Jeanne D'Arc und die Queerness

Jeanne D’Arc, die Jungfrau von Orleans, war – so würde man es heute zumindest auch sagen dürfen – eine queere Figur. Das liegt schon einmal an ihrer Neigung zur Männerkleidung und ihrem Streben nach männlichen Heldentaten, auch wenn man dies alles – ebenso nach heutiger Manier – als harmlos neurotisch einstufen könnte. Ich will auch ihrer Größe keinen Abbruch tun. Bekanntlich hörte sie schon als Kind ‚Stimmen‘, die ihr anfänglich zu verstärktem Glauben an Gott und an die Kirche rieten. Später erschien ihr jedoch ein Mann mit ‚schneeweißen Flügeln‘, der sich als Erzengel Michael entpuppte und sie zum Kampf gegen England aufrief. Er war es, der ihr dann auch versprach, wo sie sich Männerkleidung besorgen und wie sie zum König gelangen könnte. Strenger Katholizismus und Männerherrschaften bestimmten damals das Leben, und so nahm alles zuerst seinen typischen, zeitgetreuen Verlauf, den man damals zurecht nicht als queer bezeichnete. Derartige Bezeichnungen kannte man noch nicht. Aber ungewöhnlich, seltsam und für die Eltern sicher besorgniserregend war Jeanne D’Arcs Auftreten durchaus.

Trotzdem können wir von heute und von der heutigen Wissenschaft, speziell auch von der Psychoanalyse her, eine etwas andere Einschätzung dieses ‚himmlischen Mädchens‘ und ihrer faszinierenden Persönlichkeit geben. Demnach lag also wohl tatsächlich etwas Neurotisch-Hysterisches vor und eine gewisse Transgendertendenz kann man dem Fall Jeanne D’Arc von heute aus gesehen wohl doch zuordnen. Der Hang zur Männerkleidung und auch zu männlichen Durchhaltegedanken spielte nämlich noch ganz am Schluss, als Jeanne D’Arc schon lange in Gefangenschaft war, eine weiterhin bestimmende Rolle. Dort hatte sie sich wieder Soldatenhose und -jacke angezogen, und es kam zum Streit, zu einem längeren Hin und Her mit dem Gefängnispersonal darüber, ob sie dies nur zum Schutz vor männlichen Zudringlichkeiten angezogen habe oder nicht. Mit Sicherheit hat Jeanne D’Arc niemals daran gedacht, ein Mann sein zu wollen im Sinne einer weitgehendst männlichen Identität. Aber männliche Attribute zogen sie stark an. Und warum war es der Erzengel Michael, der immer mit männlichen Attributen wie Schwert und Lanze dargestellt wird und nicht eine andere fromme Gestalt? Trotzdem war Jeanne D‘Arc auch eine ‚Heilige‘.[1]

Bestrebungen zum Geschlechtswechsel sind erst mit den Möglichkeiten körperlicher (hormonellen und chirurgischer) Angleichung stärker geworden. Doch die Mann/ Frau-, die Transgender-Thematik, gab es schon immer. Bereits der griechische Seher Theiresias wurde von der Zeusgattin Hera in eine Frau verwandelt und als Hera ihn wieder zum Mann zurück transfomierend nach zehn Jahren die bekannte alberne Frage stellte, wer denn nun beim Lieben mehr genieße, Mann oder Frau, er müsse es als der optimale Transgender doch nun wissen, sagte Theiresias: als Frau zehnmal mehr! Prompt schlug Hera ihn mit Blindheit, denn das wollte sie schon gar nicht hören. Nachdem ihr Gatte eine Affäre nach der anderen produzierte, wollte sie ihm beweisen, dass die Frauen gar nicht so viel davon hätten und das Ganze nur eine Lustwut der Männer wäre. Zeus milderte Heras Verdammung zur Blindheit etwas ab und verlieh Theiresias die Sehergabe.

Und so ist bis heute die Geschichte voll mit den Erzählungen von Männern, die sich in Frauenkleidern präsentierten, die versteckt homosexuell waren oder feminine Spielarten bevorzugten. Und sie ist auch voll von männlichen Frauen, die sich burschikos und jungenhaft geben, die ‚zu Hause die Hosen anhaben‘ wie man sagt, oder gar die perfekte Domina sind. Der indische Psychoanalytiker, G. Bose behauptete, dass grundsätzlich jeder, Mann und Frau, einen Transgender-Wunsch habe, und so entwickelte er im Gegenzug zu Freuds Definition des Ödipuskomplexes den Komplex der „gegensätzlichen Wünsche“ (opposit wishes) oder Affekte. Der von Freud postulierten Kastrationsangst des Knaben setzte er z. B. den unbewussten und libidinösen „Wunsch eine Frau zu sein“ gegenüber. Dieser unbewusste Wunsch musste dann vom Therapeuten dem Patienten bewusst gemacht und mit der äußerlichen Situation versöhnt werden. Allerdings geriet Bose oft in Konflikte, wenn seine Patienten sich zu stark gegen seine Kriterien wehrten.

Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie ein junges Mädchen, aufgewachsen auf einem Bauernhof, sich in Phantasien hineinsteigert, die von Stärke und Größe, von Spiritualität und Anerkennung gefüllt sind. Auch heute noch bevorzugen manche Mädchen Ritterspiele und abenteuerliche Unternehmungen mit Jungen und passen so gar nicht ins Schema rosaroten Mädchenträume, die sich viele Kinder wünschen und für Blütenarrangements schwärmen. Besessen davon Soldatin zu sein, zu reiten, Erfolge zu haben, zu kämpfen und zu siegen ist dann schon etwas ungewöhnlicher. Erstaunlich war ja, dass der Stadtkommandant Baudricourt und auch der Dauphin, der spätere König, sich von Jeanne D’Arc überreden ließen, sie einzukleiden und ihr Eskorten zur Seite zu stellen. In unserer heutigen techno- und bürokratischen Welt wären solche außergewöhnlichen und mutigen Schritte nicht mehr möglich. ‚Heilige‘ landen heute vorzugsweise in der Psychiatrie. So beschrieb auch der indische Psychoanalytiker S. Kakar, dass eine Person, die bei uns als persönlichkeitsgestört gilt, in Indien eine Heilige wäre und umgekehrt ein indischer Heiliger wie Ramakrishna bei uns als „psychotisch“ gelten würde.[2] Allerdings ist diese Gegenüberstellung zu pauschal und psychologisch nicht genug durchdacht.

Man könnte Jeanne D’Arc auch eine hypomanische Abwehr unterstellen. Ein derartiges unbewusstes Sich-Wehren bedeutet, dass man sich in eine gehobene Stimmung und Aktivität manövriert, weil man beispielsweise eine Infragestellung des eigenen Selbstbildes abwehren möchte. Dann steht nicht so sehr das libidinöse Begehren im Vordergrund, sondern etwas Aggressives. Schließlich ist an dem militärischen Eifer Jeanne D’Arcs nicht zu zweifeln, und man kann sich fragen: wie kommt ein junges Mädchen vom Land dazu, sich ja auch vorstellen zu müssen, wie sie mit dem Schwert ihre Feinde durchbohrt. Selbst wenn man freudianisch berücksichtigt, dass das Penetrieren zum männlichen Sexualverhalten gehört, so ist doch in den Bildern, die man sich von Jeanne D’Arc mit Rüstung, Schwert und Lanze gemacht hat, ein hypomanisch-aggressives Element zu finden, mit dem sie eben das zu männlich Libidinöse abwehrte.

Doch sind dies alles Spekulationen. Wie würde es einer Jeanne D’Arc heute ergehen? ‚Stimmenhören‘ im jugendlichen Alter kommt auch heute noch oft vor und es muss absolut nicht pathologisch sein.[3] An einer schizo-affektiven Psychose litt Jeanne D’Arc sicherlich nicht, und so bleibt eben nur eine gewisse neurotische Grundhaltung, die man ihr heute wohl attestieren könnte, die ja auch immer schon zu künstlerischen oder sonstigen Sonderleistungen prädestiniert hat und die dann gut oder weniger gut ausgehen können. Vielleicht handelt es sich bei den überehrgeizigen Frauen, die heutzutage die Chefetagen stürmen, um ähnliche Persönlichkeiten. Bei uns in Deutschland ist es jetzt schon der zweiten Frau gelungen, den höchsten Posten im militärischen Bereich einzunehmen, nämlich den der Verteidigungsministerin. Auch in Philosophie, Justiz und im Finanz- und Wirtschaftsdisziplinen stürmen die jungen Frauen erfreulicherweise nach vorne, denn es handelt sich ja nicht immer um seelische Abwehr, wenn man erfolgreich sein will.

Es ist auch bekannt, dass Jeanne D’Arc sich hervorragend vor Gericht gegen die Intrigen und Raffinessen der englischen Rächer gewehrt hat, aber letztlich doch der Übermacht der politischen Machtkämpfe zwischen dem schwachen französischen König und den Engländern zum Opfer gefallen ist. Das Ränkespiel war fürchterlich. Man stellte ihr Fangfragen wie z. B. die, ob sie ihrer Gnade gewisss sei. Hätte sie geantwortet im Stande der Gnade zu sein, wäre ihr das als ketzerische Anmaßung ausgelegt worden, hätte sie es geleugnet, so hätte sie ihre Schuld zugegeben. Sich aus dieser Schlinge ziehend sagte sie: „Wenn ich es nicht bin, möge mich Gott dahin bringen, wenn ich es bin, möge mich Gott darin erhalten“![4] Eine geniale Verteidigung!

In den sich lange hinziehenden Verhören und Prozessen ging es ständig um Leben und Tod, Glaubensbessenheit und Irrglauben, theologische Amtsanmaßung und natürliche, mädchenhaft-weibliche Offenheit sowie zahlreiche andere Gegensätzlichkeiten und Widersprüche. Trotzdem bleibt die Frage: gab es nicht doch bei Jeanne D’Arc eine minnimale Queerness, eine angedeutete Transgenderproblematik, deren Wesen für uns ja auch hier und heute noch absolut nicht gelöst ist. Geht es heute nicht manchen Menschen mit Transgenderwunsch wieder so wie es Jeanne D’Arc ergangen ist? So z. B. wenn eine Transfrau, die sich mühevoll von allem Männlichen getrennt das Frausein hat erkämpfen müssen, dann dennoch nicht vollständig als Frau anerkannt wird? Man wird heute nicht mehr verbrannt, aber wird man nicht in schrecklichen Identitätskonflikten alleine gelassen? Inwieweit müssen wir uns alle damit beschäftigen?

Freilich gibt es einen Zusammenhang zwischen Genderproblem und Neurose, schon Freud meinte, das erstere sei die Schattenform des letzteren. Aber es erklärt nicht alles. Wenn man Jeanne D’Arc gegen Ende ihrer Gefangenschaft als ‚notorische Ketzerin‘ eingestuft und zum Tode verurteilt hat, liegen dem Ganzen doch nur machtpolitische Kriege zugrunde. Vielleicht sind die Menschen Jahrtausende lang identitätsfeindlich gewesen und haben erheblich subjektbezogene Formen des Ich-Seins nicht geduldet. Egal, für eine weitere Klärung schlage ich ein kleines gedankliches Experiment vor.

Wie wäre es denn gewesen, wenn Jeanne D’Arc ihr Geständnis, das sie ja schon zu einem großen Teil abgelegt hatte, nicht widerrufen hätte, als in die Freiheit gekommen und nach Hause zurückkehrt wäre. Weg vom englischen Einfluss, ganz im Schutz ihrer chauvinistischen französischen Freunde hätte sie dann sagen können, man habe ein Geständnis nur durch fürchterlich grausame Folter erzwungen, sie wolle jetzt alles tun um gegen die Feinde Frankreichs weiter vorzugehen. Sicher hätte sie nicht mehr den Ruf der großen Heiligen gehabt, aber vielleicht doch den der Politikone bewahren können. Der Scheiterhaufen ist doch nur etwas für unverhohlene Sadisten, deren Bestrafung sie mit aller Macht hätte fordern können. Für einen selbst ist er doch etwas Scheußliches und Grauenhaftes.

Noch besser hätte es der böhmische Reformator Jan Hus tun können, dem man für seinen Auftritt beim Konzil in Konstanz auch für den Rückweg freies Geleit (salvus conductus) zugesichert hatte. Aber verwickelt in theologische Spitzfindigkeiten hat man ihn nach langen Quälereien ebenfalls auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch er hätte leicht widerrufen und zurückgekehrt in die Heimat einen großen Volksaufstand gegen die katholische Kirche entfachen können. Der hat zwar auch so stattgefunden, da die Empörung über den ruchlosen Verrat und die rein politisch motivierte Hinrichtung sich überschlug. Doch schließlich hat erst Luther der Kirche endgültig den notwendigen Schlag versetzt.

Es waren eben die Zeiten anders und ein rigides, mörderisches Über-Ich hat diesen armen Glaubensstreitern keine andere Wahl gelassen. Oder hat es sich doch um das Freudsche Es gehandelt, dass Jeanne D’Arc die Lust am Transsexuellen aufgedrängt hat und Jan Hus die Lust am Neid gegen die am Reichtum und an der Völlerei hängenden stur katholischen Kleriker in Böhmen. Hus war strikter Asket, so dass er zahlreiche arme Kaufleute, Schuster, Hutmacher, Goldschmiede, Weinhändler und Wirte gegen sich aufbrachte. Auch seine Selbstkasteiung entstammte wohl dem Ansturm früher Begierden, die er total verdrängen musste. Er wollte sich dem Vater gegenüber seinen rivalisierenden Brüdern als übertriebener Frömmler andienen.

Da kommen einem heute natürlich unermessliche Freiheiten entgegen, die es einem erlauben, sich alles von der Seele zu streifen, zu reden, zu schreiben oder doch gleich ganz, mit Haut und Haaren, in der Queerness aufzugehen. Ich verstehen den Begriff queer nicht negativ, er ist ein fach der Ausdruck für des möglichst weit gehende ‚anders herum‘ gegenüber dem in welcher Form auch immer Etablierten. Sicher ist es so, dass, hat man das Rad der Gewohnheiten, Regeln, zwanghaften Rituale und vor allem der sogenannten Professionalität an den Universitäten und staatlichen Institutionen total ‚anders herum‘ gedreht (und da genügen schon 180 Grad), man wieder da steht, wo man schon vorher war. Daher müsste man es heute so sagen: die Queerness ist noch nicht wirklich queer genug, noch nicht wirklich weit genug herum gekommen.

Die Queerness schlägt zwar Wellen, löst aber nicht den Tsunami aus, der nötig wäre, um diese Erstarrungen aber auch Fürchterlichkeiten, die damals wie heute in der Welt wüten, zu beenden, und so ist auch mein Versuch darüber zu schreiben nicht sehr weltbewegend und überzeugend. Die Queerness spiegelt zwar perfekt die Dinge im Außen durch die diese Außen selbst innewohnende und noch völlig ungelöste Spiegelung. Man denke nur an den Narzissmus fast aller Politiker und die Paranoia der Reichen. Ich sehe nur die eine Möglichkeit all dem auszukommen, die wahrscheinlich immer schon die beste war, aber wohl kaum genutzt wurde: nämlich zuerst, als ganz anfänglich, als Einzelner allein, als Einzelner bei sich selbst und seinem Unbewussten anzufangen.

Also genau bei dem zubeginnen, was heute viele neuere Psychoanalytiker (die bereits ausreichend queer sind) als ohnehin präexistent ansehen: das Vorherrschen primärer Spiegelungen, speziell solcher im eigenen Körper, also das starke uns von Anfang an bestimmende ‚Körper-Spiegel-Ich‘, das psychische „concrete original object“ (COO).[5] Ihm folgen erst dann die eigentlichen Selbstspiegelungen, mit denen man sich nach außen hin im Anderen reflektiert, wozu dann eben auch Narzissmus und anderes gehört. Kurz: es geht um genau das, wo man als Einzelner mit sich selbst allein sowieso anfängt oder anfangen muss, bevor Welt und Gesellschaft dazukommen.



[1] Ich schreibe ‚Heilige‘ in Anführungszeichen, weil Heiligkeit immer schon schwer einzustufen war, aber so kann man es stehen lassen.

[2] Kakar, S., Der Heilige und die Verrückte, Religiöse Ekstase und psychische Grenzerfahrung, Beck (1993)

[3] Stratenwerth, I., Stimmen hören, Botschaften aus der inneren Welt, Piper (1999)

[4] Wikipedia: Jeanne D‘Arc

[5] Ferrari, A. B., From the Eclipse of the Body to the Dawn of Thought, London: Free Association Books (2004)