Wissenschaftsgentrifizierer

Alle gehen sie ständig ins Kino, in die Oper, ins Theater oder ins Konzert und treffen sich mit Freunden, und machen Sport und beschäftigen sich auch mal mit den Enkelkindern, weil das besonders gut ankommt. Sie lesen auch viel, diskutieren, gehen schon mal zu einem Vortragsabend oder in Ausstellungen und reisen viel und essen gut. Sie können fast alles und wissen auch fast alles, aber ich kann an all dem nichts mehr finden oder kaum noch. Sie sind die Kulturgentrifizierer, zu denen ich auch immer gehörte und wahrscheinlich auch jetzt noch nicht ganz davon befreit bin. G. Paoli schreib diesbezüglich über das,[1] was schon S. Freud vor hundert Jahren damit ausdrückte, dass er von dem ‚Unbehagen  i n  der Kultur redete. Nicht Unbehagen  a n  der Kultur, sondern mitten in ihr. Freud meinte damit, dass es unerträglich wird, wenn die Kultur sich selbst zu sehr betont, wenn sie zu kultürlich wird, zu künstlich, zu gemacht, zu stilisiert. Wenn die Triebkräfte nicht mehr frei und kreativ nach oben kommen und dies nicht durch Unterdrückung geschieht, sondern durch positive, ach so gebildete und gelungene positive Beispiele.

 

Genau dies meint nun auch G. Paoli, der Ende der Sechziger Jahre den Club der ‚Glücklichen Arbeitslosen‘ gründete.  Ihm sind all die glatten Bildungsbürger, ja auch die wundervoll echten Wutbürger, die politisch so versierten Allesversteher, die überall zu Hause sind und bei Baguette, Käse und Rotwein über jeden etwas zu sagen haben, nicht geheuer. Ohne es zu merken gentrifizieren sie die Kultur. Sie bestimmen die Sitten und Gebräuche ohne ihre Stimme dabei auch nur einmal erheben zu müssen. Sie sind einfach so vorbild- und beispielhaft, so integer normal und doch auch ständig ganz fein global verortet. Uns geht es ja so gut, wir haben alles, wir leben nur ganz einfach unser Leben. Uns wird es eines Tages so gehen wie P. Neruda, der eitel sagen konnte: ‚ich bekenne, ich habe gelebt‘, wobei er nichts darüber verlauten ließ, wie viele Frauen er unglücklich gemacht, wie viel Alkohol er getrunken, wie viele Zigaretten er geraucht, wie viele Intrigen er gesponnen und wie viel er in seinen Ämtern und Büchern gelogen hatte.

Ach ja, ich kann einfach nirgendwo mehr ein Ideal, eine große Persönlichkeit oder ein fundamental weises Werk erkennen. Ich lebe in der üblichen ‚depressiven Position‘ Melanie Kleins, also alltagstauglich ohne wirklich depressiv zu sein und versuche einfach alles auszuhalten, was irgendwie kommt. Dies erscheint mir noch das Erträglichste zu sein, weil ich damit bei mir bleiben und mir selbst zuhören kann. Warum dauernd in andere Länder fahren, wenn man das eigene Land in sich selbst nicht kennt? Warum alles konsumieren, wenn dadurch die Welt nur mehr und mehr ausgebeutet und leer wird. Warum die guten Gewohnheiten aufgeben, wenn andere ihre schlechten nicht aufgeben? Freilich kann ich schreiben und mir dadurch alles vom Leibe halten. Und ich kann selbstgenießerisch leben, nicht Ich- oder Überich frönend, nicht überaltruistisch, aber in „einer Liebe zu mir, die glücklich macht“ wie es die Psychoanalytikerin M. Mitscherlich in ihrem letzten Buch ausdrückte. Autochthon genießend.

Dazu wiederhole ich oft gedanklich die Formeln meines Lehrers, von dem ich das Meditieren gelernt habe. Ich wiederhole sie inbrünstig, obwohl sie leider nicht wissenschaftlich begründet und in einem viel zu starken mythischen Rahmen eingepackt waren. Aber sie waren einfach zu gut, RA - AN – KAR zum Beispiel, ein Formel-Wort, bei dem es im Körper, im Bauch zu brummen, zu schnurren begann, und es einen weg- oder hintrug ins Zentrum des eigenen Seins. Die rumorenden R’s und die dunklen A’s machten es aus, dass man sich total sammeln konnte. Ich erzähle dies so planlos offen, wobei oder obwohl ich eben auch so kritisch und distanziert dazu bin. Diese Methodik, eine Form des passiven Yoga, funktionierte einmal, damals, früher einmal, und hat ihren Glanz trotz allem ein bisschen verloren. Ein wenig Inbrunst geht immer noch, aber im Großen und Ganzen fühle ich mich verpflichtet, den Weg zum eigenen Inneren in eine moderne, wissenschaftliche Form zu bringen. Das ist das Mindeste, was man tun muss, sage ich mir, denn man muss ja nun auch der Wissenschaftsgentrifizierung auskommen.  

Ich habe diese Zeilen dem Kapitel 2. 2 meines Buches ‚Das autochthone Genießen‘ vorangestellt. Denn ich bin in diesem Buch auch wieder – wie schon so oft – ins sach- und fachlich prüde Paraphasieren verfallen, was ich selbst nicht mehr leiden kann. Doch es anders zu sagen ist schwer, denn die zentrale Aussage muss ihren wissenschaftlichen Kern behalten, aller Gentrifizierung zum Trotz. Ich versuche somit in diesem Buch die ganze Thematik der Analytischen Psychokatharsis in essayistischer Form anzugehen und zu bearbeiten. Aber bearbeiten ist schon wieder ein blödes Wort. Bearbeitet ist ja schon alles. Ich versuche erneut die Formel-Worte ORS-ACE-Ram oder ENS-CIS-NOM zu erklären und merke dabei, wie wenig lautmalerisch, klangreich und sonor sie gegenüber der oben genannten yogischen Formulierung sie tönen, summen, schnurren und  verlauten. Ihr Wesen kann auf dieser Webseite nachgelesen werden und am besten ist immer ein eigener Versuch.



[1] Paoli, G., Die lange Nacht der Metamorphosen. Über die Gentrifizierung der Kultur, Matthes & Seitz (2017)