Samuel und der 'Eigenname'

Im Alten Testament steht die Geschichte von Samuel, dessen Eltern ihn zum Oberpriester Eli in den Tempel gegeben hatten. Eines der Kinder Im Tempel oder Kloster unterzubringen  war damals und auch noch in Asien oder bei uns bis zu Beginn der Neuzeit üblich. Gehen wir einmal von modernen, zwar nicht atheistischer, aber doch heutzutage durch viele Wissenschaften gestützten Anschauung aus, dass wir uns unter Gott nicht mehr eine menschliche Gestalt vorzustellen haben, die von weit oben her weise Anmerkungen von sich gibt. Der streng katholische Religionsphilosoph R. Spaemann  definierte Gott als ein „unsterbliches Gerücht“ und der französische Psychoanalytiker J. Lacan nannte

ihn einen „Körper ohne Gestalt“. Beide Zuschreibungen sind positiv gemeint. Für Spaemann geht es um einen originären Diskurs, also eine bestimmte Art des Sprechens und Aussagens, die hier – im Gegensatz zu all den üblichen Diskursen wie dem alltäglichen Diskurs, dem universitären Diskurs oder dem analytischen Diskurs – eben unsterblich, unendlich ist. Da dieser unsterbliche Diskurs meist nicht der ist, den Pfaffen und Theologen vortragen, sondern einer, der im Hintergrund, wie verborgen und wie hinter vorgehaltener Hand verlautet, nennt Spaemann ihn eine Gerücht.

Lacan dagegen bezieht sich auf das Unbewusste, und dies ist etwas, das aus verdrängten und nicht ans Licht gebrachten „Wie-eine-Sprache-Strukturiertem“  besteht, also aus einem durchaus dem Spaemannschen ähnlichen, verborgenen, gerüchteartigen Diskurs, der jedoch physisch gespürt werden kann. In Symptomen, im Schaudern genauso wie im  positiven Erregtsein, in kathartischen Erfahrungen wie in starken Träumen kann man Berührungen spüren, die wie körperlich sind. Ich erinnere mich an den Traum einer Patientin, die beim Abschied ihrem Vater die Hand gab und beim Aufwachen noch ganz deutlich das Gefühl der Berührung in ihrer Hand verspürte. Es war, als wollte sie ihn nicht loslassen, und darum drehte sich auch tatsächlich ihre Problematik. Die Mystiker früherer Zeiten beschreiben natürlich solche Erfahrungen auch im Zusammenhang mit Gott sehr häufig (z. B. Johannes vom Kreuz in seinem Gedicht „Die dunkle Nacht der Seele“). Und im Alten Testament passiert es oft, dass Gott einen anfasst oder seine Gegenwart physisch spürbar ist (z. B. bei Eliphas im Buch Hiob).

Ich will mich also auch in Bezug auf die Geschichte von Samuel auf diese Spürbarkeit und gerüchteartige Diskursform auf diese moderneren Begebenheiten stützen, die einfach auch für ein scheinbar transzendentes, diskurshaft verdrehtes und letztlich Kern-Unbewusstes gelten. Man muss also bei heutiger wissenschaftlicher und vor allem auch psychoanalytischer Betrachtung nicht mehr die Vokabel Gott benutzen, um auch die Geschichte Samuels zu erklären. Denn diese Erzählung zeigt eine Mutter, die erst nach dramatischen und verzweifelten Bemühungen, Gebeten und Besuchen beim Tempelpriester Eli ein Kind bekam. Die andere Frau ihres Mannes hatte nämlich schon mehrere Kinder geboren, und als sie jetzt endlich ihren Samuel hatte, sagte sie so ungefähr, dass er ja eigentlich das Kind Jahwes sei und gab ihn zum Oberpriester Eli in den Tempel. Bei Jesus war es nicht anders, auch sein Vater wurde mehr oder weniger verleugnet – ob es nun vielleicht doch Josef war oder wie manche Forscher behaupten ein römischer Besatzungsoffizier oder einfach jemand, den man aus gesellschaftlichen Gründen nicht nennen wollte – der göttliche Geist war sein Vater. Allegorisch-metaphorisch kann man dies ja auch so gelten lassen. Doch nicht umsonst habe ich den Traum meiner Patientin erzählt.

Denn in diesem Traum kommt nicht nur zur Sprache, dass sie ihren Vater – unbewusst – nicht loslassen konnte (bewusst wollte sie ihn nämlich schon seit langem aus sich verbannen), auch der vatr wollte sie nicht gehen lassen. Hier war es die Mutter, die irgendwie fehlte. Und so war auch Samuel in einer gespaltenen, zerrissenen Situation. Er spürte den starken Wunsch der Mutter, dass er ein besonderer Sohn in der Familie sein sollte, spürte das Fehlen des Vaters, der noch andere Frauen hatte und viele Kinder und Freunde und Arbeit und sonst was. Und dann war da auch n och der Ersatzvater Eli, in dessen väterlicher Obhut er aufwuchs, und der nunmehr, als Samuel schon lange im Tempelbezirk lebte, uralt und blind war. Die Frage stand deutlich im Raum, wann er sterben würde und wer seine Nachfolge antreten könnte. Vielleicht Samuel, seine rechte Hand? Man kann sich gut vorstellen, wie es in dem herangereiften und doch noch jungen Mann Samuel ausgesehen haben mag.

So wundert es auch nicht, dass er eines nachts träumte, Eli habe ihn zu sich gerufen. Wollte er ihm vielleicht seinen Segen geben, sein letztes Wort? Nein, der Alte sagte nur: „Leg dich wieder hin, ich habe dich nicht gerufen, du hast geträumt.“ Doch schon bald danach hörte Samuel wieder seinen Namen, stürmte wieder zu Eli, der ihn erneut mit den gleichen Worten tröstend verabschiedete. So brauchte es – wie es ja oft in Heiligenlegenden ist – noch ein drittes Mal. Wieder hörte Samuel ganz deutlich und nicht mehr im Traum --  vielleicht kurz danach oder in einer meditativen Verfassung – seinen Namen rufen. Erneut ging er zu Eli, der ihn war wieder wegschickte, diesmal aber gemerkt hatte, dass bei seinem Ziehsohn Samuel etwas Besonderes vorlag. Deshalb sagte er zu Samuel: Wenn du den Ruf wieder hörst, sag sofort: „Rede, dein Knecht hört!“ Ob Eli jetzt wirklich noch so überzeugt von seinem eigenen Glauben war oder nicht ist fraglich, schließlich hatte er ja nur noch Altersbeschwerden, musste Blindheit ertragen und musste stets an denn Fluch Jahwes denken, den ein „Gottesmann“ Eli prophezeite: „Es werden Tage kommen, da werde ich deinen Arm abhauen und die Macht deines Vaterhauses vernichten; in deinem Haus wird es keinen alten Mann mehr geben.“[1]Aber hinsichtlich Samuels dachte er wohl doch, dass Jahwe positiv gesinnt war und ihn deswegen ruft.

Heute würden wir sagen, dass es das Kern-Unbewusste war, das Samuel gerufen hatte. Denn dieses Unbewusste besteht nicht nur aus dem Verdrängten (Samuels Vaterproblematik) sondern auch aus dem, was Freud die Urverdrängung genannt hat. Damit ist ein noch elementarerer Bereich des Unbewussten gemeint, der nicht ‚strukturiert ist wie eine Sprache‘ im herkömmlichen Sinn, sondern sehr elementarsprachlich, bildsprachlich, bildlogisch aufgebaut ist. Dafür ist der Eigenname eine typisches Phänomen. Lacan hat in mehreren seiner Seminare über das Wesen des Eigennamens gesprochen, viele Autoren dazu kommentiert und letztlich herausgefunden, dass es nichts gibt, was den Eigennamen als solchen definieren könnte. Die Linguisten gehen davon aus, dass in der Zeit der Frühmenschen zwei oder drei sich in einem Ausruf zusammengefunden haben, und diesen Ausruf mehrfach wiederholend schließlich zu ihrem Clannamen machten.

Lacan stellt diese primäre Wiederholung in der Vordergrund, um tierisches (animistisches)  und menschliches Verhalten in der Geschlechtsbeziehung zu beschreiben. Er benutzt dazu sogar die Mathematik, wo eine „Eins-zu-Eins-Beziehung“ auch keine biologische, animalische Beziehung ist, sondern eher eine von „einem Jeden zu seiner eine Jede“, also von einer wirklichen Seeleneinheit (z. B. Mann) zu einer anderen Seeleneinheit (z. B. Frau), von einem Ausruf, den die zwei oder drei zusammen wiederholend ausrufen. „Ara – Ara“, wir sind das Ara-Paar, wir sind vom Ara-Clan, Ara ist das Losungswort, an dem man sich gegenseitig erkennt (im Alten Testament war sich erkennen und sich paaren noch das Gleiche). Und wenn dieser Eigenname im Traum, in der Trance oder in der Meditation so laut rufend auftaucht, kommt er aus diesem Wiederholungszwang, aus diesem Wiederholungsmoment, der auch den Übergang aus der frühesten Verdrängung, lauernd im Unbewussten, ins Bewusste herüberbringt.

Samuel hat nach sich selbst gerufen, nach sich als Sohn, als Name der Vater-Sohn-Verkettung, der Ziehsohn-Priester-Verbindung, die anders herum gelesen auch eine Verschmolzenheit oder eine unbewusste Verschmelzungssehnsucht mit dem Ur-Anderen, der ersten Figur im Leben, der namenlosen Mutter, ist. So muss es heute der Psychoanalytiker sehen. Lacan behauptet, dass es eigentlich keine Wort-Sprach-Vermittlung vom Unbewussten zum Vorbewussten gibt (wobei von letzterem eine Vermittlung zum Bewussten gut erklärbar ist),[2] obwohl dies eigentlich so wichtig wäre, weil man nur dadurch seinen ‚Eigennamen‘ kennen lernen könnte, also das, in dessen Namen man spricht. Samuel ruft sich in seinem eigenen Namen, seinen eigentlichen ‚Eigennamen‘ im ganz konkreten und bestimmenderen Sinne  wird er noch kennen lernen, wenn er Prophet geworden ist.

Noch spricht er wie es üblicherweise die Menschen tun, die sich mal im Namen ihrer Wünsche, mal im Namen ihrer Familien, ihrer Vorgesetzten oder ihres Gewissens rufen, aber dabei sprechen sie kaum je im Namen ihrer ‚Selbst‘. Freilich glauben sie dabei, dass sie ein Ich haben, im Namen dessen sie sprechen, aber sind sie es auch? Auf jeden Fall bleibt der Bezug zu diesem unbewussten Namen fraglich, er äußert sich normalerweise nicht selbst. Bei Samuel äußert er sich zwar heftig, aber es ist nur sein Vorname, noch nicht der ureigentliche und wahre. Ich konnte in Psychoanalysen oft zu den Patienten, wenn sie plötzlich einen anderen Tonfall oder ein Stocken hatten, sagen: ‚Das waren jetzt nicht Sie, der das gesagt hat.‘ Oft ging es um die Stimme der frühen Mutter, die sich hier eingeschaltet hatte oder anderer ‚Geister‘ (Vater, Brüder, Tanten, Liebespartner, etc.).

Auf was ich in diesem Artikel hinauswill ist jedoch mein Verfahren der Analytischen Psychokatharsis, in dem ‚Eigennamen‘ besonderer Art eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind einerseits Formulierungen, die ich Formel-Worte nenne und die in einem Schriftzug mehrere Bedeutungen enthalten, so dass man sich auf keine festlegen kann und sie zuerst meditieren muss. Dieser Meditationsvorgang führt wie bei Samuel ins Unbewusste, in die Tiefe (oder Höhe, egal wie man es nennen will) und provoziert aus dem Unbewussten eine zweite Art von ‚Eigennamen‘, die ich Pass- oder Identitäts-Worte nenne. Sie sind es, die den letztlichen und eigentlichen, wahren ‚Eigennamen‘ finden lassen. Hätte Samuel schon dieses Verfahren gekannt, hätte er nicht Saul im Krieg befohlen, „alle Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel zu töten“. Und er hätte auch Saul nicht verflucht, weil dieser seinem Befehl nicht folgte, sondern ein Opfer darbrachte, und hätte auch nicht den in Fesseln gefesselten feindlichen Anführer selbst in Sauls Gegenwart „in Stücke gehauen“.[3] Er hätte vielleicht nicht den für die damalige Zeit (1100 vor Chr.)) noch als paradox zu wertenden Spruch gehört „Liebe deine Feinde“, aber vielleicht doch das Pass-Wort „Behandle sie nicht schlecht, du bist doch Prophet!“.

 

 



[1] 1Sam 2,27, wichtig zu wissen ist auch, dass Elis eigene Söhne börartig waren

[2] Hier und im Folgenden zitiere ich aus Lacans Seminar IX, Vortrag vom  10. 1. 1962.

[3] 1 Sam 15,33