Die Seele des Neandertalers

In der englischsprachigen Zeitschrift Science FOCUS wird berichtet, dass man dabei ist, das Gehirn des Neandertalers zu klonen, ja eventuell sogar den ganzen Menschen. Hilfe dazu kommt von der bisher ja bereits den meisten Menschen bekannten CRISPR/Cas9-Technik der Genzerschneidung und Genmanipulation. Das NOVA1 Gen gilt als Hauptgenerator der frühen Gehirnentwicklung. Von Neandertalerknochen kann man Zellen abschaben, die man heutzutage zu Stammzellen zurückbilden kann, aus denen es möglich ist das Neandertaler NOVA1 Gen zu isolieren. Es wird dann in neumenschliche primäre Neuronzellen eingebaut und in einer Art von Bioreaktor zu Zellteilungen und enormen Zellanhäufungen

hochgezüchtet. Man hat dann ein sogenanntes ‚mini-brain‘ nach Neandertaler-Art. Mit diesem dann bis zu einer Popcorngröße angewachsenen ‚Organoiden‘ will man nun Experimente anstellen, die einfache Gehirnleistungen erfassen sollen, die wiederum mit denselben Eigenschaften des modernmenschlichen Gehirns verglichen werden können.

Die Kulturstufe der Neandertaler war – wie K. Wong berichtet - wahrscheinich doch der des moderneren Menschen viel ähnlicher, als man bisher annahm. So ‘fertigten vor rund 90000 Jahren   Neandertaler wie frühmoderne Menschen Werkzeuge der Mous-térien-Stufe, der Kultur der mittleren Altsteinzeit’. Erst neueste Erkenntnisse – veröffentlicht in der renommierten Zeitschrift ‘Nature’ – belegen, dass Kunstwerke, die man lange Zeit dem Aurignacien (Altsteinzeit) zuschrieb, wie z. B. die Höhlenzeichnungen von Chauvet sowie Figuren und Flöten, ganz offensichtlich Werke des späten Neandertalers waren.  Neandertaler und frühmoderne Menschen lebten einige Zehntausend Jahre mit- und nebeneinander und vermischten sich genetisch und kulturell zumindest in gewissem, begrenzten, Umfang. Schließlich aber wurden die Neandertaler durch zahlenmäßige Übermacht der heutigen Cro-Magnon-Menschen verdrängt, gingen in ihnen auf oder starben durch eigenes Fehlverhalten aus.

Aber darüber hinaus sind es ja laut Lacan vielmehr diese primären Signifikanten, diese in der Natur schon vorgezeichneten Kraftlinien ursprünglichster Bedeutungen, dieser ‘Erscheinungen mit Bedeutung’,  eine Art von Es Spricht, von primärem Sich-Äußern, die sie zu unseren engsten Verwandten machen. Das Genom ist nicht das Wesentliche unserer Identität. Denn viel wichtiger als die Genetik, die Physiologie, der Nachweis spezifischer DNS oder RNS, aber auch wichtiger als irgendeine ‘geistige’ Tendenz  sind eben die Signifikanten, die uns zum Menschen und Nachfahren des Neandertalers werden ließen, indem sie uns den Stempel der symbolischen Ordnung schon eingedrückt haben, lange bevor wir im modernen Sinne ‘verbal’ sprechen konnten. Bildartig, zeichenhaft, lautlich – irgendwie muss es schon begonnen haben, dass man sich - wie soll man es nennen? -  ausgedrückt, verständigt, ‘gemitteilt’ hat? Signifikantisiert hat? Signi......? Eben, da kommt man ins Stocken: wie sprechen, wenn sprechen bei uns und beim Neandertaler zwar irgendwie ähnlich und doch eben so unterschiedlich war? Denn vielleicht unterscheiden wir uns nicht so sehr im Wesen dessen, was Sprache vermag,  sondern nur in der Form der Äußerung, aber darin dann sicher erheblich.

Zudem: wir fühlen wir uns manchmal selbst einem Tier viel ‘verwandter’, obwohl dessen Gene viel weiter von uns abweichen, als die des Früh-Menschen. Doch leider ist das Gefühl kein so gesichertes wissenschaftliches Instrument, und deshalb muss ich bei den Signifikanten bleiben. Der Paläoanthropologe Pääbo hat auch zugeben müssen, dass ausgerechnet das Sprachgen (das FOXP2-Gen) beim Neandertaler schon genau so ausgeprägt war wie bei uns heute.  Selbst wenn er also nicht so verfeinert kalkulatorisch sprechen konnte wie wir, hatte er offensichtlich die gleiche symbolische Ordnung zur Verfügung, fiel er wie wir im Hamletschen Konflikt zwischen ‘Sein oder Nichtsein’ letztlich dem Signifikanten, dem Spricht, einer Art von ‘universalem Gemurmel’ zum Opfer, das das Universum genauso wie das Unbewusste von sich gibt, wie Lacan beschreibt.

Diese Signifikanten bestanden nämlich beim Neandertaler noch vorwiegend aus jener von Freud so genannten primärsten Identifizierungsart, die sich ‘vor dem Hintergrund einer assimilierenden Verschlingung’ abspielt. Kurz: diese Signifikanten (‘Sinn’ – und ‘Bedeutungseinheiten’) waren eine Art von Silben-Kauen, von direkter Mundmotorik, von vorwiegend vokalischen Lauten beim gemeinsamen Verzehr, ja, von ‘Oralem’, das ausgetauscht werden kann. Sie stehen den Trieben nahe, dem ‘Oraltrieb’. Bekanntlich kann man sich mit Worten füttern (beim berühmten Kaffeeklatsch etwa oder gerade dann, wenn man sich ‘zu gut’ versteht), und die Neandertaler gaben sich diesbezüglich recht drastisch. Nicht nur, dass sie sehr viel vom Essen sprachen, ihr Sprechen hatte selbst den Charakter von Essgeräuschen und oralen Genusslauten.  Es gab ein Ur-Gespräch, oder besser noch: eine Art Ur von Gespräch, in dem sie sich unterhielten, schwätzten und sch(w)(m)atzten. Sie liebten sich dabei so sehr, dass sie sich – freilich nur im Sinne eines rituellen Kannibalismus – auch fraßen.
                                  
Auch wenn dies spekulativ ist, für diesen Artikel hier ist es nicht so wichtig, quantitative oder qualitative Unterschiede zwischen uns und dem Neandertaler auf einer rein genetischen, biologischen (oder auch auf einer rein theoretisch-philosophischen oder gar linguistischen Ebene) herauszuarbeiten, denn gerade im Bereich der Signifikanten, wo wir also am ehesten einen Vergleich zwischen uns und dem Neandertaler herstellen können, zählen just die Unterschiede nur insofern sie ohnehin nivelliert, ja gelöscht sind! Der Signifikant ist nämlich eine gelöschte Spur, aber gerade weil sie gelöscht ist, ist sie signifikant! Dies kann man aus Folgendem sehen: Obwohl jede Jagd auf ein Tier für den Frühmenschen die Spur eines immensen Erlebnisses in ihm erzeugte und hinterließ, machte er bereits doch nach jedem erfolgreichen Coup den gleichen Strich, die gleiche Kerbe in einen Stein oder Knochen!  Es fing also an zu zählen, es stand für etwas,  es symbolisierte etwas in seiner Gänze (wiederum glaube ich nicht, dass er in unserem Sinne gezählt hat, so dass der Ausdruck ‘Es zählte in ihm’ vielleicht besser ist)! Nicht mehr das Erlebnis zählte, sondern die Kerbe als Symbol für einen bestimmten Wert, aber grundsätzlich zählte eben etwas,  und damit war der Weg zum menschlichen Dasein und seinen Gehirnfunktionen genauso geregelt wie bei uns heute.

Was wollen die oben genannten Wissenschaftler dann eigentlich noch erforschen? Abgesehen davon, dass das ‚mini brain‘ noch myriadenweit entfernt ist von einem wirklichen menschlichen Gehirn, ist uns doch durch Einfühlen, durch Wissen von sozialen und Gruppen-Strukturen, von Ernährungsgewohnheiten, von Rekonstruktionen der Sinnesfähigkeiten und vielen anderen Parametern genug – oder zumindest schon sehr viel – über den Neandertaler bekannt. Wegen all dieser Probleme sagte der Neandertalerforscher T. Appleton zu recht, dass wir nur mit ‘Liebe’ den Neandertaler verstehen können. Wir müssen ihn ernsthaft durch Empathie erfassen. Jede nüchterne Wissenschaft versagt hier und wir müssen einfach zur ‘Liebe’, zur vollkommenen Sympathie, zur intensiven Identifikation, zurückkehren, um überhaupt ein bisschen von diesen Frühmenschen zu erfühlen und zu erkennen. ‘Wir haben keinen Grund, uns über die Neandertaler zu erheben’, schreibt Appleton. ‘Der amerikanische Anthropologe Milford Wolpoff sagt, er sehe einen Neandertaler jeden Tag – wenn er in den Spiegel blicke. Man hat diese Aussage als Witz gewertet. In Wirklichkeit zeigt sich darin ein tiefer philosophischer Ernst, eine Bereitschaft, dem Neandertaler mit ernsthaften Wohlwollen zu begegnen. . . . Das Wort Liebe ist keine paläoanthropologische Kategorie und klingt in diesem Zusammenhang verdächtig nach Esoterik. . . Doch dem Neandertal-Menschen mit Liebe zu begegnen bedeutet einfach, sich einer kognitiven Erfahrungsmöglichkeit zu bedienen, die bisher noch nicht ausreichend genutzt worden ist’.  Intensives Sicheinfühlen ist so gesehen der wichtigste Signifikant, den es gibt. Denn dieser Begriff von Liebe ist nicht allein mit einem üblichen oder gar romantischen Gefühl erfasst.

Schließlich: was wäre, wenn es wirklich gelänge den Neandertaler gänzlich zu klonen? Über das entscheidende Sprachelement verfügte er, aber er konnte noch keine Verschluss- und Knacklaute bilden,  wohl aber Vibrationslaute, Plosive und einfache Frikative und bestimmte Vokale, evtl. auch einzelne Konsonanten (Klosanten) auszudrücken war ihm möglich. Zudem – oder in Verbindung damit – konnte er von der Situation unabhängige Symbole  (Kerbe als Wort) artikulieren und damit vieles sagen, aber er tat dies tonhafter, singartiger, mit mehr Atemtechnik, mit Lufthervorstoßungen und mit wenig Kehlkopf. Er redete schlichter insbesondere was alltägliche Verrichtungen betrifft, jedoch wesentlich zeitintensiver, was komplexere Zusammenhänge angeht. Er benutzt eben nur wenige Signifikate und spricht fast nur in Signifikanten. Zwischen dem Ausstoßungs-, Explosionslaut pa und dem Implosionslaut ap beispielsweise kann er nicht vollkommen unabhängig von seiner Atmung wechseln. Aber er legt alles in sein ‘Wort’, er lautet mit Haut und Haaren aus sich hervor, er platzt direktissimo aus sich heraus. Alles dies konnte man aus linguistischen und neurologischen Befunden heraus bestätigen.

Wie der Paläoanthropologe A. Czarnetzki in der Zeitschrift Archäologie schrieb, verfügte der Neandertaler über eine wesentlich feiner differenzierte Hör-Wahrnehmung als wir moderne Menschen.  Der direkte Vergleich in Abbildung unten zeigt, dass das für die Verarbeitung von elektrischen Impulsen aus dem Innenohr zuständige Hirnareal  deutlich raumgreifender war als das des modernen Homo sapiens. Der Neandertaler konnte eine Unzahl feinster Geräusche unterscheiden. Ob es sich um eine Tanne oder Kiefer handelte, soll er ‘am Rauschen des Windes in den Nadeln’ herauszuhören vermocht haben.  Er konnte also den absoluten ‘Laut’ hören, er hatte tatsächlich das Spricht des absoluten Gehörs in sich. Er nahm sozusagen noch mit der Musik des Waldes, mit dem ‘Klang-Objekt’ als solchem wahr. Und genauso soll es mit seinem ‘Schauen’ gewesen sein. Czarnitzki schreibt, dass der Neandertaler ‘für die Wahrnehmung optischer Eindrücke wie z. B. optische Dingerkennung, Ortssinn, Ortsgedächtnis, Farb- und Helligkeitserkennen usw., aber beispielsweise auch für optische Gedanken ausgezeichnet ausgebildet war.’

Wenn wir also heute solch einem geklonten Neandertaler gegenüberstehen würden, würde uns dieser für schwer degeneriert halten. Gleichzeitig könnten wir ihn unmöglich in die moderne Welt integrieren. Wir würden ihn ebenso für behindert einstufen und müssten ihn an einem entlegenen Ort sein Leben in Einsamkeit sein Leben fristen lassen. Die modernen ‚mini brain‘ – Wissenschaftler sind demnach nichts anderes, als Idioten.