Der Religiöse Signifikant

Der Religiöse Signifikant

Religion beginnt mit der signifikanten Erinnerung. Ein Tier erinnert sich nicht eines seiner verstorbenen  Ahnen, aber das Menschsein fing mit den ersten Begräbnissen an. Tiere bestatten ihre Toten nicht, aber der Mensch fing an jemanden zu bestatteten, den man in der Erinnerung behielt und so musste man auch ein Symbol, einen Signifikaten dafür haben. In Thailand  baut man sich auch heute noch kleine „Geisterhäuschen" draußen am Gartentor. Dort können die Ahnen einkehren ohne den Lebenden in ihren Häusern zu nahe kommen zu können. Aber einem vielleicht großen, bedeutenden Ahnen, den man doch noch gerne auch weiterhin bei sich und in der Nähe behalten hätte, erstellte man einen Altar in der eigenen Wohnung. Er war somit das erste als unvergesslich erachtete menschliche Wesen, der erste Gott. Erschütterung, Trauer, Jenseitsphantasie und erste all dies bestätigende Worte waren der somit der Anfang des Religiösen.

All dies begann wahrscheinlich schon in der Zeit der Neandertaler, die zu recht schon als vollwertige Menschen, als homini sapientes angesehen werden und von denen man Gräber entdeckt hat. In dieser Phase herrschte ein animistisches Fühlen und Denken vor, von dem man zu glauben begann, dass es auch woanders, jenseits, dahinter-und-drüber-hinaus ein „Etwas" geben könnte. Dieses „Etwas" wurde - wie ich an anderen Stellen oft erwähnt habe - nicht nur zu einem Altar in der Wohnung, sondern auch zu einem Identitätswort (Losungswort), was nach sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen überhaupt die ersten Worte waren. Diese mit starken Erfahrungen verbundenen Symbole nennt man in der Psychoanalyse auch Signifikanten.

Doch diese also nicht mehr so leicht und einfach zu vergessenden animistisch beseelten Ahnen (denn man sah sie wiedergeboren im Wehen des Windes, im Rauschen des Flusses und Rascheln der Blätter)  und die mit ihnen verbundenen Identitätsworte wurden noch lange vor Beginn großen Hochkulturen vor ca. 10 000 Jahren von mehreren definitiven Clan-Göttern abgelöst. Die Menschen fingen an sich in größeren Verbänden zusammen zu finden und nicht mehr in den kleinen ursprünglichen Gruppen von ca. 8 bis 20 Individuen umher zu ziehen und eine komplexere Sprache zu sprechen.[1] Aus dem Clan wurden größere Stämme, ein kleines Volk und  so entwickelten sich also polytheistische Völker (wie wohl die Mehrzahl aller frühen Kulturen einen Vielgötterhimmel besaßen) oder es herrschte - so wie im alten Ägypten - ein Kosmotheismus vor. Und heute?

Heute haben schon viele Menschen aufgehört, an einen Gott zu glauben und andere bekämpfen sich noch bis aus Blut um die wahre Religion, obwohl diese selbst schon vollkommen in Riten und Ideologien erstarrt ist. Heute haben wir bald überhaupt keine Erinnerung dieser Art mehr, die ursprünglich zur Entwicklung der Religionen geführt hat. Wir bestatten die Menschen als Menschen oft ohne große Gefühle und Auswirkungen auf unser Gedenken oder unsere Wertschätzungen. Ohne liebevolles Zurückerinnern, ohne Würdigung. Wir haben überhaupt kein so gutes Gedächtnis mehr. Große Teile aus den Dichtungen Homers konnten noch vor ein paar Tausend Jahren die Menschen frei rezitieren ohne je schriftliche Vorlagen besessen zu haben. Platon konnte die Dialoge des Sokrates aus dem Hörensagen und eigenen Erfahrungen fast lückenlos zusammenstellen und auch die Aussagen von Jesus sind erst zig Jahre später aus der Erinnerung heraus aufgeschrieben worden. Die Worte waren mit den lebendigen Erfahrungen noch so verbunden, dass man sie zurecht weiterhin Losungs- und Identitätsworte nennen kann. Sie waren noch echte Signifikanten.

S. Freud wollte die Entwicklung der Religion auf den Vatermord stützen. Weil die Brüderhorde, die Nachfahren, den Vater umgebracht hätten, wurde der Ermordete später aus Reue und Schuldgefühl zu einem Gott erhöht. Diese psychologische Version der Gottesentstehung hat Freud auch auf Moses, den Begründer der jüdischen Religion, anzuwenden versucht, aber bis heute hat sich diese These nicht durchgesetzt. Sie ist zu unglaubwürdig, obwohl sie generell in vieler Hinsicht psychologisch nicht unplausibel ist. Will man eine psychologische Interpretation aufrecht erhalten, müsste man nur dem Schuldkomplex auch noch einen Schamkomplex zuordnen. Denn dann wäre vieles, nicht nur die Religionsentstehung, logischer zu erklären.

Schuld- Schamkomplexe treten fast immer so kombiniert auf, dass der eine nicht ganz ohne den anderen bestehen kann. Die Freudsche Psychoanalyse orientiert sich jedoch betont am Schuldverhalten. Dabei ist es doch meistens so, dass jemand, der sich schuldig fühlt - und sei es auch unter einem äußeren ganz ungerechtfertigten  Druck - diese Schuld auf andere abzuwälzen oder zu projizieren sucht und sich mit Ausreden und Alibis selbst vor sich selbst entlastet. Erst das Hinzutreten einer Schamkomponente gibt dem Schuldkomplex sein unbewusstes, vielschichtiges Gesicht. Während man schuldig ist vor dem Gesetz, vor dem Mächtigen, vor dem Wort des bedeutenden Anderen (groß geschrieben), schämt man sich vor den (klein geschriebenen) anderen seinesgleichen. Man schämt sich seiner Minderwertigkeit, seiner vor den anderen sichtbar gewordenen Begierden, seiner angeblichen Schmutzig- und Nichtigkeit, während man sich schuldig fühlt eines Verbrechens, einer bösen Tat gegen das wortbezogene Gesetz. Und doch hängt beides eben zusammen.

Das Schuldgefühl dem Vater gegenüber, weil man ihn als Sohn von der Mutter wegdrängen wollte geht doch einher mit der Scham, wenn das Beghren des Sohnes nach der Mutter entdeckt wird. Dies war doch Freuds Ödipuskomplex, bei dem man die Schamkomponente meist nicht so herausgearbeitet hat. Denn so gesehen hat man Moses nicht umbringen müssen, um ihn später zu einem Gott zu erheben, es hat doch genügt, dass man sich den perversen Sexualkulten um das „Goldene Kalb" und Ähnliches zugewandt hat und eines Tages der Scham bewusst wurde, wenn andere (aus dem gleichen Stamm) einen bei diesen Orgien entdeckten. Wären wir nicht schuldig und müssten uns nicht schämen, wären wir nie auf die Idee gekommen, einen Gott zu erfinden. Wir hätten nie einen gebraucht. Wir hätten allerdings mehr und intensiver Menschen in liebevoller Erinnerung behalten müssen (und können müssen), und da liegt das Problem. Denn auch bei ihren Ahnen in der Frühzeit der Menschheit hat es schon Verwicklungen gegeben, wenn man nicht rein und klar gedacht, gefühlt und erinnert hat. Wenn das Wichtige fehlte: das Bewusstwerden, wie alles diese Signifikanten zusammenhängen.

Bevor ich mich dem eigentlichen Inhalt zuwenden kann, muss ich den Begriff des Signifikanten noch weiter erklären, nämlich so wie er in der Psychoanalyse J. Lacans verwendet wird. Der Begriff Signifikant stammt aus der Sprachwissenschaft, der Linguistik. Dort unterscheidet man das Signifikat, die reine Bezeichnung vom Signifikanten, dem Bezeichner oder dem Bezeichnenden (also auch Bedeutenden, dem „Bedeuter"). Was bringt letztlich in einer Rede die Bedeutung, das Wesentliche am Bezeichnungsvorgang, ja, das, was zwischen den Zeilen steht, heraus? Im üblichen, normalen Sprechen gibt es eine enge Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant. Anders, komplexer, aber dennoch leichter ist dies alles im psychoanalytischen Gespräch zu verstehen. Denn rein linguistisch kann man den Signifikanten ja nicht wieder signifizieren, er ist ja schon selbst der Signifizierer, „Bedeuter"  als solcher. Deswegen konnte ich vorhin sagen, dass auch ein Wort, das mit einen sehr starken, affektiv aufgeladenen Erfahrung einhergeht (und auch umgekehrt: eine sehr starke Erfahrung, die mit einem Wort einhergeht), ein Signifikant ist.

In der Psychoanalyse spielen die Signifikate praktisch keine solche Rolle, auch wenn Wörter, als Bezeichnungen für etwas, verwendet werden. Da dort jedoch „frei assoziierend" gesprochen wird, also ungebunden, spontan, fast so als gäbe es keine Syntax und Grammatik, muss der Analytiker - wie Freud sagte - mit „schwebender Aufmerksamkeit", d. h. ohne auf den zu engen Zusammenhang zwischen Signifikaten und Signifikanten zu achten, zuhören und von da heraus auch Deutungen geben. Kurz gesagt muss er auf das achten, wie allein die Signifikanten - und nicht so sehr die Signifikate - selber untereinander kombiniert sind. Hier ist es also so, dass zwei oder mehrere Signifikanten sich gegenüber- oder zusammenstehen und man die Bedeutung durch den sogenannten Übertragungsvorgang (der Patient überträgt Gefühle und Bedeutungen auf den Analytiker) herausfinden und interpretieren muss. Auch hier finden also sehr starke, evtl. affektiv aufgeladene Erfahrungen und Wort zusammen.

Noch vereinfachter lässt sich dies alles an der Philosophie John Lockes ablesen. Für Locke sind die eigentlichen Wesenheiten, „die der Mensch in seinem Geist wahrnimmt und die ihm als dort befindlich bewusst sind" die Ideen. Das ist nicht ganz so wie bei Platon gemeint (reine geistige Bilder), sondern bei Locke sind das eigentlich Signifikanten. „Dreieck", „Dankbarkeit", „Mord" (Locke, Essay II, 12/4) sind solche Ideen, und an dieser großen Verschiedenartigkeit kann man schon ablesen, dass es bei Locke wie in einer Psychoanalyse zugeht, wo der Analysand (Patient) derartige Assoziationen in seinem Redefluss beisteuern könnte, ohne den wahren Zusammenhang dieser völlig verschiedenen Worte zu erkennen. Und das heißt ja, ohne sie in ihrem Wesen als Signifikanten zu erfassen und zu begreifen. Denn durch weitere Assoziationen, Einfälle, Erzählungen von Träumen etc. kann der Analysand zusammen mit seinem Therapeuten z. B. enthüllen, dass das „Dreieck" von Vater, Mutter und Kind aus Problemen, die mit „Dankbarkeit" oder deren Gegenteil zu tun haben, im Patienten einen Mord-Wunsch ausgelöst haben, den er bisher verdrängt hatte. Dann ist plötzlich aus dem reinen Gewurle, Gemisch und Gewühl von Signifikanten ein klar aussprechbarer Satz geworden, eine Erkenntnis, ein echtes Begreifen. Fast könnte ich jetzt sagen: Religion.

Denn  genau um dieses Begreifen geht es auch in der Religion. Gehen wir davon aus, dass z. B. auch der Gott der Mosesreligion ein derartiges Gemisch und Gewühl von Signifikanten war. Da gab es zuerst den Gott der Ahnen, den Gott Abrahams oder vielleicht auch nur eine Erinnerung an einen der frühen hebräischen Ahnen. Dann spielte ja auch der ägyptische Pharao, Gottkönig und Herrscher im Leben des Moses eine große Rolle. Moses war ja am Hofe akkreditiert, tötete aber einen Ägypter und musste fliehen. Sodann existierte im Leben des Moses auch noch Jethro, der midianitische Oberpriester und schamanistische Guru, zudem Moses´ Schwiegervater. An welchen Vatergott, Meisterlehrer, großes männlich-patristisches Vorbild sollte sich Moses also gehalten haben? An der Angstgott Pharao, den Totengott Jahwe (vor der Dornbuschszene war Jahwe ja nur eine Erinnerung an die toten Ahnen) oder den Erosgott aus Midian? Aus diesem Gewurle von Assoziationen konnte sich nur eine Signifikantenkombination selbst zusammenballen, der es tatsächlich gelang (was ja eigentlich rein linguistisch nicht sein kann, aber lassen wir es mal so stehen) sich zu signifizieren in einem: "Ich bin, der ich bin" (Ehyeh Asher Ehyeh).

Ich bin der Signifikant meiner selbst, bin mein Name, der sich selbst ausspricht. Mein Bin ist der Gott für das Ist der anderen, ist ein Strahlt (strahlendes nicht sichtbares Antlitz) das Spricht. Man hat versucht die Vision des Moses am brennenden Dornbusch als eine neurologisch erzeugte Erscheinung abzutun. Sicher spielen neurologische Prozesse bei derart emotionalen und eindrucksvollen Erfahrungen eine Rolle, stellen aber niemals das Wesentliche dar. Man hat auch behauptet, Gott sei ein von Ewigkeit her bestehendes transzendentales Überwesen, was wohl eine idolatrisierende Übertreibung ist.  Die Signifikanten der "Angst", des "Todes" und auch des "Eros", einer primären Liebe, könnten in ihrem Zusammenwirken  vielöleicht  viel besser erklären, warum und wie der Gott des Moses sich offenbart hat, als es die Freudsche Annahme tut, der zufolge man Moses ermordet hätte, um - wie erwähnt - ihn dann aus Schuldgefühl zu einem Gott zu erheben. Sollte es bezüglich der Signifikanten beim Christengott nicht genau so gewesen sein?

Ja, natürlich war es so. Jesu leiblicher Vater war unbekannt, d. h. er wurde von seiner Mutter Maria zumindest nicht verraten. Der Grund war wohl - was viele Autoren schon ebenso vermutet haben - dass der leibliche Vater entweder aus einer Gesellschaftsschicht stammte, die Marias Herkunftsfamilie als sozialen oder ethnischen Gründen nicht genehm war, oder - was wahrscheinlicher ist - dass er z. B. ein römischer Besatzungsoffizier war, den man aus politischen Gründen ebenfalls nicht nennen wollte. Damit wuchs Jesus im Spannungsfeld der Vaterfrage auf: wer und was ist ein wirklicher Vater, was heißt es wirklich Vater zu sein? Man könnte die Frage in einer derartigen Situation, wie Jesus sie vorfand, verdrängen und sich einfach mit dem Adoptivvater Josef zufrieden geben. Man könnte auch sagen, Jesus hätte aggressiv die Mutter unter Druck setzen müssen, sie solle die Wahrheit verraten. All dies lag Jesus natürlich nicht und eine junger, aufgeweckter, umfassend interessierter Mann suchte sich damals meistens eine andere Lösung: sich nämlich an den Vater als solchen zu halten, an den Vater per se (wie der Mensch laut Locke ihn in seinem Geist wahrnimmt, als Idee, Symbol des Vaterwesens schlechthin), von dem es sowieso heißt, er sei unser aller Vater (Geistvater). Aber auch wenn alles nicht exakt so war, ein Problem in dieser Richtung hat es sicher gegeben.

C. Türcke, der eine ausführliche, psychoanalytisch orientierte Untersuchung über Jesus veröffentlicht hat, schreibt zurecht, dass Moses eine Stütze seiner Vater-Gott-Suche in seinem Volk hatte. Er verfügte bereits über eine bestimmte Reputation und Zugehörigkeit zu dem Stamm der Levi, die den Großteil der ägyptischen Hebräer darstellten. Er konnte sich auf ein volkbezogenes „Wir" stützen. Jesus musste dagegen den ganz individuellen Weg gehen. Vielleicht war es ein Aufenthalt bei den Essenern, oder - wie Türcke meint - die Lehrzeit bei Johannes dem Täufer, die ihn schließlich dazu führte, einen Direktbeziehung zum Vater als solchem, zu Gott selbst, wahrzunehmen und sich selbst als „Menschensohn" zu bezeichnen. Jesus habe sich - so Türcke - in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn selbst gemeint, weil er einen schweren Konflikt mit Johannes dem Täufer hatte, den er lange nicht überwinden konnte. Auffallend ist schon, dass das Gleichnis vom verlorenen Sohn eigentlich äußerst paradox ist. Der daheim gebliebene Sohn beschwert sich zurecht, dass der Vater dem verlorenen Bruder einen so maßlos übertriebenen Empfang bereitet. Der Vater beschenkt den Bruder nicht nur, sondern veranstaltet ein Riesenfest und schlachtet einen Stier, während er für den daheimgeblieben braven und wie ein Sklave arbeitenden Sohn nicht mal ein Böcklein übrig hatte. Wie auch immer, die Signifikanten „Vater", „Sohn" und „Geist" spielten hier vielleicht die entscheidende Rolle.

Ich will damit sagen: die historischen Details enthalten nicht das Wesentliche. Vielmehr ist klar geworden: der Religiöse Signifikant kann nur einer sein, der in einer klaren Kombination mit allen anderen Signifikanten stehen muss. Er kann nicht mehr so geschichtlichen, sozialen, persönlich unbewussten Kräften und Assoziationen - wie eben geschildert - verhaftet bleiben. Ich habe daher ein Verfahren entwickelt, das von der Wissenschaft der Psychoanalyse herkommend eine solche Kombination verwendet und das ich Analytische Psychokatharsis genannt habe. Es enthält kein Wort, keine Lockesche Idee mehr, kein „Dreieck", kein „Tod", kein „Geist", kein „Vater" sondern eine reine formale, formelhafte Formulierung, die der lateinischen Sprache entnommen ist, die aber in sich mehrere Bedeutungen, Ideen, Signifikantenso verknotet, dass bei dieser Formulierung von verschiedenen Buchstaben aus gelesen jedes Mal eine andere Bedeutung herauskommt. Eine derartige Formulierung kann  meditiert werden ohne sich erst wieder in eine Konfession, Kirche oder festgefahrene Religion vertiefen zu müssen. Doch bevor ich wirklich zu so weitreichenden Erklärungen komme, setze ich die biblischen und theologischen Fragestellungen weiter fort.

Am plausibelsten für diese These, dass das Wesen der Religion und des Religiösen am besten durch die Signifikantenkombination erklärt werden kann, erscheint mir die Geschichte des Propheten Hosea. „Hoseas eigene Liebesgeschichte war eine Leidensgeschichte. Er heiratete eine Frau, die ihm immer wieder untreu wurde. Er beschwor sie, sperrte sie sogar ein, um weitere Treffen mit ihren Liebhabern zu verhindern. Er beschimpfte sie als Hure oder versuchte es mit pädagogischen Strafmaßnahmen."[2]

Und ich will mich ihrer Kinder nicht erbarmen, denn sie sind Hurenkinder. Ihre Mutter ist eine Hure, und die sie getragen hat, treibt es schändlich und spricht: Ich will meinen Liebhabern nachlaufen, die mir mein Brot und Wasser geben, Wolle und Flachs, Öl und Trank. Darum siehe, ich will ihr den Weg mit Dornen versperren und eine Mauer ziehen, dass sie ihren Pfad nicht finden soll. Und wenn sie ihren Liebhabern nachläuft und sie nicht einholen kann, und wenn sie nach ihnen sucht und sie nicht finden kann, so wird sie sagen: Ich will wieder zu meinem früheren Mann gehen; denn damals ging es mir besser als jetzt (Hos 2, 6ff).

Diese enorm schwierige und desaströse eheliche Beziehung, in der der ständig Betrogene trotz der Untreue seiner Frau nicht von seiner Leidenschaft zu ihr lassen kann, wurde schon von Hosea selbst, insbesondere jedoch von späteren Kommentatoren als Symbol für den Zustand Israels genommen. Denn alle Propheten mahnten ja ständig das Volk, seine Kräfte nicht wie eine Hure zu verschwenden sondern zum wahren Herrn zurückzukehren. Und wenn ich vorhin mehr die Vaterproblematik in den Vordergrund gestellt habe, so geht es  hier um die gleiche Problematik, sie ist nur lediglich mehr in Begriffen bezüglich des Wesens der Mann/Frau - Beziehung ausgedrückt. Es geht mehr um die erotische Zerissenheit in der Liebesbeziehung, die auf die gleiche Signifikantenkonstellation zurückgeht wie die von Sohn/Vater, in der Moses und Jesus gestanden haben. Das Wichtigste daran aber ist, dass man bei fast allen Propheten und Religionsgründern diesen Zusammenhang eines bereits in der Kindheit begonnenen, psychoanalytisch zu verstehenden, persönlichen Konfliktes und seinen eklatant analogen Bezug zu dem Konflikt Gott/Volk oder Glaube/Unglaube nachweisen kann, wie ich auch gerade oben für die Person von Jesus getan habe.

Um der Wirkung und der Person von Jesus noch weiter gerecht zu werden, ist es vorteilhaft sich diese einmal nicht von der Seite seiner Befürworter und Anhänger, sondern von der seiner Kritiker her anzusehen. Über Judas ist schon viel in dem Sinne geschrieben worden, dass er ein Anhänger der herrschenden saduzäischen Priesterschaft war und ab einem bestimmten Moment glaubte und vielleicht eben ach glauben musste, dass Jesus diese konservative religiöse Richtung total verraten würde. Mit anderen Worten: Judas war in einer ähnlichen Position wie der Mörder Mahatma Gandhis, der der Überzeugung war, dass Gandhi die hinduistische Sache (Religion, Nationalität) zugunsten einer unklaren konfessionsübergreifenden Auffassung über Bord werfen würde. Gandhis Mörder war ein Hindunationalist, ein fundamentalistischer Kämpfer für den Hinduismus in Religion und Staat. Und eben das Gleiche trifft auch af Judas zu, der für den Erhalt des traditionell Original-Jüdischen eintreten wollte. Dazu könnte man - und sind also bereits[3] - noch viele weitere Recherchen anführen. Aber ich glaube, dass man mit der Gestalt des Pilatus hier noch viel weiter kommen kann.

Was wohl den meisten völlig unbekannt ist, ist die Tatsache, dass Pilatus sich sehr für religiös-philosophische Grundfragen interessierte. Ich beziehe mich auf die biographischen Bemerkungen, die Paul Claudel in seinen Schriften gemacht hat.[4] Danach sei Pilatus oft im damaligen Palästina umhergereist und habe religiöse Stätten aufgesucht. Ihm war bekannt, dass die Juden im Gegensatz zu dem von ihm in Rom erlernten Glauben an ein polytheistisches Pantheon an nur einem einzigen Gott festhielten. Und so wollte er die Wahrheit wissen (die Wahrheit des Glaubens, des religiös-philosophischen Überbaus). Er fragte daher jeden Tempelpriester oder Wächter eines Sanktuariums: „Was ist Wahrheit"? Doch stets hielten die Befragten zuerst die Hand auf: „Bezahle, dann bekommst du eine Antwort". Doch das kannte Pilatus schon von seiner römischen Heimat her. Die Jupiterpriester wollten für jede Handlung im Tempel immer erst Geld und bei den Diensten der  für Juno, Mars oder Apollon Zuständigen war das nicht anders. Sie waren alle die gleichen rigiden, starr an ihren religiösen Auffassungen klebenden Bürokraten. Sie waren alle die gleichen Zwangsneurotiker, die Angepassten, die genau so Geld scheffelten wie die Reichen und die Mächtigen. Das war alles die gleiche Clique.

Aber vielleicht können wir die ganze Angelegenheit „Religion" noch besser verstehen, wenn wir sie unter dem Titel „Papst mit Homo" betrachten. In seiner Arbeit "Kant mit Sade" zeigt der Psychoanalytiker J. Lacan nämlich, dass Kant und de Sade zwar so gegensätzliche Pole sind, wie man es sich nur denken kann, aber ihre Essenzen in der gleichen Küche brauen. So ist das "moralische Gesetz", das Kant in sich verspürt, letztlich das Resultat eines Gleitens der Bedeutung, die von einem Begriff auf den nächsten übergeht: Von der "Freiheit" auf die "Autonomie des Willens" , auf die "Sittlichkeit", auf die "Pflicht" und schließlich auf den "kategorischen Imperativ".  Die reine Vernunft sorgt eben dafür, dass der Blick auf das Sinnlich Gute das Wohlgefallen an der Lust durch ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten mindert. "Erst in dem Augenblick, wo das [rein vernünftelnde] Subjekt sich keinerlei Objekt mehr gegenübersieht, stößt es auf ein Gesetz, . . das reine praktische Vernunft oder Wille ist",[5] also auf eine abstrakte Form von sich selbst, d. h.  "dass sie [die Vernunft] für keinen Fall gilt, wenn nicht für jeden". Kant vernünftelt bis zum Geht-Nicht-Mehr und begründet letztlich die Vernunft aus sich selbst, aus Prinzipien der Prinzipien. Zum Schluss bleibt eigentlich nur noch der reine Vernunftmensch übrig, der prinzipielle Mensch. Die Objekte, um deren Erkenntnis es ging, sind gar nicht mehr nötig, sie sind vergessen, weil ohnehin nicht zu bekommen. So hat man Kants Philosophie die des Idealismus genannt. Das denkende Subjekt ersetzt die reine platonische Idee und ist so sein eigener Anderer.

Bei de Sade ist es genau umgekehrt: Der Blick auf das gute Sinnliche lässt alle Gesetze verschwinden. Die Lustgesetze, die er findet, gelten auf jeden Fall, sind aber für keinen zu verwirklichen. Sie sind einfach zu monströs, zu aberwitzig, sie objektivieren selbst den Anderen, d. h. , dass es zwar auch den Anderen gibt, der eben auch seine eigenen Lustgesetze hat, die aber nur aus der Lust selbst bestehen, und so macht die Sade'sche Philosophie ein Gemeinschaftsleben unmöglich. Es gibt nur noch Objekte der Lust, und  de Sade verlustiert sich ad infinitum. Im Gegensatz zu Kant findet de Sade seine Objekte stets und überall, prinzipiell-prinzipienlos. De Sade hat - um mit Freud zu sprechen - nur noch ein Trieb-Ich (ein Trieb-Selbst), an dem die Objekte (seine Opfer) das „Variabelste sind", während Kant versucht im Objekt (Ding) „an sich" vollkommen aufzugehen und kein Ich mehr zu haben. In seiner Bewunderung über den Sternenhimmel verleugnet Kant, dass es die Lust ist, die Schaulust, die ihn so überwältigt, denn sie hätte ihn noch viele andere Lüste sehen lassen (den zweiten und die noch weiteren „Himmel"!), und weiß Gott, wohin er damit gekommen wäre. So verstärkt er, ja moralisiert, vergöttlicht er den einen, den äußeren Himmel! De Sade dagegen sieht nur die Lüste, sieht nur lauter innere Himmel (die bei ihm speziell äußere Höllen sind), die Vernunft verdrängt er vollends, denn sie würde sein Paradies auf Erden stören. Schon der geringste Gedanke daran, dass ja ein Anderer ein wirklich Anderer ist, dessen Lust- oder Sozialgesetze vielleicht nach ganz anderen Prinzipien funktionieren als die seinen, macht seine „Philosophie aus dem Boudoir", in dem er sich an den Misshandlungen spießiger, prüder Frauen ergötzt, zunichte. Aber ist es bei Kant nicht umgekehrt genauso? Indem er das in ihm wirkende Lustprinzip völlig in den großartig entfalteten, in sich zigfach verschachtelten Begrifflichkeiten verschwinden lässt, macht er uns zunichte, uns kleine Erdenbürger, die wir wissen, dass es ein Lustprinzip und ein Todesprinzip gibt. Er lässt uns nur in seinem stringenten Spricht nur ein eingeengtes Strahlt wahrnehmen, nicht darüber hinaus, während de Sade in seinem stringenten Strahlt uns nur immer die gleichen Lust-Spricht-Formeln   lässt.

Und genauso ergeht es uns, wenn wir etwas über „Papst mit Homo"  schreiben wollen. Etwa zur gleichen Zeit wie das Buch über das Interview von Benedikt XVI mit Peter Seewald, „Licht der Welt", erschien, brachte der katholische Theologe David Berger ein Buch mit dem Titel „Der heilige Schein, als schwuler Theologe in der katholischen Kirche", heraus. Berger war einer der anerkanntesten katholischen Theologen, fasziniert sogar vom Traditionskatholizismus (z. B. Pius Brüdern). Er war über Thomas von Aquin und andere Theologen überaus gut informiert, verkehrte im Vatikan, war Herausgeber der Zeitschrift „Theologisches". Schon früh erkannte er jedoch, dass er sich nicht an das Zölibat würde halten können und somit nicht Priester werden würde. Mit 21 Jahren war ihm seine homosexuelle Neigung voll bewusst und verliebte er sich in einen seiner Mitstudenten, mit dem er heute noch zusammen ist. Er nahm seinen Geliebten auch in den Vatikan mit, wo er ihn als seinen Neffen ausgab.

Anlässlich der skandalösen Missbrauchsaffären in der katholischen Kirche  outete sich Berger als homosexuell und griff die Kirche scharf an. Er wirft ihr Antisemitismus, Abwertung der Frauen, Demokratiefeinschaft und vieles andere vor und zitiert den Jesuiten H. Kügler, der die katholische Kirche als „die größte transnationale Schwulenorganisation" bezeichnete. Natürlich hat Berger inzwischen seine Posten bei der Kirche verloren. Zu krass sind die Gegensätze zu den Auffassungen des Papstes, der die Homosexualität als mehr oder weniger sündhaft ablehnt und sich eigentlich wundern müsste, warum niemanden aufgefallen ist, dass ein so aufstrebender Theologe absolut nicht Priester werden will und immer mit einem Freud in Rom auftaucht. Dabei sind sich die beiden Kontrahenten, Berger und der Papst, in der Empörung über die Missbrauchsfälle und vieles andere in der Kirche ganz einig. Aber spielt bei ihnen im Hintergrund nicht das gleiche Problem eine Rolle wie bei Kant und de Sade?

Versteckt sich nicht der Papst wie Kant hinter einem großen Katalog von Zwangsritualen und gedanklichen Operationalisierungen und ist der homosexuelle Mann nicht ebenso jemand, der an seine dominante Mutter fixiert geblieben und um einen identitätsstiften Vater betrogen worden ist? Diese Konstellation ist nur die häufigste, die man bei homosexuellen Männern antreffen kann, es gibt gewiss auch andere. Und natürlich ist ein heterosexueller Mann, der ständig eine andere Frau im Kopf hat und somit an die Perversion der patristisch-androzentrischen Welt gebunden geblieben ist, auch nicht in einer besseren Position. Genau diese Gebundenheit zeichnet ja auch den Papst aus, der sich mit starren und rigiden Anklammerungen vor den Lüsten der Welt und der Endlichkeit des Seins schützt. Der zwangsneurotische Papst und der homosexuelle Theologe können niemals zusammen kommen. Sie müssten sich beide von ihren jeweiligen Positionen völlig zurückziehen und neue Kraft und neue Gedanken einzig und allein aus ihrem Unbewussten holen.

Damit bin ich wieder bei meinem oben angekündigten Verfahren der Analytischen Psychokatharsis. Sie geht über das herkömmliche psychoanalytische Vorgehen hinaus, das sehr zeitaufwendig ist und auf assoziativ Wortbezogenes konzentriert bleibt. Die in der Analytischen Psychokatharsis  verwendeten Formel-Worte enthalten präzise Signifikantenkombinationen, die noch stärker als die hier im Zusammenhang mit Moses oder Jesus erwähnten nicht um eine schon vorgegebene Problematik kreisen (Vater/Sohn, Mann/Frau), sondern nur rein formal und eben nicht schon vorgreifend angelegt sind. Damit lässt sich übend das Wesen der Religion ohne das Dazwischentreten irgendeiner Konfession oder von sonst etwas ergründen. Details zum Vorgehen finden sich auf der Webseite Analytic-Psychocatharsis.com unter dem kostenlosen Download Analytische Psychokatharsis.

 

 

 


[1] Die Neandertaler konnten noch keine Frikative und Verschlusslaute bilden, hatten also einesehr einfache rudimentäre Sprache, während die Cro-Magnon-Menschen bereits alle Vokale und Konsonanten unserer Zeit beherrschten. Hier muss irgendwo der Übergang vom Animismus zum Polytheismus stattgefunden haben.

[2] Wikipedia: Hosea

[3] Borges, Jorge-L., Drei Fassungen des Judas, in: Fiktionen, (1956)

[4] Diesen Hinweis fand ich bei J. Lacan in Mon Eseignement, Ed. Seuil (2005) S. 26. (Weniger ergiebig sind neuerer Veröffentlichungen wie die von E. Schmitt: das Evangelium nach Pilatus, das sich an einigermaßen glaubhaften historischen Überlieferungen überhaupt nicht orientiert.

[5] Lacan, J., Das Ich in der Psychoanalyse Freuds, Seminar  II, Walter (1975) S. 135