Jemand und 'Irgend'

Alle sind sie Jemand, keiner will nur Irgendjemand sein. Dabei wäre es gar nicht so schlecht nur noch ‚Irgend‘ zu sein, anders gesagt: ein Subjekt ohne Kopf oder ohne Ich. Psychoanalytisch ausgedrückt würde man von einem „Wissen ohne subjektive Gedanken“ sprechen, also von so etwas wie dem seelisch Ur-Verdrängten:[1], [2] es denkt nicht, urteilt nicht und rechnet nicht, aber es weiß! – wie es Freud schon vor hundert Jahren formulierte.  Es handelt sich um ein durch die rein formalen Konstanten der unbewussten Psyche errichtetes Wissen. Formal heißt hier auch mathematisch, geometrisch, topologisch. Hier wird also doch wesentlich weiter zurückgegriffen als es in der üblichen

Analysestunde möglich ist, wo das Wissen durch Vermutungen und ‚freie Assoziationen‘ mühsam freigelegt, gedeutet und zusammengesetzt werden muss. Damit will ich gleich zu Anfang auf mein Verfahren der Analytischen Psychokatharsis hinweisen, in der das Ur-Verdrängte besser in den Therapievorgang einbezogen ist als in der herkömmlichen Psychoanalyse.

Eben dieses Wesen, das nicht denkt, nicht urteilt und nicht kalkuliert, aber weiß, könnte man am besten als ein ‚Irgend‘ bezeichnen. Wir wissen heute, dass Descartes falsch lag, als er sagte: „Ich denke, also bin ich“. Denn von da aus, wo er wirklich  i s t , im Unbewussten nämlich, kann er dies gar nicht s a g e n. Diese dunkle Vorstufe des Seins „ist auf der Ebene des Unbewussten gezeichnet von einem `ich denke´, das nicht `Ich´ ist“.[3] Da denkt sich also ein ‚Irgend‘ als Ich! Da Spricht ein ‚Nirgend‘, dass es sei! Kurz: immer wieder taucht man in diese Inkarnation eines ‚Irgend‘ und ‚Nirgend‘ ein, ist ihr  verpflichtet und verhaftet und glaubt sich so in einem Rausch von Realität. Es ist aber etwas völlig anderes, wenn man sagt, ‚als ‚Irgend‘ bin ich eigentlich gar nicht der Unbestimmte, sondern finde etwas von meiner Bestimmung ohne dieser schon vorher einen Namen gegeben zu haben. Man muss dann ein Verfahren zur Verfügung haben, wie man aus dieser Position des ‚Irgend‘ heraus auch klar etwas dazu sagen kann.

Und eben hier meine ich, dass die klassischen Psychotherapien nicht mehr das zu Genüge erbringen können, was zum klaren Sprechen und Aussagen unter Einbeziehung des Unbewussten nötig ist. Die Kluft vom Unbewussten zum Bewussten, ja schon zum sogenannten Vorbewussten ist – wohl auch wegen der  frühen Verdrängungen, Verwerfungen, also der Ur-Verdrängung – zu gravierend. Im seinem Seminar IX diskutiert Lacan das Wesen des Eigennamen als solchem – also nicht des behördlichen, üblichen Namens – sondern dessen, der per se nämlich im Grunde genommen mit nichts zu definieren ist. Hier bestätigt Lacan auch, dass es eigentlich keine Wort-Vermittlung vom Unbewussten zum Vorbewussten gibt (wobei von letzterem dann eine Vermittlung zum Bewussten erklärbar ist),[4] obwohl dies eigentlich so wichtig wäre, weil man nur dadurch seinen originären ‚Eigennamen‘ kennen lernen könnte, also den, in dessen Namen man spricht. Denn üblicherweise sprechen die Menschen mal im Namen ihrer Wünsche, mal im Namen ihrer Familien, ihrer Vorgesetzten, ihres Gewissens oder dessen, was sie für ihr Ich halten, aber kaum je im Namen ihres ‚Irgend‘-Selbst, ihres eben zum großen Teil im Unbewussten versteckten Namens.

Dieser Name ist mit dem Begehren nach Anerkennung, aber auch mit der Strebung nach einer Anerkennung des Begehrens (hier jetzt das noch unbewusste) besetzt. In meinem oben genannten Verfahren gibt es eine Möglichkeit, dass diese Begehren ihren ‚Eigennamen‘ bekommen, den ich mit dem ‚Irgend‘ etwas verbindlicher und mittelbarer machen will. Freud brachte in seine Analysen bei seinen Patienten ja oft eine verdrängte Homosexualität zu Tage, was aber nicht hieß, dass dies nun der eigentliche Name gewesen wäre, mit dem der Patient sich hätte identifizieren müssen. Es handelte sich meist um eine ‚latente Form‘ der Homosexualität, die zu sehen und in sich zu integrieren nichts mit der sonstigen Orientierung der Personen zu tun hat. Doch diese Tendenz in und an sich zu sehen und zu integrieren, vermittelt Einsichten in viele Handlungen und Denkweisen, nicht nur ins Sexuelle, und darum geht es doch.

Und so kann ich meinen ‚Irgend‘ hochhalten, man kann ‚Irgend‘ sogar lieben lernen, denn auch die ‚Schöne‘ hat das ‚Biest‘ lieben lernen müssen, damit der Prinz der unbewussten Wahrheit ans Tageslicht kommen konnte. Mag sein, dass ‚Irgend‘ irgendwie maliziös und neutral lächelt, ‚Irgend‘ ist nicht so wild drauf wie das ‚Biest‘ in dem französischen Volksmärchen, das schon sieben oder acht Mal verfilmt wurde, weil es einfach zu toll ist, zu sehen, wie die fast widerspruchreifen Gegensätze sich anziehen. In der Methode der Analytischen Psychokatharsis spricht ‚Irgend‘ auch noch sogenannte kurze Phrasen, die dem Unbewussten und der Ur-Verdrängung sehr nahe sind, so dass man sich dahingehend unterhalten kann, wer man nun wirklich als ‚Irgend‘ ist und wie man nun wirklich heißt.

Eine meiner Probandinnen, die das Verfahren übte, hörte tatsächlich einmal die Phrase „Sprichst mit der Prinzenstimme“. Eigenartig, warum nicht mit der Prinzessinnenstimme? Der Grund lag in Verstrickungen mit dem zweiten Mann der Mutter, der einen Adelstitel hatte, während der Vater dieser Probandin, der erste Mann der Mutter, einen der häufigsten bürgerlichen Namen besaß. So sehr hätte sie den adligen Namen gehabt, dass sie sogar erzählte, der Mann, den sie heiraten möchte, wäre als Mann gar nicht so wichtig. Ihr läge vielmehr daran, dass er einen Namen hätte, in dessen Geschichte sich die Glanzzeiten der Habsburger oder Hohenzollern spiegeln würde und man Nachforschungen über all die feudalen Verwandtschaften anstellen könnte, um so mit der „Prinzenstimme“ zu sprechen. Nach dieser offenbarenden Phrase reduzierte sie ihr Nobilitätsverlangen auf ein zumindest erträgliches Maß. Niemand ist so sehr ‚Irgend‘ wie der Baron, Fürst oder Prinz.



[1] Lacan, J., Seminaire XVII, edit. seuil, (1991) s. 102

 

[2] Lacan, J., Compte rendu d´enseignements.  Ornicar?, 29:8-25, 1984

[3] Lacan, J., Séminaire Nr. XIV, Vortrag vom 11.1.67, Mitschrift S. 77

[4]Lacan, ., Seminar IX, Vortrag vom  10. 1. 1962.