Lévi-Strauss und seine lebendigen Toten.

Der Ethno- und Anthropologe  Claude Lévi-Strauss blieb zeit seines Lebens Akademiker, auch wenn er ein Außenseiter in der westlichen Wissenschafts-Kultur gewesen ist. Er wollte unbedingt an der Universität lehren und hatte viele Kämpfe mit Kollegen und Bürokraten zu bestehen, um seinen Lehrstuhl für Sozialanthropologie, seine Labor- und Forschungsbereiche und seine ethnologischen Vorlesungen etablieren zu können. Der mit ihm hinsichtlich vieler Aspekte zusammenarbeitende Psychoanalytiker J. Lacan kann jedoch fast als das Gegenteil dieses Akademiker-Anspruchs gelten. Für Lacan war klar, dass die Psychoanalyse nicht an einer Universität oder ähnlichen Institutionen gelehrt werden kann. Dem widerspricht nicht, dass Lacan auch Seminare und Vorträge abhielt, die professionellen akademischen Veranstaltungen ähneln. Das  Problem, um das es aber bei diesen beiden Wissenschaftsprotagonisten geht, ist das Gleiche: welche unbewussten Elemente steuern den Menschen und seine Welt, seine Seele und sein Universum?

Allein in diesen paar Zeilen habe ich schon so viele Worte, Bezeichnungen und Begriffe verwendet, dass jeder auch nur ein wenig logisch geschulte Mensch diese gerade geäußerten Sätze als abstrakt oder belanglos zerlegen kann. Wo fängt ein Akademiker-Anspruch an, wo hört man auf zu lesen, wer sind die beiden Wissenschaftsprotagonisten und was heißt solch eine Feststellung überhaupt? Und was ist Feststellung? Alles ist ungenau und unscharf. Man würde einen Stein der Weisen brauchen, den ‚lapis philosophorum‘, den man nur ein paar Mal hin und herdrehen muss, bis man in die notwendige Trance fällt, die einem die Wahrheit offenbart. Für Lévi-Strauss besteht dieser ‚lapis‘ aus der Formel für die widersprüchliche Struktur des Mythos, nämlich die zwischen dem an die menschliche die Entstehung des Menschen aus der reinen Natur heraus (aus Fluss, Erde, Baum, Wind und Tier)  „und der faktischen Anerkennung, dass jeder aus der Vereinigung eines Mannes mit einer Frau hervorgeht“.[1] Mathematisch von Lévi-Strauss so ausgedrückt: Fx (a) : Fy (b) = Fx : Fa-1 (y). Na ja, warum nicht.

Jeder einzelne Mensch ist – innerlich und äußerlich gleichermaßen – konfrontiert mit dem Gegenpart seiner selbst. Bei Levi-Strauss besteht dieser Gegenpart also einerseits in den Beziehungen von Mann und Frau, was sich vor allem in den Verwandtschafts- und Heiratsregeln widerspiegelt, andererseits aber auch in den Beziehungen der Lebenden zu den Toten. Die von ihm auf fast allen Kontinenten untersuchten Primärvölker praktizierten diesbezüglich ein farbiges, reichhaltiges und langwieriges Brauchtum, zahlreiche Zeremonien und Begräbnisriten, bei denen die Toten zu Wort kamen und von bestimmten Gruppen von Männern oder Frauen gespielt werden mussten. Und doch, so argumentiert Levi-Strauss, finden diese Spiele und Kulte um die Toten herum nur deswegen statt, weil die lebenden Stammesmitglieder ihre Probleme untereinander nicht besser lösen konnten. Die Toten mussten den Lebenden helfen und dazu mussten sie eben massiv wiederbelebt werden, ein Umstand, den man doch geschickter mit therapeutischen Gesprächen der Lebenden untereinander hätte vermeiden können, so das Fazit.

Aber existieren bei uns heute nicht auch noch ähnliche Mechanismen? Wir streiten uns über Politik, obwohl wir doch kaum einen Einfluss darauf haben, was die alle vier oder fünf Jahre Gewählten wirklich tun. Wir wetteifern ums Geld wie im Totemismus um den Fetisch. Wir betrinken, belügen, kompromittieren und korrumpieren uns, als wären wir alle schon tot. Vielleicht verdrängen wir die Toten zu sehr und halten uns deswegen für besonders lebendig. Wir brauchen genauso wie die Primärvölker eine neue Gesprächskultur oder gar eine Chiffre, etwas, das mehr als nur ein heraldisches Symbol ist, sondern das eine Wissenschaftskultur hinsichtlich des Unbewussten ist, etwas, was neuen Kontakt schaffen und neues Beginnen zwischen den Extremen erzeugen kann. Unsere bisherigen Vermittlungssysteme genügen genauso wie die mythischen Totenrituale der Primärvölker nicht mehr, um den notwendigen Austausch unter den Menschen auf einer differenzierten Gesprächsebene aufrecht zu erhalten.

Levi-Strauss entzückt sicher Mathematiker und strukturalistische Akademiker, aber für den sogenannten einfachen Mann auf der Straße hat er keine Empfehlung. Hier kommt Lacan mehr zum Zug, schließlich ist er zwar auch abstrakter Theoretiker, aber ja auch Therapeut. So ist Lacan der Spezialist schlechthin, was die Beziehung von Mann und Frau angeht. Er meint, dass die sexuelle Beziehung zwischen den beiden gar keine richtige Existenzberechtigung hat, weil die immer nur mit einer „Freudschen Fehlleistung“, einem Patzer, einem Missgriff und Schnitzer endet. Der Mann ejakuliert immer auf dem Höhepunkt seiner Angst und die Frau findet sich nur schwer in den dazu passenden Gefühlen zurecht. Wie schon im Hite-Report geschildert, sieht sie Sterne oder blaues Licht oder empfindet emotionale Befriedigung, deren Körperbezug unklar bleibt. Lacan empfiehlt daher eine Langzeitpsychoanalyse. Eine solche kann aber sehr umständlich und äußerst zeitraubend sein. Und so kann ich wieder meine Methode der Analytischen Psychokatharsis und meine Formel-Worte empfehlen, die den direkten Kontakt zum Unbewussten herstellen.

Diese Formel-Worte sehen so aus wie es die Abbildung nebenan zeigt, die eine kreisgeschriebene (lateinische) Formulierung enthält, die von verschiedenen Buchstaben aus gelesen verschiedene Bedeutungen enthält. Übt man eine derartige Formulierung gedanklich, meditativ, bekommt man eine Antwort auf die oben gestellte Frage aus sich selbst heraus (Genaueres später). Selbst Lacan, der mit seinem ‚linguistischen Kristall‘ durchaus etwas Ähnliches versuchte wie Lévi-Strauss, nämlich eine fast mathematische Ausdrucksweise, konnte diese aus Elementen der Linguistik und der geometrischen Topologie erstellte Formel seinen Zuhörern nicht in der gleichen Weise direkt übermitteln, wie dies ein Üben mit dem Formel-Wort AREVIDEOR (oder DEORAREVI, VIDEORARE ect.) tut. Denn das Subjekt ist gefragt und nicht die tollsten materiellen oder geistigen Objekte, wie es auch die Mytheme darstellen, die Levi-Strauss entwickelt hat.

Denn ein Mythem verweist immer wieder auf ein anderes Mythem, und so setzt sich der Grundkonflikt zwischen Mann und Frau und zwischen den Lebenden und den Toten ständig weiter fort. Levi-Strauss‘ Buch ‚Traurige Tropen‘ war in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Insider- und Kult-Buch, doch heute ist es fast vergessen. Es lebte vor allem von der lebendigen Schilderung seiner Reisen zu den Indianern Südamerikas, die spannend und entbehrungsreich waren. Doch heute sind diese Völker längst von der technischen Kultur des Westens eingeholt worden. Wir müssen uns diese Abenteuer und Spannungen anderswo suchen, nämlich im eigenen Inneren, wo sie in unerschöpflichem Reichtum auf jeden von uns warten.

 



[1] Loyer, E., Lévi-Strauss, Suhrkamp (2017) S. 91