Die Seelenwollust

In der psychoanalytischen Literatur wird immer wieder einmal der Patient Daniel Paul Schreber erwähnt, der selbst ein Buch über seine Erkrankung geschrieben hat. D. P. Schreber war 1893 zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts in Dresden bestellt worden, war aber dieser Aufgabe nicht gewachsen und verbrachte dann neun Jahre in einer Nervenklinik. In seinem 1903 erschienenen Buch ‚Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken‘ beschrieb er jedoch eindrucksvoll sein überbordendes, zum Teil verwirrendes und leidvolles seelisches Erleben. Viele Kommentatoren schreiben, dass in diesem Buch einerseits seine paranoische Erkrankung deutlich zum Ausdruck kommt, es aber anderseits auch philosophische und psychologische Aspekte enthält, die lesenswert sind. Das Buch kann geradezu als Zeitdokument betrachtet werden hinsichtlich der damaligen, starren, professuralen Psychiatrie, aber auch als Ausdruck der vor dem ersten Weltkrieg sich anbahnenden Ängste und gesellschaftlichen Unruhen.

 

S. Freud hat das Buch im Jahr 1909 kommentiert und außer der genannten Überforderung im Beruf den Hintergrund der martialischen Erziehung Schrebers durch seinen Vater sowie eine unterschwellige homosexuelle Strebung eruiert. Schrebers Vater war nicht nur der Er-finder der Schrebergärten, er war auch als Orthopäde durch seine Korsette und Geraderich-tungsapparate für eine ‚gesunde Haltung‘ bekannt. Solch ein Potentat, militanter Erzieher und Patriarch führte wohl auch schon bei Schrebers älterem Bruder zum Selbstmord und es ist häufig auch so, dass Söhne derartiger Väter Probleme mit der Homosexualität haben. Trotzdem war Freuds Deutung, dass eine homosexuelle Tendenz bei Schrebers Erkrankung eine entscheidende Rolle spielte nicht ganz gerechtfertigt. Man war damals in der Psycho-analyse vom Gedanken der grundlegenden Bisexualität jedes Menschen überzeugt, und wer eben psychische Probleme hatte, dem wurden eine Verdrängung dieser Tendenzen zugeschrieben.

Lacan hat später klar herausarbeiten können, dass es sich viel eher um eine transsexuelle Strebung gehandelt hat, unter der Schreber unbewussterweise litt. Schreber hatte nämlich die Vorstellung, dass Gott zu männlich geraten sei und vermutet – nicht ganz zu Unrecht, wie wir heute sagen würden – dass hier das Weibliche fehlt. Für Schreber war Gott eine Art Ner-vengeflecht, das mit den Nervenfasern des Menschen zusammenhängt, eine Auffassung die typisch für die beginnende Hirnforschung gesehen werden kann. Die Gottesnerven können den Menschen positiv und negativ beeinflussen, aber auch der Mensch kann über diese Verbindung Gott in Schwierigkeiten bringen – eine eigentlich nietzscheanische Erklärung. So konstatierte Schreber, dass Gott es vorzieht nur mit den menschlichen Leichen beschäftigt zu sein, da wirkliche Eingriffe ins vitale Leben der Menschen zu komplex und zu heftig wären. Was die Transsexualität angeht, so hatte Schreber zunehmend das Gefühl, in einen weiblichen Körper verwandelt zu sein, um so zum ‚Weib Gottes‘ zu werden.

Aber warum eigentlich nicht? Über die Weiblichkeit Gottes haben inzwischen schon zahlreiche Autoren und Theologen geschrieben, ohne solche eine direkte Lösung gefunden zu ha-ben. Man muss natürlich zugeben, dass Schreber insofern übertrieb und paranoisch agierte, als er wirklich glaubte an seinem Körper zu spüren, wie ihm Brüste wachsen und sich auch ein weibliches Genitale an ihm bilden würden. Seiner Ansicht nach haben Männer nur im Genitalbereich sogenannte ‚Wollustnerven‘, während diese Nerven bei den Frauen über den ganzen Körper verteilt sind. Um diese Nerven zu erregen, genügen dann schon ‚weibliche Vorstellungen‘ oder der Gedanke, wie man als ‚Weib dem Beischlaf unterliege‘. Überhaupt stehen die Gottesnerven den weiblichen Nerven sehr nahe, göttliche Seligkeit und die von Schreber sehr originell so bezeichnete ‚Seelenwollust‘ beim Menschen sind ebenfalls äußerst verwandt. Ja, man kann Gott ein ‚beständiges Genießen‘ verschaffen, wenn man sich möglichst viel der ‚Seelenwollust‘ hingibt.

Der Philosoph W. Schubart entwickelte auf kulturphilosophischen Basis eine durchaus ver-gleichbare Theorie. Er spricht von diesem „rätselhaften Es", das die Menschheit beim Auf-glimmen einer ersten Bewusstheit als eine Art von „Ur-Schauder" erfahren habe, der eben religiös und erotisch zugleich sei, eine Schilderung sehr ähnlich auch der von R. Rolland, der diesbezüglich von ‚ozeanischen Gefühl‘ seiner Yogaerfahrungen sprach.  Schubart, der von den ”Schöpfungswonnen” erotischer Primärreligionen spricht, die sich dann zur „erlösenden Geschlechterliebe” weiterentwickeln sollen, gibt dafür aber keine weiteren Erklärungen an, wie der Mensch diesen Wonnen selbst näherkommen oder sie umsetzen könnte. Das Ganze klingt also mystisch, wenn auch nicht so wahnhaft wie bei D. P. Schreber.

Ich beschäftige mich hier mit all diesen Äußerungen, weil das von mir entwickelte Verfahren der Analytischen Psychokatharsis ein Vergleichsobjekt, nun jedoch auf psychoanalytisch-wissenschaftlicher Basis, darstellt. Auch Lacan schreibt, dass der andere (weibliche?) Eros höchstens eine Sprache ohne Worte kennt, und zwar exakt eine, die doch wenigstens noch so worthaft ist, dass sie sich niederschreiben lässt. Er sagt, das eigentliche Genießen, die wahre (weibliche) Jouissance, insofern sie sich auch bestätigen lässt, liege im Geschriebenen, in der Schreibung und der Verschriftlichung (L’Écrit, c’est la Jouissance).  Es geht vor allem um das im menschlichen Unbewussten schriftlich Programmierte, das der Psychoanalytiker ja zusammen mit seinem Patienten oder Klienten zu entziffern und somit zu lesen versucht. Auch die Psychoanalytikerin R. Golan hat das Weibliche als ein originär-libidinöses bestimmt. Sie schreibt, dass die weibliche Form des Genießens auch Schmerz und Leid einschließt, sie „beinhaltet aber auch Universalität, Höhe, Grenzenlosigkeit, Erkenntnis / Erleuchtung, Wis-sen, Freiheit und Glückseligkeit“.  Da ist man schon wieder ganz nahe an der Seelenwollust, die zwar auch Negativität bedeuten kann, wenn sie sich – so würde es Schreber ausdrücken – zu weit von der Seligkeit der Gottesnerven entfernt.             

Weibliche Nuditäten, so schreibt Schreber in ganz moderner Auffassung, würden im Gegensatz zu männlichen auf beide Geschlechter erregend wirken, und die Seelenwollust ist bei den Frauen beständiger, weshalb Schreber ja dieses Geschlecht bevorzugte. Nun ist trotzdem klar, dass die Seelenwollust nicht ständig und dauerhaft genossen werden kann, das konstatiert auch Schreber. Aber sie sozusagen – und in der Form wie ich sie nenne, nämlich als Katharsis – erfahren zu können, um das Unbewusste zu öffnen, kann vorteilhaft sein. Der herkömmliche Psychoanalytiker muss hunderte von Stunden warten, bis sich durch ‚freie Assoziationen‘, durch Erzählung von Träumen, durch Versprecher des Patienten und Ähnliches das Unbewusste zeigt. In der Analytischen Psychokatharsis ist dies einfacher mög-lich. In einer ersten Übung wird  durch ein bild-worthaftes Element (Lacans ‚linguistischem Kristall) die Katharsis (befreiende Entspannung, Glücksgefühl) wachgerufen. Von ihr aus ist es leichter, das Unbewusste in einer zweiten Übung auch sprechen zu lassen. Und auch hier ist es interessant, einen Bezug zu dem Buch D. P. Schrebers herzustellen.

Das Grundgesetz des menschlichen Lebens ist  so Lacan – ein Symbolisierungsgesetz,  eine Ordnung der Versprachlichung, selbst wenn sie, wie oben dargelegt, eine Versprachlichung ohne Worte ist. Wenn man dieser Gesetzmäßigkeit nicht gerecht wird, weil man einen großen Teil davon im Seelischen verneint oder verwirft, kommt es zur Psychose. Es geht dabei um das „Paradox, das aus gewissen funktionellen Kreuzungen der Ebenen des Symbolischen und Imaginären resultiert. Einerseits scheint es, dass das Symbolische das ist, was uns [sozusagen in Wortform] das ganze System der Welt liefert. Weil der Mensch Worte hat, kennt er Dinge. . . . Andererseits kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die imaginäre Beziehung [die Bild- und Blick-Beziehung] mit der Ethologie zusammenhängt, mit der Tierpsychologie. Die sexuelle Beziehung impliziert die Fesselung durch das Bild des anderen. Anders ausgedrückt, einer der Bereiche [der symbolische] scheint offen für die Neutralität der Ord-nung der menschlichen Erkenntnis, der andere scheint der eigentliche Bereich der Erotisierung des Objekts zu sein.“ 
Nun ist es aber so, dass beide Bereiche beim Menschen sich kreuzen, gegenseitig durchdringen und verwickeln. „Die genitale Realisierung – dass der Mann sich vermännlicht und die Frau wahrhaft ihre weibliche Funktion akzeptiert  wird [einerseits also] der Symbolisierung, als wesentliche Forderung [des oben genannten Symbolisierungsgesetzes], unterworfen.“5 Ganz anders im Bereich des Imaginären. Hier existiert eine ständige Rivalität, Eifersucht und Konflikthaftigkeit in der Spiegelung mit den Objekten oder dem anderen seinesgleichen [dem den eigenen ähnelnden Bildern], was zu den unterschiedlichsten Erotisierungen führt, die an Anzahl weit über das hinausreichen, was in der Tierwelt passiert. Und eben in diese Mischungen, Kombinationen des Wort- mit dem Bildhaften ist Schreber taumelnd hineingeraten. Ihm hat wohl schon bevor noch der Vater seine wenig glückliche Rolle gespielt hat, die einheitsstiftende Funktion gefehlt, die z. B. im Stillvorgang die Brust der Mutter mit deren Blick kombiniert, gefehlt (der Psychoanalytiker H. Kohut hat diesbezüglich vom ‚Glanz im Mutterauge‘ gesprochen, ein ‚Glanz‘, der ‚Ja‘ sagt, der eine worthafte Bejahung ist, während die Brust der ersten Erotisierung unterliegt).

Eben diese Kombination versucht Schreber in seiner Seelenwollust nachzuholen – so meine Deutung seiner Psychose. Es gelingt ihm nicht ganz. Der Vater – in der Zeit seiner Jugend - und auch die wenig einfühlsamen und verständnisvollen Psychiater in der Klinik haben eine positive Lösung noch weiter verhindert. Dennoch scheint er am Ende seines Buches seinen mit Gott und all den sonst noch von ihm geschilderten Geistern und Nervengeflechten gefundenen Frieden zu beschreiben: „Die ganze Entwicklung erscheint danach als ein großarti-ger Triumph der Weltordnung, den ich zu meinem bescheidenen Theile auch mir zurechnen zu dürfen glaube. Wenn irgendwo, so gilt eben auch in der Weltordnung der schöne Satz, dass alle berechtigten Interessen harmonisch sind.“

Wenn ich nun also meine Methode empfehle, so hat sie, neben der beseligenden Katharsis, die man von mir aus auch gerne Seelenwollust nennen kann und die dem Imaginären nahe steht, auch eine dem symbolischen nahestehende Spracherfahrung. Auch Schreber hatte solche Erfahrungen, wenn die Gottesnerven zu ihm sprachen. Sie äußerten jedoch immer Phrasen, die wie aus Heimtücke nur halbe Sätze waren. So z. B: „Nun will ich mich . . .“ oder „Sie sollen nämlich . . . .“ oder „Fehlt uns nun der Hauptgedanke . . .“, Formulierungen, die Schreber dann meist zu seinen Ungunsten zum fertigen Satz ergänzen musste bzw. sich dazu gedrängt fühlte, so z.B. „Nun will ich mich darein ergeben, dass ich dumm bin“. Lacan deutet diese Halbsätze als Ausdruck der Gespaltenheit der Schreberschen Seele, die ihn stets in die Negativität des oben bei R. Golan genannten Genießens führen musste. Genau diesbezüglich ist das Sprachliche in der Analytischen Psychokatharsis anders aufgebaut, obwohl es eben auch aus dem Inneren des Unbewussten stammt. Ich nenne dieses Sprachliche ‚Pass-Worte‘, weil sie zur Identität des Übenden führen.

Die ‚Pass-Worte‘ sind aber nicht heimtückisch, sondern Phrasen, Kurzsätze, die manchmal noch einen Rest von Rätselhaftigkeit an sich haben, wie es eben für das Unbewusste typisch ist. Doch meistens ist das Rätselhafte leicht zu lösen, so wie es auch Freud von manchen Träumen erzählte, die man „vom Blatt ablesen“ kann. Als Beispiel berichte ich von jemanden, der mit dem Verfahren der Analytischen Psychokatharsis schon längere Zeit geübt hatte. Er war an religiösen Fragen sehr interessiert, obwohl er keinerlei Glauben oder Konfession anhing. Während er also wieder einmal eine halbe Stunde mit dem Üben beschäftigt war und dies gerade beenden wollte, nahm er einen Gedanken wie tief in ihm aufsteigend und fast hörbar (so seine Schilderung) wahr: „Lasst uns das vierte Buch stehlen“! Ihm und auch mir - da ich sein religiöses Interesse kannte - war sehr schnell klar, dass es um ein Buch des Glaubens gehen musste, höchstwahrscheinlich eben um das Buch, das nach dem Alten und Neuen Testament sowie dem Koran, alles Bücher, mit denen er beschäftigt war, ein weiteres Buch des Monotheismus sein sollte. Es ist so typisch für das Unbewusste, dass es nicht gelautet hatte: „Lasst uns das vierte Buch schreiben“! Das wäre der typische Wunsch des engagierten Orthodoxen, des voll überfrommer Wünsche steckenden Rechtgläubigen gewesen, dem die drei großen Glaubensbücher noch nicht genügen. Nein, hier spricht das Unbewusste mit seiner charakteristischen Gegenbesetzung, seiner fast etwas orakelhaften Art. Dieses vierte Buch gibt es nicht und man kann es auch nicht schreiben. Man kann es tatsächlich nur stehlen!

Denn es verhält sich wie ein Stehlen, wenn man es sich in der Meditation aus der eigenen Tiefe holt. Man kann sich dabei nur selbst bestehlen. Selbstverständlich ist ja wieder der Betreffende gemeint. Der so am Religiösen Interessierte muss sich hier also belehren lassen, dass keines all dieser Glaubensbücher ihm wirklich etwas über die Religion enthüllen wird. Sie können einen anregen, sich mit der religiösen Frage zu beschäftigen. Aber sie werden nicht zu dem führen, zu dem diejenigen damals geführt worden sind, die diese Bücher letztlich geschrieben haben (oder in dessen Namen sie geschrieben wurden). Die Fähigkeit zu Offenbarungen ist längst ausgestorben. Mein Proband hat sich ja auch deswegen der Analytischen Psychokatharsis  zugewandt, weil er weitere und eben andere Zugänge als Bücher, Katechismen oder Predigten zum Seelischen, Religiösen, Geistigen oder wie man es immer nennen mag, gesucht hat. Und Gott sei Dank erhält er die Information: um dem Sakralen näher zu kommen, musst du ein Sakrileg begehen, du musst stehlen, bei dir selbst (ek me auton, aus mir selbst heraus, wie Heraklit es sagte).

Du kannst – so die weitere Deutung - die Wahrheit nur auf den Wegen finden, auf denen man sie auch früher philosophisch schon gefunden hat, nämlich durch These und Antithese, also durch eine gewisse Paradoxie hindurch. Das Unbewusste sagt nicht (und auch ein offenbaren-der Gott würde es heute nicht mehr sagen), „lies die großen Glaubensbücher“! Nein, du musst dein eigenes Ich wegstehlen, dein Bewusstes, dein Ideal-Ich und Ich-Ideal, deine Allwissenheit und deinen Glauben an Konfessionen und eingetrichterte Überzeugungen. Nur Es (oder sollte man auch Er sagen dürfen, wahrscheinlich ist es egal) sagt die Wahrheit. Bestiehl alle diese pseudowissenschaftlichen oder sonstigen mythischen Äußerungen, die in der Welt zirkulieren. Die Wahrheit ist in dir selbst und du musst sie dort und nur dort finden. Und du musst es selbst machen, stehlen ist eine schwierige Arbeit. Es ist Analyse, aber auch Katharsis. „Lasst uns das vierte Buch stehlen“ hatte auch eine befreiende, kathartische Wirkung für den Betreffenden. Alle berechtigten Interessen enden eben letztlich harmonisch, wie Schreber trefflich schrieb.