Zur Psychosomatik von Sehen und Riechen

Haut- und HNO-Arzt hatten einem meiner allgemeinmedizinischen Patienten gesagt, dass er an einer Duftstoffallergie leidet. Er konnte bestimmte Seifen, Cremes, Intimsprays, aber auch Essengerüche und vieles andere mehr nicht ohne Symptome wie Juckreiz, Atemnot und Taubwerden der Zunge riechen. So richtete er es sich zu Hause möglichst geruchfrei ein und ging auch nicht mehr in bestimmte Restaurants oder große Kaufhäuser. Aber wie erklärt man diese Duftstoffallergie? Mein erster Gedanke war, dass er in der Kindheit schon damit geplagt war, Mutters Parfüm nicht mehr riechen zu wollen oder auch nicht

mehr riechen zu dürfen, egal wie man sich frühe psychische Komplexe vorstellen könnte. Gerade weil die Allergie mit den Intimsprays begonnen hatte, war, so dachte ich mir, war die Intimität zur Mutter bedrohlich geworden und kam einem diese mehr psychosomatische Form des Ödipuskomplexes in Erinnerung. Als Psychoanalytiker neigt man immer zu solchen kuriosen Spekulationen.

Neurowissenschaftler haben ganz andere Vorstellungen von derartigen Krankheiten. Sie nehmen an, dass die Duftreize im Gehirn, speziell im Hippokampus zu kreisenden Informationen führen, sich also ein Wiederholungsautomatismus von Nervenzellreaktionen herstellt, der sich mit anderen Nervenzellreaktionen kurzschließen kann. Wie bei einer Neuralgie oder Epilepsie feuern diese überreizten Nervenzellen dann schon bei geringster Duftwahrnehmung. Freilich gibt es auch die vom Immunglobulin E vermittelten Duftstoffallergien, bei denen das Gehirn zwar auch eine Rolle spielt, vorwiegend jedoch auch das sensibilisierte Immunsystem die Krankheit mitverursacht. Aber ist ein psychoanalytischer Ansatz nicht doch auch interessant?

Nach einer kurzen allgemeinmedizinischen Besprechung kam der betreffende Patient später zu mir in analytische Psychotherapie. Er schilderte mir im Laufe etlicher Sitzungen sehr eindrucksvoll, wie er sich als noch nicht ganz dreijähriger Junge morgens ins Bett der Mutter legen durfte und mit ihre alle möglichen Geschichten besprach, kuschelte und Späße machte. Er erinnerte sich auch noch an die wunderbare, weiche und gut duftende Haut der Mutter, die sich eines Tages jedoch jäh veränderte. Die mütterliche Haut sei zunehmend teigiger, pickeliger, rauer und eigenartig riechender geworden. Er konnte nicht mehr morgens ins Bett der Mutter steigen und bekam bald erste allergische Probleme. Erst sehr viel später, im jugendlichen Alter, wurde ihm klar, dass es zu dieser Zeit auch eine Schwangerschaft der Mutter gegeben hatte, doch was er noch nicht realisierte, war die Tatsache, dass die Schwangerschaft das mit ihm wohl konkurrierende Geschwisterchen hervorbringen würde und dass es vielleicht deswegen zu seiner Antipathie gekommen war. Viele Träume und Einfälle, die er hatte, sprachen jedenfalls schon bald nach Beginn der Behandlung für diese Deutung.

Und damit ließ auch die Duftstoffallergie etwas nach. Sie verschwand aber nicht ausreichend, und so empfahl ich ihm die Anwendung der Analytischen Psychokatharsis, mit der er tiefer in die unbewussten Zusammenhänge gelangen konnte. Denn schon bald bemerkte er, dass die erste Übung, die mit der Katharsis zusammenhängt, in ihm auch Wohlgerüche wachrief, die ihn wieder zurück in die frühe Kindheit brachten. Die erste Übung hat etwas mit der Wahrnehmung ursprünglichster Körperbilder zu tun und ruft oft Lumineszenzerscheinungen (helligkeitswahrnehmungen) oder ‚Durchrieselungsgefühle‘ (wie bei besonderen Musikstücken) hervor, was mit ursprünglichen Sinnesreizen oder Reizerinnerungen zu tun hat. Man spricht von Atavismus, Belebung frühester Körperbilder, die die französische Psychoanalytikerin F. Dolto in dynamische, erotische und basale Formen einteilte. Da diese Übungen durch wissenschaftlich begründete Formulierungen gedanklich gestützt werden, bleiben die Körperbilder positiv besetzt, und so ist wohl die Wohlgeruchserfahrung bei dem Patienten zu verstehen..

In der zweiten Übung, die mit den Identitäts- bzw. Pass-Worten zu tun hat, also Verlautungen, die sich vom Unbewussten her aufdrängen, erfuhr er eines Tages den Satz: ‚Was man nicht sehen kann, darf man nicht riechen.‘ Eigenartig! Kurios. Irgendwie interessant aber vielleicht auch nur blödsinnig, dachte er sich sofort. Aber es war aus ihm selbst gekommen, er hatte es ‚gehört‘, ‚gehörgedacht‘,[1] wenn man dies einmal so sagen darf, und so etwas verschiebt man nicht gerne wieder ins Negative, ins Abseits. Dies auch schon deswegen nicht, weil mein Patient wusste, dass das Unbewusste keine Negation kennt. Es existiert vielleicht eine doppelte Verneinung, die ja letztlich wieder eine Bejahung ist. Doch was sollte ihm hier positiv gesagt werden? Es war ihm gleich klar, dass es um sein Riechen geht und so besprachen wir uns erneut.

Es gibt einen ähnlich lautenden Satz am Ende des Buches „tractatus logocophilosophicus“ des Philosophen L. Wittgenstein: ‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen‘, was oft auch ergänzt wurde durch ein: ‚Wovon man nicht sprechen kann, das muss sich‘ oder ‚das muss man zeigen‘. Auch wäre es bei meinem Spruch logischer gewesen zu hören: ‚was man nicht sehen kann, das muss man sich erriechen‘, was auch an den von F. Rückert einem irakischen Gelehrten nachgedichteten Satz erinnert: ‚Was man nicht erfliegen kann, das muss man sich erhinken‘. Nun standen bei uns alle diese literarischen Vorbilder nicht im Vordergrund. Meinem Patienten und mir war sofort klar, dass ‚riechen‘ etwas Triebbezogeneres ist, mehr Sinnlich-Sinnhaftes, Erotisches, das wohl mit der frühen Mutter zu tun haben könnte, während das Sehen etwas mehr der Ästhetik, der Wahrnehmungskultur zugehört. Etwas urwüchsig Triebhaftes in ihm sollte nicht da sein und konnte so wohl auch nicht gesehen werden. Von niemand. Ein paar weitere Einfälle, die ich nicht alle erwähnen will, klärten das Ganze noch mehr und bis zur Genüge auf. Genau so etwas passiert auch in der klassischen Psychoanalyse, nur dass es dort länger gedauert hätte und umständlicher gewesen wäre, dahin zu kommen.

Obwohl das Unbewusste als etwas deutlich Sprachbezogenes gilt, ist es doch schwierig zu erklären, wie all das, was in ihm verlautet, in bewusst Sprachliches geformt wird. Es drängt nach außen, Lacan spricht diesbezüglich von einem Entäußerungs- oder Sprechtrieb beim Menschen. Der kann sich freilich auch im Schimpfen, in Wut- und Hasstiraden, in Nonsens-Sätzen und in abstrakten Schwafeleien austoben. Der beste Weg jedoch ist der der Enthüllung, der Beziehungssprache, Aussprache, Beichte (übertrieben formuliert). Heute werden keine Ideologien und zu weit ausufernde Philosophien gebraucht. Dichtung und Wahrheit ist gut, aber am besten würde jeder die Worte aus seinem Innersten herausbringen, die für eine Wissenschaft  v o m  Subjekt notwendig sind. Denn die Beschäftigung mit der wohlriechenden Katharsis und dem oben genannten Satz (es gab in seinen Übungen noch mehrere andere) löste endgültig seine Duftstoffallergie. Wortwörtlich – so berichtete der Patient mir nach längerer Zeit einmal wieder – habe er „sehen gelernt, um riechen zu können“. Denn genau sehen, heißt verstehen, heißt ganzheitlich erfassen, meinte er.

Er habe die Mutter nicht gesehen, ‚nicht geschaut‘, was gut an die Ödipussage erinnert. Sowohl Iokaste, die Mutter, wie auch Ödipus haben sich nicht genau in die Augen gesehen. Ödipus hat nur eine tolle Königin erblickt, nicht die Frau als solche, die Iokaste war. Und Iokaste hat ihren eigenen Sohn nicht gesehen, nicht erkannt, nicht gerochen. Deswegen brauchte es damals einen ‚Seher‘, Teiresias nämlich, der auch den Tiefenblick hatte, mit dem man auch riechen kann. Vor allem die geradezu körperliche Nähe des Riechens in der Katharsis, habe ihm viel geholfen, sagte mein Patient. Es war ihm in der totalen Entspannung so vorgekommen, berichtete er, als hätte er plötzlich alles riechen können, Pflanzendüfte z. B. auch von weit her. Ob das wirklich so war, ist fraglich, aber er befand sich in einer leichten Euphorie, und die ist hilfreich für die zweite Übung des Verfahrens, in der ihm das Pass-Wort zukam.

Er habe das neu ankommende Kind bei der Mutter nicht ‚gesehen‘, sagt er. Es muss tatsächlich so gewesen sein, dass die Angst vor dem neuen Kind der Mutter darin bestand, dass dieses Kind ihm die Mutter wegnehmen würde. Aber den Vater als Ersatz habe er auch nicht gefunden. Dabei war der Vater ständig zugegen. Im Gegensatz zu den vielen Behauptungen, der fehlende Vater würde oft Ursache für die Neurose eines Kindes, insbesondere des Sohnes sein, war es bei meinem Patienten fast umgekehrt. Der Vater war zwar physisch da, aber er fehlte gerade in dem Sinn, in dem diese Pass-Worte wirken würden: als ein ernsthaftes, vertrautes Wort, als Losungswort, als Identitätswort, als „Wort- und Namensgeber.“

In diesem Moment versprach sich mein Patient und sagte „Nasemsgeber“, und da war der Bezug zu seiner Geruchsstörung wieder hergestellt. Ja, diese Intimität und Nähe, für die die Nase stand, konnte der Vater nicht geben. Aber exakt die hätte mein Patient gebraucht. Ein Wort, das so intim war wie das, was er in dem von ihm selbst – und daher so intim persönlich – stammenden Satz gehört und vernommen hatte. Der Mensch braucht dieses ganz vertraute, dieses ‚Liebeswort‘ des Vaters, und war es nicht deswegen, dass die Menschen früher Gott selbst sprechen gehört haben? Auch ihnen hat dieses persönliche, zärtliche Wort des Vaters oft gefehlt, und deswegen haben sie – all die Mystiker und Religionsgründer – es in sich selbst gehört. Da war es – selbst wenn es streng und zornig war – wie beim Gott des Alten Testaments doch auch Liebe. Die Mutterliebe kann dies beim heranwachsenden Jungen nicht mehr so erfüllen, wie es das zutreffende, vielleicht nicht gleich zu verstehende, rätselartige und doch intime Wort des Vaters vermag. Irgendwie war mein Patient bei der verbotenen Mutter und ihrem verbotenen Duft stecken geblieben.

Nicht umsonst hat S. Freud, der Vater der Psychoanalyse, einen Literaturpreis bekommen, denn sein Wort war zutreffend und doch vertraut erzählend, einfühlbar und weise, und auch J. Lacans Worte waren, wenn auch meist rätselhaft, so doch auch geschmeidig, frei fließend gesprochen und voll Weisheit. Doch jetzt konnte es mein Patient selbst erzählen, er konnte all die Gedanken und Spekulationen, die er sich um das Pass-Wort und um seine Kindheit und Vergangenheit machte, so mitteilen, als kämen sie wie der Satz vom Sehen und Riechen frei aus ihm heraus. Dabei halfen ihm noch weitere Übungen und ein paar weitere Pass-Worte.



[1] Zu sagen, dass man es ‚hört‘ klingt nach Stimmenhören. So etwas ist es auch manchmal, wobei bekannt sein muss, dass es eben auch absolut nicht krankhaftes Stimmenhören geben kann. Meist ist es bei den Pass-Worten jedoch so, dass man den Zusammenhang zum eigenen Denken noch irgendwie herstellen kann. Es kommt einfach etwas Sprachliches direkt aus dem Unbewussten, wird im letzten Moment von dem, was Freud das Vorbewusste nannte, noch ein wenig beeinflusst, so dass man es sich dann leicht ins ganz Bewusste herholen kann. Oft ist es so, als käme solch ein Gedanke wie von weit oder von ganz aus der Tiefe her. Viele haben so etwas auch schon einmal in den typischen, oft nur ganz kurzen Übergangsphasen beim Einschlafen oder Aufwachen wahrgenommen und es fast im selben Moment wieder vergessen.