Zwei Formen der Nachträglichkeit

In der Psychoanalyse Freuds ist der Begriff der Nachträglichkeit von besonderer Wichtigkeit. Einerseits – und dies ist die übliche und häufigere Form Nachträglichkeit zu verstehen – geht es darum, dass man einen erregenden, belastenden oder auch zu euphorisierenden Vorgang, also ein Trauma, in der frühesten Kindheit verdrängt hat, später jedoch, z. B. in der Pubertät dessen wahren Inhalt in einer Weise erfasst, der selbst traumatisierend ist. Das typische und oft zitierte Beispiel dafür ist die Urszene, in der man die Eltern in einem aggressiv-intimen Geschehen gesehen und erlebt hat, aber erst beim Wachwerden der eigenen Sexualität erkennt, dass man die Eltern beim Sexualakt

beobachtet und sich damit identifiziert hat. ‚Oh Gott, wie peinlich, wie beschämend! Das war es, was ich da erlebt habe und wie ich mich mit der Erregung identifiziert habe‘, könnte der Ausdruck für diese Entdeckung lauten, die nun selbst traumatisierend ist und man wegzuschieben und zu verdrängen versucht. Die Neurose entsteht erst durch dieses erneute, anders geartete Verdrängen sozusagen nachträglich.

Es existiert jedoch auch eine zweite Form der Nachträglichkeit, die schon im ursprünglichen Trauma mitenthalten war. Man hat sich ja so oder so ‚projektiv‘ mit bestimmten Aspekten des aggressiv-sexuellen Geschehens identifiziert. Man war ja aus dem Geschehen einerseits total ausgeschlossen, andererseits konnte man sich wegen des hohen ‚Affektbetrages‘ (ein Ausdruck Freuds) nicht gänzlich davon lösen, sondern war und blieb im Gegenteil affektiv beteiligt. Es ist ein nicht zu ertragender Affekt, denn er beinhaltet so etwas wie einen Lustmord oder andere unverständliche herrlich-grauenhafte Dinge, die man nun irgendwie verpackt mit sich herumschleppt. Sie erscheinen im sogenannten Wiederholungszwang, nämlich unbewusst Dinge zu tun, zu spüren, denken zu müssen – also ohne zu wissen wie und warum. Freud hatte den Wiederholungszwang mit dem Todestrieb gleichgesetzt, denn, um es kühn zu sagen, würde man ihm nicht unbewusst huldigen, wäre die Seele tatsächlich unsterblich.

Diese zwei Formen der Nachträglichkeit hat der Psychoanalytiker G. Dahl ausführlich beschrieben.[1], [2] Ich muss also hier nicht auf ausgiebige Fachlichkeiten eingehen. Doch die Sache ist aktuell und interessant, weil die zweite Form der Nachträglichkeit seit Jahrzehnten nicht richtig erkannt oder schlecht interpretiert in den psychoanalytischen Diskussionen und Veröffentlichungen herumkreist. Man kann nämlich mit dieser Form kaum etwas anfangen, da sie zu versteckt, zu sehr im sogenannten Primärprozess des Triebs eingebunden, zu wenig oder überhaupt nicht erinnerbar ist. Der Patient assoziiert in der therapeutischen Sitzung davon nichts, der Therapeut kann mit seinen unspezifischen Gegenübertragungs-regungen und -gefühlen[3] nichts beitragen und doch ist irgendwie im analytischen Sprechzimmer bei jeder Sitzung etwas spürbar, was da ist und niemand kennt. G. Dahl plädiert für ein konstruktives und hermeneutisch differenziertes Deuten.

Er erzählt zu dieser Thematik anschaulich einen Fall aus seiner psychoanalytischen Tätigkeit. Ein Mann sucht ihn wegen beginnender Depressionen auf, er ist als Einzelkind aufgewachsen, der Vater war selten zu Hause, zur Mutter hat er eine narzisstisch-libidinöse Beziehung. Irgendwie spielt die Erinnerung an ein Gasometer, das mal größer, mal kleiner erschien (frühe Mutter?) und auf das er einmal in Wut eine Puppe geschleudert habe, was den Gasometer zerstörte, eine Rolle. Reale und völlig phantasierte Erinnerungen vermischen sich hier also. Doch die Deutungen um all diese Phänomene herum führen nicht weiter, bis der Patient eines Tages mehr oder weniger beiläufig erwähnt, seine Mutter habe ihm erzählt, dass sie, als er zwei Jahre alt war, erneut schwanger war, das Kind sei aber als Frühgeburt gestorben. Jetzt fällt dem Analytiker sein eigenes Versagen auf, das man in der Therapie Widerstand nennt (Widerstand gegen das Fortschreiten der Behandlung aus neurotischen Gründen). Die Puppe war das Baby, das der Patient samt dem, was von der Mutter dazugehört, vernichten wollte.

Jetzt konnte der Therapeut durch sein eigenes Eingeständnis und durch besser untermauerte Deutungen den Therapieverlauf positiv gestalten. „Nicht erinnerbares Affektgeschehen war in der Deckerinnerung [Gasometer, Puppe] vollkommen aufgehoben“,1 war also im nachträglich wirkenden Wiederholungszustand oder in dem, was man die Urverdrängung nennt, im Patienten Jahrzehnte herumgegeistert, und auf den doch so naheliegenden Gedanken, dass die Puppe ein Baby darstellen könnte, ist keiner von beiden, weder Patient noch Analytiker gekommen. Man bezeichnet so etwas auch als ‚negative konkretistische Fusion‘, Therapeut und Patient schwimmen im gleichen Abwehrzustand unbewusst herum und blockieren sich so gegenseitig. Andere Autoren wie etwa H. Faimberg haben den Unterschied der Deutung des Therapeuten zu dem, wie der Patient diese Deutung aufgenommen hat, verwendet, um hinter diesen ‚nicht erinnerbaren Affektbetrag‘ zu kommen, doch auch dies ist nicht sehr effektvoll.

So steht der Analytiker selbst der eigentlichen Erinnerungsarbeit des Patienten im Weg, und man kann sagen, dass so etwas in fast allen Psychoanalysen passiert, denn kein Analytiker hat seine eigene Analyse je zu Ende gebracht, wie der Psychoanalytiker M. Safouan schreibt.[4] Meist verhält es sich ja schon so, dass die physische Gegenwart des Therapeuten eher nachteilig ist, denn wie er einen begrüßt hat, wie er atmet, hustet, sich bewegt etc., fördern eine negative ‚projektive Identifizierung‘, also ein Verharren in einem nicht zu verstehenden ‚Affektbetrag‘. Der beste Analytiker wäre daher ein Computer, der mit tausenden von Analysen gefüttert vor allem ein semantisches Modul, also ein hochkomplexes Bedeutungs-Deutungs-Modul, enthalten müsste, das ich also gar nicht beschreiben kann und es wohl nie ganz perfekt geben wird. Denn auch der Hauptprozessor im Computer würde sich wie ein nicht ausreichend analysierter Therapeut verhalten.

Im Verfahren der Analytischen Psychokatharsis kommt man der Sache jedoch näher. All diese Konstruktionen, um zur wahren Deutung zu kommen, sind nicht notwendig, denn man fängt direkt bei dem ursprünglichsten Geschehen, der Urverdrängung an, indem man sich ja der absoluten Leere, dem Nichts, dem Dunkel in sich meditativ zuwendet und die Affekte und was es sonst noch alles geben mg, auf sich zukommen lässt. Freilich benötigt man dann eine besonders gute Stütze und Sicherung, die nicht durch den Prozessor des Computers und auch nicht durch die störenden Affekte des Therapeuten benachteiligt ist, sondern das Unbewusste selbst zur Deutung verwendet. Dies geschieht einerseits durch die positive Wiederholung (Meditation besteht immer aus Wiederholungselementen, die ich sogleich erklären will), die sich also dem Wiederholungszwang ständig entgegensetzt. Zweitens aus dem, was ich hier eine ‚Vorträglichkeit‘ nennen könnte, denn es ist ein sprachlich-semantisches Modul, das genau gegenteilig wie die Deckerinnerung, absolut keinen Sinn hat. Eben damit ist sie durchlässig, durchsichtig, für unmittelbare Antworten aus dem Unbewussten.

Es handelt sich um die in der Analytischen Psychokatharsis verwendeten Formel-Worte, deren Charakter auf dieser Webseite mehrfach beschrieben ist. Sie zwingen das Unbewusste (und darin liegt jetzt das angekündigte Wiederholungselement), weil sie gedanklich laufend reverberiert werden müssen, eine Symbolisierung, eine Verständlichmachung, ebenso ‚gedanklich‘ herauszugeben. Ich habe das zweite ‚gedanklich‘ in Anführungszeichen geschrieben, weil es als wie in Trance, wie von fern gehört, wie in einem kurzen Moment jetzt jedoch ausgedrückter ‚Vorgänglichkeit‘ vernehmbar ist. Ausführliche Details sind in der Broschüre ‚Psychoanalyse / Meditation‘ zu finden.



[1] Dahl. G., Nachträglichkeit, Wiederholungszwang, Symbolisierung, PSYCHE 64, Nr. 5, Klett-Cotta (2010)

[2] Dahl, G., Ein zweiter Fall von Nachträglichkeit, PSYCHE 72, Nr. 5, Klett-Cotta (2018)

[3] In der Psychoanalyse steht die Übertragung, also all dies was der Patienten an Bedeutungen aus seiner Lebensgeschichte auf den Therapeuten überträgt, im Vordergrund. Der Therapeut reagiert jedoch mit Gegenübertragungen, die den Therapievorgang eher stören.

[4] Safouan, M., Die Übertragung und das Begehren des Analytikers, Königsh. & Neumann (1997)