Sprachentstehung und Psyche

Sprachentstehung und Psyche Die symbolische Ordnung als Anfang von allem

Darüber wie menschliche Sprache entstanden ist, gibt es zahlreiche Theorien. So etwa die, dass Gott dem Menschen die Sprache eingegeben oder der Mensch Tier- oder Naturlaute nachgeahmt hat.

Modernere Versuche leiten die Sprache vom Begriff des Signifikanten ab (dem Bezeichner, Bedeuter im Gegensatz zum Signifikat als dem Bezeichneten). Dem Sprachwissenschaftler F. de Saussure  zufolge ist der Signifikant ein „Schema von Gegensätzen", die für den Menschen nicht aushaltbar sind, so dass er zu einem "Lautbild" greifen muss, um sich auszudrücken und zu entlasten. So kann z. B. ein „Lautbild" - Erlebnis für eine Gruppe von Menschen zum Identitätswort (Losungswort) werden. Bei der Überwältigung eines Raubtieres könnte beispielsweise ein „Lautbild" die Rettung, den Sieg bezeichnet haben und so für die Gruppe zum Identitätswort geworden sein. Der Clan des „Bären" könnte sich dann etwa auf so eine Erfahrung zurückgeführt haben, sich mit dem Bären, d. h. insbesondere mit seiner Kraft identisch zu sehen. Kommen mehrere Signifikanten zusammen, ergibt sich durch eine Kettenbildung von Signifikanten schließlich eine vollkommene menschliche Sprache (die Tiersprache dagegen ist nur eine Signalsprache, sie kann nur Signifikate ausstoßen, die zwar von mehreren Tieren verstanden werden können, aber nicht ihren Clan, ihre psycho-soziale Organisation bilden, d. h. sie ist keine von jedem Handlungsbezug losgelöste Symbolsprache).

Ähnlich ist der Signifikant in der Psychoanalyse Lacans zu verstehen. Auch hier gibt es das Symbolische im „Sinne eine ‚Kette von Signifikanten' (‚chaine du signifiante'), die in einer bestimmten Ordnung zueinander stehen, und die durch die Existenz eines ‚Herrensignifikanten' , der sie garantiert und mit seiner Autorität stützt, begonnen und aufrechterhalten wird:   Der Vatername (oder Name, Eigenname als solcher, vergleichbar wieder dem Identitäts- bzw. Clannamen). Er ist also der ‚fundamentale Signifikant', der dem Subjekt Identität verleiht, und der es ihm ermöglicht, einen festen Platz in der symbolischen Ordnung (der Familie und der Gesellschaft) einzunehmen. . . . So ist das Subjekt letztlich selbst ein Signifikant: ‚Ein Signifikant ist, was ein Subjekt repräsentiert für einen anderen Signifikanten' (Lacan, Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 208)."[1] Der ‚Herrensignifikant' ist nicht anderes als das oben genannte „Lautbild" in Form jenes Clanerlebnisses, in dem sich eben einer aus der Menschengruppe entäußert hat: „Sieg", „Bär", „gewonnen", „Ohaoah"! Mit irgendeinem Statement dieser Art hat sich - laut Lacan, der hier dem Philosophen Hegel folgt - der „Herr" gegenüber seinen Gefolgsleuten etabliert.

„Der Signifikant ist nach Lacan also in Form der allgegenwärtigen Symbolischen Ordnung  zuerst vorhanden. Signifikanten sind das erste, was dem Kind begegnet; jede Äußerung des Kindes ist immer schon in einem weitesten Sinne „lautbildlich", sprachlich. Auch das Unbewusste ist für Lacan strukturiert wie eine Sprache und besteht aus Signifikanten. Die ‚Signifikantenkette' ist auch im Sinne einer Ahnenkette zu verstehen: eine Linie, in die jedes Subjekt schon vor seiner Geburt und auch nach seinem Tod eingeschrieben ist."1 Das Gleiche gilt auch, wenn man das Ganze von der Natur und Materie her betrachtet: dann sind es eben erste „maßgebliche Bilder" (J. Lacan), „Erscheinungen mit Bedeutung" (W. Seitter), die sich wie Signifikanten benehmen: hilfreich-erschreckend, angstgeformt-aufbauend, erotisiert-ordnend (um hier wieder ein paar „Schemen von Gegensätzen" zu benutzen).

Die Psychoanalytikerin D. Birksted-Breen drückt dies alles noch einfacher aus. Sie sagt, dass in der menschlichen Psyche neben meist unbewusst ablaufenden Spiegelungsprozessen (die Neurologen sprechen auch von Spiegel-Neuronen), auch sogenannte "Widerhalleffekte" eine wichtige Rolle spielen. Der "Widerhall" (auch ein Prozess von Gegensätzen, von seelischen Echovorgängen) entsteht zwischen Mutter und Säugling / Kleinkind, nämlich zwischen dem Reverie-Geplapper der Mutter und eben dem "widerhallenden" antworten des Kindes. Es findet also eine erste Signifikanten-Kombination statt, die noch keine ausgereifte Sprache darstellt, dennoch aber schon symbolische Grundlage hat. Es verlautet etwas, und in diesem Hin und Her der Verlautungen entsteht ein erstes Identitätsgefühl zwischen Mutter und Kind. Ja mehr noch, es entsteht ein Identitätswort, wenn es auch vorerst nur Klänge, Laute und Vokale sind. Das KInd kann sogar meist die rhythmische Lautfolge wiedergeben, also bestätigen, anerkennen. Diese Fähigkeit - ich greife jetzt hier vor und behaupte, dass man auch Widerhall-Neuronen finden wird - von bereits symbolischen Echos ist für das Kind und seine seelische Entwicklung äußerst wichtig. D. Birksted-Breen zeigt Fälle auf, an Hand derer sich ganz klar nachweisen ließ, dass Menschen denen diese Fähigkeit fehlt, nicht träumen können und daher auch meist schwere Schlafstörungen haben.

Nun gibt es außer der klassischen Psychoanalyse eine einfache Methode, wie man in diese Zusammenhänge der Signifikanten und der Widerhall-Neuronen eingreifen kann, wenn sie nämlich durch irgendwelche Unfälle, Traumen oder sonst etwas gestört sind. Man muss dann nämlich nur einen besonderen, eigenen, künstlich hergestellten ‚Herrensignifikanten' (also Ur-Widerhalleffekt, erste Kombination des Widerhalls) haben, mit dem man ins eigene Unbewusste interverniert. Ein solcher hat - wie ja schon angedeutet -  früher im Namen eines besonders herausragenden Ahnen, eines Gottes oder Symbols bestanden und kann heute dadurch ersetzt und verwendet werden, indem in wissenschaftlicher Form genau jene Vorgänge der Sprachentstehung nachgebildet und meditiert werden können. Mantras im Yoga stellen nichts anderes dar, nur sind sie mythisch-mystisch, nicht wissenschaftlich. Ein Koan im Zen ist ebenfalls etwas Ähnliches, nur kann es ausschließlich im historischen Kontext des Buddhismus verwendet werden. Sogar das Gebet könnte hier vergleichsweise erwähnt werden, wäre es nicht ebenso unwissenschaftlich und nur in seinen historisch-mythischen Zusammenhängen zu begreifen. Dagegen nutzen einfache Laut- und Trommelrhythmen zu wenig, um tief und auch umfassend genug ins Unbewusste eingreifen zu können. Einen Grenzfall stellt die Musik dar.

Bekanntlich muss man beim Meditieren das bewusste Denken zurückfahren, bis eben jenes „Schema von Gegensätzen", jene „maßgeblichen Bilder" auftauchen, die scheinbar nicht mehr gedacht werden können. Man benötigt jedoch dann eine Halt, um in der Meditation nicht von den Gegensätzen, vom „Bären" oder eben vom Fehlen eines ‚Vaternamens' hinweg gerissen zu werden. Oder sich in einen ideologischen Namen (wie beim Gebet und Mantra) zu verwickeln. Ich verwende dafür sogenannte Formel-Worte,[2] die einen wissenschaftlich begründeten, psycho-linguistischen Aufbau haben. Hat man diesen klar verstanden und kann ihm somit nicht durch blinden Glauben sondern durch intellektuell erworbene Gewissheit vertrauen, kann sich eine ‚Signifikantenkette' herstellen, die vom Unbewussten als Gesprächspartner her kommend Einsicht, Klärung und Hilfe sein kann.

Eine solche ‚Signifikantenkette' wird anfänglich meist nicht viel mehr als ein Identitätswort sein. Doch dies ist ja schon sehr viel wert! Oft ist es ein Kurzsatz, den Lacan auch den ‚inneren Satz' eines jeden Menschen nennt. Eine Überflutung mit einer umfangreichen ‚Signifikantenkette' wäre ja auch hinderlich: sie würde ja dem gerade erwähnen Weggerissen entsprechen oder der Rückkehr wieder in eine ideologisch oder sonst undifferenzierten Denkflut. Dass die ‚Signifikantenkette' nur in einem kurzen Satz besteht wird ja auch dadurch garantiert, dass beim Meditieren mit den Formel-Worten diese weiter genutzt werden sollen. Das gedankliche Wiederholen der Formel-Worte bricht die ‚Signifikantenkette' rechtzeitig wieder ab, lässt eben nur den kurzen ‚inneren Satz' zu. Wenn man mehr und mehr in dieser Art der Meditation fortschreitet, werden sich die Kurzsätze zu einem neuen Denken verbinden, das eben gerade diese neue Wissenschaft (es ist allerdings nur eine kleine Abwandlung gegenüber der herkömmlichen Psychoanalyse) zum Inhalt hat.

Wenn wir nunmehr all das Gesagte über die Sprachentstehung, Psychoanalyse und Meditation in Bezug setzen zur Entstehung der Religionen, wird alles nochmals klarer. Auch ein Prophet wie Moses z. B. empfing kurze ‚Signifi­kantenketten' und ordnete diese zwar nicht seinem Unbewusste zu, sondern eben seinem Ahnen-Gott, einer also bereits bestehenden ‚Signifikanten­kette', die nur durch zwei, drei wesentliche Figuren bestimmt war: der israelische Wetter-und Früh-Gott Jahwe, der Gott-Mensch Pharao und evtl. auch noch durch Jethro, den midianitischen Priester und Schwiegervater. Wie entscheidend in dieser Identitäts-Hinsicht auch die Beziehungen zu Frauen (zwei Müttern, Schwester etc.) waren, hat die Psychoanalytikerin D. Zeligs [3] sehr gut herausgearbeitet. Aber auch schon so wird klar, dass in der damaligen Zeit und unter den geistigen, psychischen, sozialen und kulturell-religiösen Bedingungen, unter denen Moses lebte, sich sehr schnell komplexere ‚Signifikantenketten' aus seinem Inneren bildeten, die dafür jedoch einen Nachteil hatten: sie wurden intellektuell zu wenig reflektiert und weiteten sich daher sehr schnell zu einem großen mythischen Gewebe aus.

Das war ja auch gut so und konnte damals eben nicht viel anders sein. Heute jedoch geht so etwas nicht mehr. Heute würde so jemand nichts anderes als ein Sektenführer sein, und während der Sektenführer Moses reüssieren konnte, würde der heutige nur durchschaubarer Epigone, mythischer Schwärmer und Esoteriker sein. Deswegen glaube ich, dass wir uns heute mit der Sprachentstehung, mit Linguistik, mit Psychoanalyse und wissenschaftlich begründeter Meditation beschäftigen müssen und dass einfache Religionsausübung nicht mehr ausreicht.



[1] Zitiert (evtl. mit kleinen Abwandlungen) nach Wikipedia, Stichwort: Signifikant

[2] Siehe zahlreiche Artikel dazu auf der Webseite Analytic-Psychocatharsis.com

[3] Zeligs, D. F., Moses, A Psychodynamic Study, Human Sciences Press (1986)