Das vertikale Ich

Ich möchte bei dem beginnen, was heute viele neuere als ohnehin präexistent ansehen: das Vorherrschen primärer Spiegelungen, speziell solcher im eigenen Körper, also das starke uns von Anfang an bestimmende ‚Körper-Spiegel-Ich‘, das psychische „concrete original object“ (COO).[1] Ihm folgen erst dann die eigentlichen Selbstspiegelungen, mit denen man sich nach außen hin im Anderen reflektiert, wozu dann eben auch Narzissmus und anderes gehört. Kurz: es geht um genau das, wo man als Einzelner mit sich selbst allein sowieso anfängt oder anfangen muss, bevor Welt und Gesellschaft dazukommen.

A. Ferrari, den ich gerade mit seinem COO zitierte, fasst diese zweite, die Selbst-im-Andern-Spiegelung, als die „horizontale Beziehung“ auf, weil sie sich ja im Außen der sozialen, emotionalen, geschäftlichen Verhältnisse reflektiert, während das ‚konkrete Ursprungsobjekt‘ der primären Körper-Eigen-Spiegelung von ihm als die „vertikale Beziehung“ bezeichnet wird. Wir sind das nach außen gerichtete horizontale Ich gewohnt, das vertikale Ich haben wir abgespalten, vergessen, obwohl es doch so wichtig wäre. Dem vertikalen Ich habe ich daher ein eigenes Buch gewidmet.

Schon der Philosoph P. Sloterdijk hat sich mit diesem Persönlichkeitsaufbau beschäftigt, er verwendet nur die Begriffe etwas anders. So macht er sich lustig, wenn es um dasjenige Körperbild, Körperschema, geht, das er die sogenannte ‚Vertikalspannung‘ nennt und das wohl mit dem ’vertikalen Beziehungsschema‘ zu tun hat, von dem A. Ferrari spricht.[2] Das ‚Oben‘, das ‚Höher‘ und ‚Über‘ – nicht nur das der Körpergefühle, sondern auch das der Religionen und Philosophien, wohl auch das seiner eigenen – regt ihn zu spöttischen Bemerkungen an. Jakobs Himmelsleiter aber auch die ‚Tiefenpsychologie‘ situieren sich in einer Vertikalen, für die es nach Sloterdijks Auffassung eigentlich keine klare Begründung gibt. Alle Versuche dieser Vertikalspannung Form zu geben, enden stets nur in Akrobatik, in ständig neunen Übungsmethoden und ‚Anthropotechniken‘, denen ein rätselhafter ‚Gipfeldrang‘ zu Grunde liegt, schreibt er.

Sloterdijk bezeichnet die ‚Vertikalspannung‘ als die ‚intellektuelle Entsprechung‘ der Horizontalen, doch das ist eine typisch philosophische Auffassung. Er kann sich die Ich-Bildung nicht als eine solch wichtige Körperspiegelung vorstellen, wie sie also von vielen Autoren inzwischen beschrieben wird, sondern sieht sie nur in hochgeschraubten Gedanken. Offensichtlich liegt Sloterdijks Begriff der Spannung der Vertikalen jedoch genau dieses ‚konkrete Ursprungsobjekt‘ zugrunde, aber er weiß damit nichts anzufangen. Ihm fehlt der medizinische und vor allem der psychoanalytische Hintergrund. Dabei schreibt der Philosoph selbst in einem anderen Buch von der ‚distanzierenden Selbsteinschließung‘, bzw. vom ‚Selbst-Isolationseffekt‘ der Hominidengruppen auf der Welt,[3] was deutlich auf die primäre Eigen-Körperspiegelung hinweist, in der man doch schon ganz anfänglich in sich eingeschlossen ist. Doch der Philosoph versteht ihre Wichtigkeit nicht, da er sie bei den Frühmenschen und den Hominiden erkannt hat, die er für minderwertig hält.

Weil die Hominiden, aber auch die Frühmenschen, sich in sich selbst zurückziehen mussten, sind sie erst zum Menschen geworden, sagt er sozusagen als Ergänzung zu seiner These vom ‚,Schäumen des Gehirns“, ein Vorgang, den das von tierischen Instinkten losgelöste menschliche Gehirn auszeichnet. Der Evolutionsbiologe C. Wills hat diesbezüglich ein Modell entwickelt, das diese primäre Körperspiegelung als Beginn des Menschseins erklärt. Er sprach von dem mit sich selbst „durchgegangenen“ oder „vorauseilenden Gehirn“ im Rahmen der Menschheitsentwicklung.[4] Die Vergrößerung, das komplexer Werden seines Gehirns, die vielschichtigere Gruppendynamik (zu der auch die längere Abhängigkeit von der Mutter gehört), aber vor allem die aufsteigenden Identitätsprobleme hätten die Früh- bzw. noch Vormenschen zu Umorientierungen gezwungen, ja manchmal zum „Durchdrehen“, zu Verhaltensumkehrungen und zum Verlust angeborener Instinkte, postulierte er. Das Gehirn sei mit all diesen Forderungen zu weit vorausgeeilt, es ist zu Selbstspiegelungen im eigenen Gehirn gekommen, zu spontanen ‚Visionen‘, zu einer von Luzidität und Erhellung erfülltem Raum, aber auch zu einem Erregungszustand, der – abgekühlt – die besagte, beruhigtere, konstantere Körper-Eigen-Spiegelung (ein Lust-Ich wie Freud sagte) ermöglicht hat.

Sloterdijks Selbsteinschließung und Zurückziehung, meint nun speziell solche ins körperschematisch Vertikale, denn wohin sollte man sich sonst selbsteinschließen und zurückziehen können? Es wäre jetzt ein Leichtes auch auf den Yoga, auf den Zen-Buddhismus und all die Verfahren hinzuweisen, wo ebenfalls die Vertikale so 

 
 
 

Genau diese Funktion hat im Yoga nämlich die Sushumna, in der sich der ‚Haupt-Energiefluss‘ in der Mitte vertikal bewegt (siehe Abb. nebenan, wo ich auch gleichzeitig einen Vergleich zur Psychoanalyse gezogen habe).

Die Schriftstellerin Siri Hustvedt, die sich viel mit Neurowissenschaft und Psychoanalyse beschäftigt hat, beschreibt dieses Phänomen der zwischenmenschlichen Spiegelungen als „Zwischenheit“, die sie vor allem in der Mann/Frau-Beziehung zeigen will. Es soll um eine andere Spiegelung gehen als die in der Transgenderdiskussion aber auch in der generellen Mann/Frau  Differenz verwendete. Doch dann ist klar, dass diese „Zwischenheit“ eben vertikal ist, zumindest mit der vertikalen Eigen-Körper-Spiegung zu tun hat.

An dieser Stelle muss ich auf die primäre Körper-Eigen-Spiegelung verweisen, wie ich sie in meinen Büchern über die Analytische Psychokatharsis beschreibe. Sie ist also die erstere der zwei Formen von Spiegelungen, indem sie eine direkte Spiegelung mit dem eigenen Körper ist, das pure Es Strahlt, der Narziss in Reinform, das COO oder das ‚Durchrieseln‘ wie man es in der Analytischen Psychokatharsis erfahren kann. So bezeichnet auch die Psychoanalytikerin S. Maiello diese Frühform des Es Strahlt als „Erlebnisobjekt“, indem das Kind die Wärme und die Erregungen der Mutter als Eigenes bild-wirklich ‚erlebt‘. Die Frühform des Es Spricht nennt sie das „Klangobjekt“,[5] weil das Kind den Herzschlag und Sprechen der Mutter ‚hört‘ und auch dies für sein eigenes Rhythmisches, Widerhallendes, Verlautendes hält. Nun verbinden sich diese psychischen ‚Objekte‘ untereinander anfänglich in ganz chaotischer Weise. Wohl deswegen kommt es zur zweiten Phase, die der Selbstspiegelung im Anderen außen und zu einem mehr elaborierten Spricht.

Hier, in dieser zweiten Phase, geht es um das, was jeder schon in der Schule lernt: die Selbstspiegelung im Anderen außen, von der es immer heißt, man würde nur dadurch ganz und authentisch. Nur im Anderen könne man sich wahrhaft sehen und verstehen (bild-wirklich) und auch als Identität für sich benennen (wort-wirklich). Alleine ist man nichts. Diese Spiegelung beinhaltet Eitelkeit, Narzissmus und projektive Identitäten, während das Wort-Wirkliche sich in dem vom Ich und anderen persönlichen psychischen Wesenheiten verfassten Sprechen äußert. Er kann Über-Ich-Formen annehmen, Zeuge der Wahrheit sein, innerer Gesprächspartner wie schon im Fußnote 18 beschrieben. Es handelt sich speziell um diese zweite Phase, die in der klassischen analytischen Psychotherapie die Hauptrolle spielt. 

Doch die erste Spiegelung, die reine Körperspiegelung, der ersten Phase, die sich im Zentrum des menschlichen Wesens (meist im Gehirn) abspielt und die in der Forschung bis heute immer noch zu wenig berücksichtigt worden ist, ist viel wichtiger. Ich verweise nochmals auf  P. Sloterdijks Schäumen, Überschäumen des Gehirns, was also auf dasselbe herauskommt.[6] Bildliche Eindrücke haben das Gehirn des Menschen zum ‚Schäumen‘ gebracht, ja diese psychische Wucherung hat ihn eigentlich zum Menschen gemacht. Er besaß jetzt ein Bild, ein – wie die Psychoanalytiker sagen – ‚imaginäres Objekt‘, ein allererstes, ein noch unbewusstes Ich. Das hatte schon S. Freud erkannt, als er sagte: „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche“.[7] Wirklich, ein Lust-Ich.

Es ist also so etwas wie ein in seiner eigenen Dimension für einen bestimmten Moment verweilender und fast schon gefangener Spiegel-Blick, der wie aus dem Nichts auftaucht. Diese Spiegelung, dieses Urbild des Ichs ist selbst also nur eine Projektion, etwas Imaginär-Reales, das die Psychoanalytiker daher wie gesagt auch ein ‚imaginäres Objekt‘ nennen. Es ist objekt- und doch auch bild- und blickhaft. In dieser frühen Spiegelung, die schon im Mutterleib und unmittelbar nach der Geburt noch eine Zeitlang weiter in Bezug auf den eigenen Kör-per stattfindet, sind auch bereits Anteile davon enthalten, ob das Kind mehr väterlichen oder mehr mütterlichen Genen entspricht und ob es männlich oder weiblich ist.

So fasst man in wissenschaftlicher Weise das Gehirn als eine auf der Schädelbasis aufsitzende Halbkugel auf, d. h. also als eine konkave, innen reflektierende Nervenzellschicht, die vom Körper und anderen Gehirnschichten kommende Strahlen im Zentrum der Halbkugel punktuell spiegelt (siehe Abbildung). Es handelt sich um den Subjekt- und Spiegelungspunkt von Bildern und Blicken, die zu diesem Punkt hin- und wegstrahlen, ohne den physiologischen Sehvorgang zu betreffen. Es ist der Punkt der Schaulust, das Es Strahlt. Wichtig ist, dass es sich um eine reine körperhafte, eigene Spiegelung des Einzelnen handelt, die isoliert in jedem Einzelnen auftritt und – sozusagen im luftleeren Raum – in der puren Oberflächenprojektion den Kern der ersten Ichs bildet.

Ich versuche dies gerne auch mit dem Wesen des ‚luziden Traums‘ zu erklären, in dem man sich in der totalen Spiegelwelt dieses Körperspiegels, im virtuellen Raum, befindet und gleichzeitig in der ‚jouissance‘ badet, dem autochthonen Genießen. Freuds Libido ist in der autochthonen ‚jouissance‘ wie auch in diesem Traumzustand nämlich „desexualisiert“, aber visuell, virtuell ist das Ganze im luziden Traum doch so erfahrbar, dass man es für real hält (real in seinem Genießen), und in gewisser Weise ist es dies auch. Lacan spricht vom ‚Imaginär-Realen‘, der rein topologischen Gestalt, von denen ich eine hier abbilde (den Sternhimmel als Möbiusband). Es ist eine einzige zusammenhängende Fläche, die dennoch stets zwei Seiten hat. Und in genau dieser Weise verwickelt man sich auch immer, wenn man auf einer Seite im so wunderbaren, herrlichen, luziden Traum herumreist, und muss dann aufwachen oder stürzt wieder in den Schlaf hinein, wenn man ohne es zu merken auf der anderen Seite ankommt. Für die reine Körperspiegelung muss man sich das Geschehen im Sinne der Einsteinschen Geometrie (Topologie) denken.

 

 



[1] Ferrari, A. B., From the Eclipse of the Body to the Dawn of Thought, London: Free Association Books (2004)

[2] Sloterdijk, P., Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp (2009)

[3] Sloterdijk, P., Sphären III, Suhrkamp (2004) S. 359

[4]  Wills, C., Das vorauseilende Gehirn, Fischer (1996) S. 20

[5] Maiello, S., Das Klang-Objekt, PSYCHE Nr. 2 (1999) S. 137-157

[6] Sloterdijk, P., Sphären III, Schäume, Suhrkamp (2004)

[7] Freud, S., GW XIII, S. 237 - 289