblick, so doch einen etwas im geschilderten Sinne gehobenen Blick erreichen zu können, der eben ein wenig beiden Blicken gerecht werden kann.