Psychoanalyse im Neuen Testament

In Lacans Theorie der Signifikanten (Bedeutungseinheiten, charakteristischer, kennzeichnender Aspekt des Wortes) heißt es stets, dass der einzelne Signifikant keine Bedeutung hat, erst im Zusammenwirken zweier oder dreier von ihnen kommt eine Bedeutung zustande, die den Menschen in seiner Subjektbezogenheit, in einer Wissenschaft  v o m  Subjekt  erfasst. Die Aneinanderreihung von Worthülsen stellt das typische Gegenteil zur Kombination der Signifikanten dar. Nach Lacan sind alle Dinge und Wesen in irgendeiner Weise vom Signifikanten geschlagen, aufgeladen und bedeutungsschwer gemacht. Auch der Philosoph M. Gabriel spricht davon, dass alle Objekte nur von ihren „Sinnfeldern“ her fassbar sind und nicht als

solche, als „Dinge an sich“, ontisch, per se sozusagen aufgefasst werden können. Von daher, und nur von daher will ich zeigen, wie man das „unsterbliche Gerücht“ (ein Ausdruck des Religionsphilosophen R. Spaemann für Gott) trotz seiner subjektbezogenen Bestimmtheit fassbar machen kann. In meinem Buch ‚Signifikant Gott?‘ habe ich dies an etlichen Gesprächen gezeigt, die Jesus mit Frauen geführt hat, dass sich hier eine therapeutische Signifikanz herauslesen lässt, die gut mit der Psychoanalyse vergleichbar ist.

Ein Beispiel: In Lk 10;38-41 und 11; 27-28 trifft Jesus auf eine Frau namens Martha, die ein Problem mit diesen Signifikanten hat. Sie ist etwas kapriziös, betont den Mutter-Signifikanten, den weiblich-mütterlichen Komplex, aber Jesus beharrt auf dem Vater-Namen. Es gilt nur eins, sagt er in etwa zu Martha, der Signifikant, das Vater-Wort in dir selbst. Exakt das muss man hören. Jesus hebt, wie ich noch an vielen anderen Gesprächen mit den Frauen gezeigt habe, stets die Wichtigkeit der Frau heraus, aber er will, dass sie das authentische Wort in sich hören, so wie er es selbst erfahren hat. An dieser Stelle erwähnt Jesus zwar des Wort Gottes, selbst redet er jedoch stets vom Vater, diesem groß zu schreibenden Anderen in ihm selbst, diesen bedeutenden Namen, Ur-Signifikanten, dessen psychoanalytische Bedeutung ich auf den nächsten Seiten erklären will. Nur selten bezeichnet sich Jesus als von Gott gesandt wie in Joh 8; 42.

Dass die Signifikanten heilen können kann man jedoch am besten in der Geschichte von Jesus und der Tochter des Jairus sehen. Jairus ist Synagegenvorsteher und von daher sicher auch ein strenger, ultraorthodoxer Vater. Die Autorin F. Kiefer hat klar erkennt,[1] dass dem zwölfjährigen Mädchen in einem derartigen Haus und bei solch einem Familienoberhaupt eine starre Konventionalehe droht und sie sich wohl deswegen in eine schwere affektive Störung mit katatonischen Begleiterscheinungen oder hysterischer Lähmung geradezu hineinmanövriert hat. Sie war also nicht tot, wie die lärmende Menge um Jairus herum beklagte. Jesus fasste sie an und sagte in einem warmen, zärtlichen Tonfall „Talita Kumi“, was man mit „Ich sage dir, steh auf“ übersetzt hat, aber es könnte auch ein rätselhaftes ähnliches Wort gewesen sein, vielleicht eher  Segnungsmetapher. Denn ein solcher, noch dazu von einem jungen Mann in warmherzigem Ton gesprochener Satz könnte eine ganz andere Wirkung gehabt haben, als die harte, apodiktische Rede des Synagogendirektors, der seine Familie nur herumkommandiert.

Schon vorher, beim Eintreten in das Haus des Jairus hatte Jesus auf die positive Übertragung hingewiesen, die Voraussetzung für die Heilung des Patienten ist. Der Patient muss von der Qualität des Therapeuten überzeugt sein, er muss fest glauben, vertrauen. Danach, wenn die Leute alle ihre ‚freien Assoziationen‘ beigetragen haben, indem sie durcheinander reden und sagen, dass das Mädchen schon gestorben ist und dass es gar keinen Sinn mehr macht einen Therapeuten zu holen, dass sie weinen und lachen, wie es bei Lukas heißt,[2] kann Jesus dieses Deutungswort sprechen: „Du wirst aufstehen können, wenn ich das Wort spreche“, das Losungswort, das Identitätswort, „Rivka“. Denn es gibt Autoren, die behaupten, dies sei der Name des Mädchens gewesen,[3] und die gehaltvolle Anrufung des Eigennamens (es heißt ausdrücklich, dass Jesus einen Ruf ausstößt) hat große Wirkung.

Der Signifikant (hier: Satzinhalt) erweckt ein Subjekt in Bezug auf einen anderen Signifikanten (hier: segnender Tonfall, gesprochen von einem jungen Therapeuten), sagt Lacan. Das Subjekt ‚Frau‘ wird in dem Mädchen erweckt, das sich nun  nicht mehr als ‚Objekt‘ der Ultraorthodoxie und der gesellschaftlichen Strenge erfahren muss. Und weil die psychoanalytische Deutung dieses Falles nicht so schwierig war, veranlasst Jesus, dass man von der therapeutischen Hilfe, die er erbracht hatte, nichts der Menge draußen erzählen sollte. So etwas hätte nur strak idealisierende Übertragungen auf ihn ausgelöst, und das kann kein Therapeut gebrauchen. Mit solch einer Einstellung sind ja Jairus und dessen Frau schon laut lamentierend an Jesus herangetreten. Zum Schluss zog Jesus Jairus‘ Tochter  noch bei der Hand zu sich (eine Geste der Körpertherapie, wie sie in der klassischen Psychoanalyse zwar nicht gehandhabt wird, aber hier sicher äußerst geeignet war) und machte so die Therapie perfekt.

Ja, Jesus versteht sich sogar noch  auf einen Abschluss der Therapie, der bekanntlich in der Psychoanalyse immer etwas schwierig ist. Wie beendet man eine Psychoanalyse? Schließlich darf der Therapeut ja nicht von sich aus intervenieren, etwas tun oder anordnen. Er darf nichts beanspruchen oder wollen, auch nicht die Heilung, denn das wichtigste ist, die Initiative dem Patienten zu überlassen. Doch was tun, wenn der Patient mit der Therapie nicht aufhört? Das Ende der Therapie stellt sich nicht immer ‚natürlich‘ sein und so werden oft Versuche unterschiedlichster  Art empfohlen, meistens ein extra dazu angesetztes Gespräch, in dem das Thema einfach direkt angesprochen wird. Jesus macht es jedenfalls sehr geschickt. Er sagt, man solle dem Mädchen jetzt etwas zu essen geben solle und so wurde von ihrer Mutter sicher eine große Tafel hergerichtet, an der alle sich zusammensetzten, um den Übergang ins normale Leben zu gestalten.



[1] Kiefer,I., Frauen auf dem Weg, Burckh.-Laetare Verlag (1996)

[2] Lk 8; 49-56

[3] Rudka, P., Jairus’s Daughter: A Midrash, USA (2010)