Yoga and Psychoanalyse - Überarbeitet

Aus den Querelen der heutigen Zeit gibt es kaum noch einen rein natur­ oder rein geisteswissenschaftlichen Ausweg. Der Mensch ist wieder auf sich selbst als Subjekt zurückgeworfen. In erster Linie sind daher nicht von objektivierenden Wissenschaften, sondern mittels einer Wissenschaft v o m Subjekt Erneuerungen und Verbesserungen zu erwarten.

Diesbezüglich ragen im Westen die Psychoanalyse und im Osten der Yoga (Meditation) als entscheidend heraus. Sie sind die zwei Heroen der Selbsterfahrung und Wahrheitsfindung. Während Yoga, Meditation und östliche Weisheitslehren versuchen hinter alles Sichtbare und Bildhafte zurückzugehen, um an das eigentlich Wirkende heranzukommen, versucht dies die Psychoanalyse unter Zerlegung alles Aussagbaren und Worthaften. Unter dem Begriff Yoga verbergen sich allerdings genauso wie unter dem der Psychoanalyse viele, oft recht verschieden gestaltete Verfahren.

Was den Yoga angeht, so kann ich mich gut auf Kirpal Singh (1894-1974) stützen, der einer der bekanntesten Religionswissenschaftler und Yoga-Lehrer Indiens war. Nicht jeder Leser wird dies gleich nachvollziehen können, da Kirpal Singh nicht die öffentliche Bekanntheit hatte wie etwa B. K. S. Iyengar, der auch im Fernsehen auftrat und auf den ich später noch eingehen werde. Wenn ich Kirpal Singh´s Leben und seine Lehre hier heranziehe, um Yoga und Psychoanalyse zu vergleichen, dann deswegen,weil er den besten Überblick über diese Thematik vermittelt hat. So hat er auch das profundeste Buch über alle gängigen Arten des Yoga und der Mystik verfasst.1 Er hatte im Westen sehr viele Schüler und lehrte eine ethisch besonders hoch stehende Meditationspraxis.

Man könnte sagen, dass er einen ‚Passiven Yoga‘ lehrte, der nicht so viele körperliche Aktionen, die die meisten Menschen mit dem Wort Yoga verbinden, einschloss. Lange war er Präsident der Weltgemeinschaft der Religionen und später begründete er ein entsprechendes weltweites Forum für Repräsentanten verschiedenster sozialer, kultureller und religiöser Gruppierungen (Unity of Man). Er publizierte auch zahlreiche andere

1 Kirpal Singh, Die Krone des Lebens, Die Yogalehren, H. E. Günther Verlag (1974). Aus diesem Buch werde ich später einiges zitieren.


Bücher und hielt weltweit Vorträge zum Thema Yoga und Meditation. In diesem Buch will ich also einen Vergleich des Yoga mit der Psychoanalyse vorwiegend anhand seiner Lehre darstellen, aber auch andere Yogaformen werden zu Wort kommen. Kirpal Singhs dem Laya-Yoga nahestehender Yoga, von ihm auch Surat-Shabd-Yoga genannt, stellt eine der kompaktesten Yogaformen dar, der zudem westlicher Psychologie sehr nahe kommt. Das Wesen des Yoga und dessen Bezug zur modernen Wissenschaft lassen sich so am umfassendsten und aktuellsten vermitteln.

Es ist schwer zu sagen, ob man Kirpal Singh einen Yogi, Mystiker oder Psychotherapeuten nennen soll, denn er war eben nicht nur ein guter Theoretiker, sondern auch einer der mächtigen Praktiker, der sich nicht in komplexer Methodik verzettelte, sondern einer sehr großen Anzahl von Menschen direkte Hilfe gab. Neben dem auf Sanskrit-Formulierungen gestützten Konzentrationsverfahren vermittelte er trotz eines Lebens im vollen Berufsalltag und Familie die Inhalte einer vegetarischen Lebensweise, Wahrheitsliebe, Gewaltlosigkeit, Selbstlosigkeit und monogamer Einstellung. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – verlangt das einundzwanzigste Jahrhundert mit seinen weltweiten rationalen Wissenschaften neben dieser Betonung einer doch im letzten Sinne ‚mythischen‘ Praxis eine Würdigung auch von der intellektuellen und modernen wissenschaftlichen Seite her. Denn wie sonst sollte man diese wertvollen Erfahrungen weiteren Generationen und den Wahrheitssuchern auch außerhalb Indiens vermitteln? Die Zeit ist endgültig zu Ende, in der solche ‚Heils-Persönlichkeiten‘ oder Weisheitslehrer zwar großartige Wirkungen erreichten, aber nur dadurch weiterwirkten, dass man sich wieder auf derartige ‚Heils-Persönlichkeiten‘ und Weisheitslehrer verlassen musste, deren Wissen stets mystisch und mythisch bleibt und sich nicht in moderne Wissenschaften einschreiben lässt. Von dieser Seite her muss man den Yoga also auch sehr kritisch sehen.

Man könnte es auch so sagen: Moderne Wissenschaften, die nicht nur das Objekt im Auge haben, sondern eben Wissenschaften v o m Subjekt sind, wie etwa die Psychoanalyse, übernehmen mehr und mehr die Aufgaben, die früher von solchen weisen Menschen ausgeführt wurden. Wir können uns heute nicht mehr ausschließlich auf unmittelbaren Glauben stützen, mag dieser auch von einer starken Persönlichkeit vermittelt worden sein, sondern fordern wissenschaftlichen Zugang, der allen Menschen offen steht.


Andererseits muss man auch zugestehen, dass den Wissenschaften und speziell auch der Psychoanalyse solch integre Persönlichkeiten fehlen. Kein Lehranalytiker hat seine eigene Analyse vollendet abgeschlossen, und wenn man auch argumentieren darf, dass ein Weisheitslehrer heutzutage seine Aussagen auch im Einklang mit modernen wissenschaftlichen Beweisen belegen können muss, so gibt es unter Wissenschaftlern und Psychotherapeuten kaum jemals einen so perfekten Praktiker, der all das selbst körpernah erfahren hat, wovon er redet. Es genügt also nicht mehr nur mit gelehrten Statements oder allein mit erfolgreichen Techniken aufzuwarten, wie es die antike oder mythische Wissenschaft tat, aber auch der ‚universitäre Diskurs‘, in den viele Psychoanalytiker wieder zurückgefallen sind, reicht nicht aus. Eine ausgereifte moderne Menschheitslehre muss sich auch an so etwas wie den wissenschaftlichen Beweis anlehnen und zudem direkte und hochstehende Praxis sein. Beides ist nötig.2

Das Problem der Christian Science, der ID, der Anthroposophie, der Scientologen und anderer ähnlicher oder esoterischer Organisationen ist nicht eine Frage des Sektentums, sondern dass sie sich auf diesen Pseudoszientismus antiker Art stützen, der weit von moderner Wissenschaft entfernt ist. Auch die Psychoanalyse wirkte anfangs auf viele Menschen wie eine sektiererische Gruppe, jedoch schon bald war ihr den Naturwissenschaften angepasstes fundiert wissenschaftliches Vorgehen allgemein anerkannt. Die Frage des Sektentums erinnert mich auch an Capras ‚Tao der Physik‘ und andere esoterische Veröffentlichungen, die faszinierende Analogien zwischen Physik und ‚Spiritualität‘ dargestellt haben. Aber die beste Analogie ist noch lange kein wirklicher, wissenschaftlicher Beweis, und so ist der Versuch notwendig Yoga und Wissenschaft (Psychoanalyse) mit Hilfe einer übergeordnet-verbindlichen Sprache auf einander zu beziehen. Denn auch der reine Vergleich genügt nicht. In ihrem Buch ‚Zen-Buddhismus und Psychoanalyse‘ haben D. T.

2 Man kann die antike, mythische Wissenschaft von der modernen am besten dadurch unterscheiden, indem man ihren Bezug zum Wissen und zum Können definiert. In der antiken Wissenschaft sind diese beiden Eigenschaften noch sehr eng verbunden: wer heilt, hat recht (wer kann, weiß auch das Richtige). Dagegen sind in der modernen Wissenschaft Wissen und Können weitgehendst voneinander getrennt und dadurch präziser darstellbar.


Suzuki als Kenner östlicher Meditation und E. Fromm als Psychoanalytiker einen profunden Vergleich der beiden Heroen versucht, aber letztlich – wie ich noch ausführen will – kein übergeordnet-verbindliches Resultat gefunden.3 Während Suzuki in pauschalen Begriffen (was man dem Osten gerne noch zugesteht) und in den für den Zen typischen Paradoxien seine Zen-Meditation erklärt, schwafelt Fromm ebenso pauschal, aber gleichzeitig akademisch abgehoben über seine ‚humanistische Psychoanalyse‘ (was man dem Westen nicht mehr zugestehen kann)..

Der Psychoanalyse haben anfänglich viele Kenner und Wissenschaftstheoretiker einen Wissenschaftsstatus im eigentlichen und modernen Sinne abgesprochen. Doch der französischen Psychoanalytiker J. Lacan hat die Psychoanalyse in Form einer Konjektural-(Vermutungs-) Wissenschaft weiter entwickelt und sie auch vereinfacht als ‚logische Praxis‘ bezeichnet. Genau dies trifft auch auf den Yoga zu, wenn er umfassend genug praktiziert und theoretisiert wird, und somit lassen sich in beiden Bereichen, in Yoga und Psychoanalyse, präzise Ergebnisse erzielen und auch gute Vergleiche herstellen. So ein Begriff wie der der ‚logischen Praxis‘ kann für beide Bereiche gelten und etwas Derartiges meine ich auch, wenn ich von ‚übergeordnet-verbindlicher Sprache‘ rede. Ich werde also auch die herkömmliche Psychoanalyse kritisch sehen, aber Lacans Begriffsinstrumentarium für die übergeordnet-verbindliche Sprechweise nutzen.

Ich war vierzig Jahre lang Schüler von Kirpal Singhs Yoga und bin gleichzeitig ebenso lange als Arzt und Psychoanalytiker tätig. Ich fühle mich daher gedrängt, diese Herausforderung einer fundiert wissenschaftlichen Würdigung und Kritik des Lebens und der Lehren Kirpal Singhs aufzugreifen, auch wenn ich ihr wegen der Bedeutsamkeit dieser Persönlichkeit wahrscheinlich nicht ganz gerecht werden kann. Aber ein Anfang muss gemacht werden. Zu lange hat mich die Diskrepanz zwischen West und Ost beschäftigt. Obwohl Kirpal Singh oft betonte, dass R. Kipling mit seinem Ausspruch „East is East and West is West and never the twain shell meet“ (Ost ist Ost und West ist West, und niemals werden sich die beiden treffen) unrecht hätte, konnte er die kulturellen und vor allem wissenschaftlich-geistigen Unterschiede zwischen Ost und West bei weitem

3 Suzuki, D. T., Fromm, E., Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, suhrkamp (1972)


nicht beseitigen. Seine ‚Nachfolger‘ verkaufen wieder ausschließlich indisch-esoterische Weisheiten und dem kann man heute nicht widerspruchslos zusehen.

Dem kommt entgegen, dass das Werk Lacans zu Schlussfolgerungen kommt, die den Lehren Kirpal Singhs (Surat-Shabd-Yoga) in vielen Aspekten exakt entsprechen. Lacan bindet die Psychoanalyse an die Sprachwissenschaften und die Mathematik, er bindet sie an das Joch (Yoga) der Wissenschaften vermittels der modernen Geometrie oder besser gesagt: Topologie,4 die dem Yoga ganz ähnlich ist. Unter Topologie versteht man die moderne Geometrie, auch Gummigeometrie genannt, weil Linien im Raum entsprechend der Einstein´schen Theorie ‚gekrümmt‘ erscheinen können und somit z. B. die Winkelsumme eines Dreiecks größer (z. B. auf eine Kugel gezeichnet) oder kleiner 180o sein kann. Genau solche Meridiane und ‚Energielinien‘ sind im Yoga bekannt, auch wenn sie argumentativ anders gestaltet sind.

Die Linguistik Lacans wiederum hat engen Bezug zu der Struktur von Mantras. Eben damit haben wir eine Möglichkeit in der Hand, den Yoga auch von dieser Seite her einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen und uns auf wirklich moderne wissenschaftliche Exaktheit zu stützen. Wir müssen nicht in dieser heutzutage so verbreiteten Pseudowissenschaftlichkeit verbleiben und können trotzdem Kirpal Singhs ‚Auftrag‘ würdigen, dem Wesen des Yoga gerecht zu werden und auch Lacans Psychoanalyse zu entsprechen. Allerdings wird dadurch letztlich ein eigenes Therapie -Verfahren begründet werden müssen, denn man kann nicht Yoga und Psychoanalyse einfach miteinander vermischen, sondern muss diese beiden Verfahren in einer neuen Form und – wie mehrfach betont – ‚übergeordnet-verbindlichen Sprache‘ darstellen.

Auch werde ich mich nicht zu ausgiebig mit anderen Yogaformen beschäftigen, da Kirpal Singh selbst in seinem Hauptwerk eine der ausführlichsten Übersichten über alle Yogasysteme gibt und seinen Zugang

4 Unter Topologie versteht man die moderne Geometrie, auch Gummigeometrie genannt, weil Linien im Raum entsprechend der Einstein´schen Theorie „gekrümmt“ erscheinen können und somit z. B. die Winkelsumme eines Dreiecks größer (z. B. auf eine Kugel gezeichnet) oder kleiner 180o sein kann.


zum Yoga daraus ableitet.5 So bezeichnet er den Hatha Yoga (Yoga vermittels rein körperlicher Übungen) als umständlich und nur für körperlich sehr widerstandfähige Menschen geeignet, d. h. also für die meisten Menschen im Westen nicht relevant. Lediglich ein paar Übungen in Verbindung mit Atemübungen (Pranayama) und Konzentration mögen für eine allgemeine Fitness und Entspannung hilfreich sein. Dies, eine mehr kommerzielle, allgemeine und verwestlichte Form des Yoga kann nicht Inhalt dieses Buches sein. Sie mag sinnvoll sein für ein bisschen Wellnessdes modern gestressten Menschen. Aber selbst ein ausgiebigeres Üben auf dieser reduzierten Ebene lassen einen genauso wie in Bhakti-, Kriya-, Jnana­und andere Yogaformen nie einen wirklich tiefen Einblick in die eigene Persönlichkeit tun. In der Sprache des Yoga ausgedrückt: sie lassen einen nicht über die „spirituelle“ Ebene von „Trikuti“ hinaus gelangen, einer Ebene, die im Surat-Shabd-Yoga als die zweite von insgesamt fünf gilt. Sämtliche Körper-Zentren (Chakras), aber eben auch yogische Ebenen höherer Art gelten hier als nicht so beachtenswert. Ich muss also meine vergleichende Untersuchung auf einem gut begründeten Niveau ansetzen.

Ich bin nicht der erste, der einen derartigen Versuch unternimmt, die indische ‚Spiritualität‘ mit der westlichen Wissenschaft zu vergleichen und zu verbinden. Der erste war F. I. Winter, der die Psychoanalyse S. Freuds und C. G. Jungs mit Patanjalis Yoga-Sutras in Bezug zueinander setzte.6 Später hat sich C. G. Jung selbst ausführlich damit beschäftigt.7 In neuerer Zeit haben I. P. Sachdeva und A. Roland von der psychoanalytischen Seite her eine derartige Zusammenschau versucht,8 sowie M. G. Gupta und M. Juergensmeyer von der indisch-philosophischen her.9 D.C. Lane hat eine soziologische Untersuchung speziell über den Surat-Shabd-Yoga vorgelegt,10 und J. W. Newman eine vergleichende Studie über Zen­

5 Kirpal Singh, Die Krone des Lebens, Günther Verlag (1974) Empfehlenswert istzudem Taimni, I.K. The Science of Yoga, Theos. Publ. H. (1961)
6 Winter, F. I., The Yoga System and Psychoanalysis, Quest 10 (1918)
7 Jung, C. G., Die Psychologie des Kundalini-Yoga, Walter (1998)
8 Sachdeva, I.P., Yoga And Depth Psychology, Motilal (1978). Roland, A., In Searchof Self in India and Japan, Princeton (1988).
9 Gupta, M. G., Modern Indian Mysticism, MG Publishers (1994). Juergensmeyer,M., Religion as Social „Vision“, California (1982)10 Lane, D. C., The Radhasoami Tradition, Garland Publ. (1992)


Meditation und Psychoanalyse.11 Sehr ausführlich beschäftigt sich K. T. Behanan mit dem direkten Vergleich von Yoga und Psychoanalyse.12 Am ausführlichsten nimmt B. S. Goel zu dieser Thematik in seinem Buch „Psychoanalyse und Meditation“ Stellung,13 und Suzukis und Fromms Buch soll ebenfalls weiter dargestellt werden. Im Internet sind zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Yoga Kirpal Singhs und vergleichbarer Yogalehren zu finden. All diese und noch andere Beiträge werden im Buch diskutiert, um schließlich einen neuen und wissenschaftlich klar begründeten Weg zu finden, der das mehr persönlichkeitsbestimmte Werk Kirpal Singhs durch ein präzises, der Psychoanalyse entnommenes, neues eigenes Verfahren ergänzen und neu beleben kann. Davon wird auch die Psychoanalyse profitieren, indem ihr inzwischen so komplex gewordenes Gebäude durch dieses Verfahren vereinfacht praktiziert werden kann.

11 Newman, J. W., Asian Thought and Culture, Disciplines of Attention, Peter LangVerlag (1996)
12 Behanan, K. T., YOGA, Ist Scientific Basis, Dover Public. (2002)
13 Goel, B. S. Meditation und Psychoanalyse, Ariston (1989)


2. 2 Übertragung und Ur-Übertragung

Nach den vielen zum Teil auch kritischen Bemerkungen zu Yoga, Meditation und Esoterik will ich nun kurz zur Psychoanalyse in gleicher Weise Stellung nehmen. Denn ich sehe auch die herkömmliche Psychoanalyse kritisch, wie übrigens auch viele Psychoanalytiker selbst.14 Ausnahme stellen für mich lediglich einige der begrifflichen Instrumente aus der Lehre Lacans dar, die ich in meine Formulierungen mit aufnehme. Lacan geht davon aus, dass die Welt mit einem grundsätzlichen Mangel ausgestattet ist, einem Minus, mit etwas, das nicht nur in der Natur fehlt, sondern auch im menschlichen Seelenleben wie völlig abgespalten und verworfen ist. Das, was wir eine allgemeine Norm und Kultur nennen, ist nur ein gewisser Ersatz, der die „Verwerfung“ (forclusion) ausgleichen soll. Seit ein paar tausend Jahren orientiert sich diese kulturelle Norm am Vatermythos, an der Gestalt eines schöpferisch Mächtigen. Diese Betonung des Vaters als entscheidenden Richtliniengeber erreicht jedoch nicht die letzte Vater-Metapher, die sagen würde, was es heißt, wirklich Vater zu sein, Wort des Vaters, aber auch Vater des Wortes.

Auch der monotheistische Vatergott hat dieses Ziel nicht erfasst, wie man schon daran sehen kann, dass Normen, selbst wenn sie fast passgenau monotheistisch sind, sich mörderisch bekämpfen. Nun gibt es außer der sogenannten Norm, der Sozietät und Kultur noch die Perversionen und die Psychosen, die Verrücktheiten. Die Perversen verwerfen das, was man in der Psychoanalyse die ‚symbolische Kastration‘ nennt, also die Hemmung, Mahnung zur Mäßigung, die Triebreduktion. Die Verrückten dagegen verwerfen den Vatermythos. Sie wollen sich nicht an diese für die Norm so ideale Stütze des sozialen, genetischen oder religiösen Vaters halten. Sie ergeben sich einfach ihrem Gefühl, der Eigenliebe oder einem religiösen Wahn. „Die Psychotiker“, sagte Freud, „lieben ihr Symptom wie sich selbst.“ Sie verwerfen das Liebe des ‚lieben Gottes‘, auf den sich alle als höchste Instanz geeinigt haben, so wie eben der Perverse das Verbot der Hemmungslosigkeit verwirft. Aber den Normalen, den angepasst Normierten, geht es nicht besser. Sie verwerfen sich selbst. Hier klingt der

14 Dahmer, H., Kontroverse. Zur gegenwärtigen Situation der Psychoanalyse, PSYCHE 5 (2014) S. 477 -484


pessimistische Aspekt der Psychoanalyse heraus, das muss man kritisch so sehen, so wichtig und interessant die Psychoanalyse auch sonst ist. Letztlich wird in der „Verwerfung“ vergessen, dass das Unbewusste eine grundsätzliche „Bejahung“ darstellt, wie schon Freud ausdrücklich feststellte.

Wie schon kurz angedeutet, steht im Zentrum der Psychoanalyse die Übertragung. Sie ist im Grunde genommen eine positive Einstellung in Bezug auf den Analytiker und zum Therapieverfahren und zur die gemeinsame Arbeit an der Seele. Der zum Psychoanalytiker kommende Kranke unterstellt dem Therapeuten eine Fähigkeit oder ein Wissen und überträgt dabei und dadurch auf ihn Bedeutungen, die aus der eigenen früheren Geschichte oder aus anderen Beziehungen stammen. Um diese somit verschobenen und verdrängten Bedeutungen (z. B. verführerische Mutter) sichtbar und bewusst werden zu lassen, muss der Patient völlig frei Einfälle, Träume, Phantasien äußern (frei assoziieren), die der Therapeut dann -aus der Bezogenheit auf ihn heraus -durch Deutungen interpretieren kann. Das ist der entscheidende Angelpunkt. Interpretationen, die der Therapeut nur auf einer sachlichen Ebene gibt, sind genauso wie wenn er sie emotional, aus seiner persönlichen Sicht heraus geben würde, fehl am Platz. Er muss aus der Übertragung heraus deuten, also von der Tatsache her gesehen, dass er für den Patienten immer wieder ein Anderer ist.

Der Psychoanalytiker kann diese vielschichtige Bezogenheit auf ihn nur erfassen, wenn er selber mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ – quasi für die Zwischentöne sensibilisiert – zuhört.15 Nur dadurch werden für ihn und in der Folge auch für den Patienten die Verschiebung und Verdrängung der Bedeutungen zunehmend bewusst, und kann eine damit verbundene Auflösung der ja irrelevanten und inadäquaten Aspekte der Übertragung des Patienten schließlich zu Klarheit, Einsicht und Symptomfreiheit beim Patienten führen. Diese Auflösung der Übertragung ist entscheidend, denn nur so können die irrelevanten Aspekte verschwinden und aus dem Patienten immer wieder neue Aspekte zur Sprache kommen. Um die Übertragung

15 Auch diese ‚Aufmerksamkeit‘ ist also stark vom Unbewussten her bestimmt. Es handelt sich nicht mehr um die Konzentration auf ein äußeres Merkmal, sondern auf die unbewusste Verbindung zwischen Therapeut und Patient, auf das Strahlt / Spricht, das zwischen den beiden vor sich geht. Man könnte geradezu von einem ‚Aufmerksamkeits’-Feld reden, in dem sich beide befinden.


aufzulösen, kann der Therapeut jedoch nicht gleich mit einer „gesättigten“, d. h. im Sinn zutreffenden Deutung kommen. Er muss erst „ungesättigte“ Deutungen anbieten. Er kann nicht nach ein paar Sitzungen, in denen der Patient ihm die Ungerechtigkeiten seiner depressiven Mutter erzählt hat, sagen: „Sie kommen nur zu mir, weil Sie sich an mir für das rächen wollen, was Ihre Mutter Ihnen angetan hat.“

Selbst wenn dies wahr ist, und eben wirklich aus der Übertragung heraus richtig gedeutet ist, muss er zuerst einmal die schlimme Situation des Patienten aufgreifen, sie bestätigen und nach und nach dahin führen, wo die Wahrheit in ihrer unangenehmen Form ausgesprochen wird. Die Auflösungsarbeit der Übertragung erfasst jedoch meist nicht nur diese wenn auch schwierigen, so doch auch praktikablen Formen. Es gibt auch ganz archaische, wilde Übertragungen wie sie z. B. J. J. Gedo beschrieben hat.16 Hier stehen oft totale Verschmelzungswünsche im Vordergrund, und frühere, direktere Kombinationen des Strahlt / Spricht wie ich sie in den Blickbeziehungen beschrieben habe, können nicht berücksichtigt werden. Dies gilt auch für zu stark idealisierende Übertragungen, wie sie z. B. für die Übertragung auf den Guru typisch sind, oder erotische Übertragungen, die in selbstquälerischen Liebeswünschen steckenbleiben.

Dieses zentrale Übertragungs-Geschehen und dessen Auflösung existiert also auch im Yoga. Auch hier überträgt man Gefühle und Bedeutungen auf den Guru, aber sie werden nicht so direkt, nicht so intellektuell und persönlich bearbeitet und dadurch aufgelöst. Im Yoga überträgt der Adept aber nur zum Teil unbewusste Bedeutungen auf seinen Yoga-und Meditations-Lehrer. Zu einem anderen Teil findet eine ganz andere Art derÜbertragung statt, nämlich eine zwar ebenso positive Einstellung, die sich jedoch auf das Dunkel, auf das Nichts und die Leere in der Meditation selbst richtet. Ich habe diese kombinierte Art der Übertragung daher mit dem Begriff der Ur-Übertragung gekennzeichnet. Sie ist sozusagen ursprünglicher, stärker, umfassender, und so muss mit ihr auch anders umgegangen werden. Sie korreliert besser mit dem Begriff der Ur-Verdrängung, die Freud als aller Verdrängung vorlaufend in Form einer Art von seelischer ‚Gegenbesetzung‘ konzipiert hat.

16 Gedo, J.J., The psychoanalytic management of archaic transferences, Am J. Psychoanal. Ass. 25 (1977) S. 787-803


Nun ist es im üblichen Yoga so, dass der Guru in der Meditation infolge dieser Ur-Übertragung wie meist ‚anwesend‘ erscheint, entweder visuell oder einfach nur „gespürt“ wie es z. B. Bhagwan Raijneesh, der Show-Guru der Siebziger Jahre empfahl. Als seine Schüler ihn fragten, wie sie in der Meditation ihren Kopf auch noch von der leersten, gähnendsten Leere leermachen sollten, empfahl er durch die auftretende große Angst hindurchzugehen und nicht zu erschrecken, wenn dann seine physische Gegenwart, seine „Anwesenheit zu spüren“ wäre: D. h. er entließ seine Schüler in eine Art Halluzination, um sie auf diese Weise die Angst überwinden zu lassen, riskierte aber dafür deren geistige Störung.17 Denn wie soll der Schüler jemals von der Anwesenheit als Gegenwart, als Präsenz von etwas Physischem loskommen, also von dem Gefühl, dass immer zwei real spürbar im Raume sind, wie der Guru es empfiehlt, wenn man eigentlich alleine da ist? Auf jeden Fall wird dadurch die Übertragung nicht aufgelöst, sondern nur verschoben, was nichts bringt.

Ich habe schon ethische Lebensweise, vegetarische Ernährung und die regelmäßigen Meditationen erwähnt, die im Surat Shabd Yoga ebenso dieser Hinsicht wirkten. Sie verschoben die Ur-Übertragung in gewiss ökologischganz sinnvolle Aktionen. Man musste zwei Übungen machen, deren erste in der Konzentration auf das innere ‘Licht’ bei gleichzeitiger rein gedanklicherWiederholung der Sanskritnamen bestand. Bei der zweiten Übung sollte man sich auf den ‘Laut’ konzentrieren. Kirpal Singh gab von beiden Übungen eine sogenannte „Ersthanderfahrung“. Schließlich – und darin liegt im Yoga wiederum das Entscheidende und Problematische – sollte diese Meditation dahin führen, den ‚Meister‘ innerlich genauso wie auf der äußeren Ebene zu ‚sehen‘ und mit ihm ‚sprechen‘ zu können. Den Guru sichtbar, wahrnehmbar zu verinnerlichen ist also ein im Yoga generell üblicher Vorgang. Was im Surat Shabd Yoga hinzukam, war allerdings dieses „sprechen“ mit dem inneren Guru, dieses innere Spricht. Was in der Psychoanalyse indirekt, mittels Übertragung und Deutung erarbeitet wird, muss im Yoga offensichtlich innerlich direkt stattfinden und gelöst werden.

Ich habe gerade ‚sehen‘ und ‚sprechen‘ in Anführungszeichen geschrieben, weil man dies alles nicht so als absolut und unmittelbar verstehen darf. Erstens ist es befremdlich, dass man mit jemanden innerlich kommunizieren

17 Bhagwan Shree Rajneesh, Sprengt den Fels der Unbewusstheit (1979)


soll, mit dem man dies auch äußerlich tun kann. Zweitens – wenn es wirklich zu so etwas wie dieser inneren Kommunikation kommt – handelt es sich doch nur um eine auf den Yoga-Diskurs eingeschränkte Kommunikation. Die äußeren strengen Regeln setzen sich ja im Inneren fort und lassen nicht unbedingt einen völlig freien, authentischen und realen Dialog zu, bei dem man erwarten kann, auf die entlegendsten Fragen eine spezifische Antwort zu bekommen. Kirpal Singh sprach von sich gewissermaßen in der dritten Person, um auf diese Weise seine Bedeutung und Besonderheit distanzierter herausheben zu können, was sich – wie gesagt -in der Meditation innerlich in Form eines begrenzten Dialogs fortsetzte. Es besteht also auf der Ebene des Spricht nur ein seltsamer Echo-Diskurs, das eigentliche Spricht muss dann aus dieser meditativen Kommunikation in noch authentischerer Form selbst kommen. Hier liegt ein gewisser Mangel des Yoga.

Dieses eingeschränkte, echoartige Spricht im Yoga ist jedoch wieder sehr gut vergleichbar mit der Einschränkung in der Psychoanalyse, die ich weiter oben als durch die Freudsche Sexualtheorie bzw. Objektbeziehungs-Theorie gegeben erwähnt habe.18 Dies schmälert nicht Freuds Pioniertat. Dennoch glaube ich sagen zu können, dass nur Lacan durch Hereinnahme der Linguistik – was das Spricht angeht – und der Blick-und Bildtheorie – was das Strahlt angeht – eine Erweiterung der Theorie und damit einen Ausweg aus der Einengung innerhalb der Psychoanalyse entwickelt hat. Denn eine zu sehr festgelegte Theorie behindert genauso wie der echoartige Diskurs im Yoga die völlige Auflösung der Übertragungen.

18 Die inneren ‚Objekte‘ sind abzählbar, und so zeigen die Kognitionswissenschaftler Varela/Thompson (Der Mittlere Weg der Erkenntnis, Scherz 1992) recht gut, dass die Psychoanalyse sich durch diese Theorie in der ihr möglichen Offenheit wieder sehr einengt.