Verschmelzungssehnsucht

Die Psychoanalytikerin Judith de Soldat hat versucht, die Freudsche Theorie in einer vertieften und verschärften Form zu ergänzen und umzuschreiben. Sie analysiert in ihrem Buch ‚Eine Theorie menschlichen Unglücks‘ Freuds Initialtraum, den er 1895 auf der Bellevue genannten Anhöhe vor Wien gehabt hat. Initialtraum insofern, als Freud sagte, er habe damit das Wesen des Traums in wissenschaftlicher Form erkannt, nämlich dass er einen unbewussten Wunsch, ein unbewusstes Begehren, als erfüllt darstellt. Der Traum ist also eine rauschhafte Illusion, mit der man sich unangenehme Wahrheiten erspart und mit dem man sich dem Schlafwunsch hingibt, der ein Wunsch nach Nichts, nach todesähnlicher Entspannung ist. In diese Entspannung reißt der Traum andere noch unerledigte Wünsche, aber auch Spielereien, mit hinein. Freud analysierte seinen eigenen Traum in die Richtung des von ihm dann auch so benannten Ödipuskomplexes, nämlich – vom Knaben aus gesehen – mit dem Hass, der Eifersucht und dem Todeswunsch gegenüber dem Vater und der Liebesvereinigung und sexuellen Erfüllung mit der Mutter.

 

Le Soldat erscheint dies zu maßvoll. Der Wunsch den Vater zu beseitigen sei sowohl beim antiken Ödipus wie auch beim heutigen neurotischen Menschen und dessen nur vorgestelltem Wunsch eigentlich ein Raub- und Lust-Mord ganz rabiater Art, und der Wunsch sich mit der Mutter zu vereinen, sei ein Wunsch nicht nur sie zu penetrieren, sondern auch von ihr penetriert zu werden. Denn Le Soldat sieht die Mutter im seelisch Unbewussten des Kindes ausgestattet mit einem imaginierten Phallus, mit lustvoller omnipotenter Weiblichkeit, die eine ebenso imaginierte eigene sexuelle Höhlung (auch beim männlichen Kind), die sie  ‚Kolpos‘ nennt, aggressiv penetrieren kann. Alles ist bei der Autorin ein bisschen umgedreht bzw. anders herum gestaltet als es bei Freud der Fall ist. Die Kinder, aber auch noch Erwachsene,  imaginieren dies alles unbewusst, weil die beiden Grundtriebe, Sexuelles, Libidinöses einerseits und Aggressives, Zerstörerisches andererseits, von Anfang an eng verbunden dem Kind keine andere Wahl lassen.

Dieses sexuell-aggressive Wunschpaar ist jedoch von vornherein auch unerfüllbar. Es existiert aber im unbewusst Psychischen als etwas in sich triebhaft Verwickeltes (der Aggressionstrieb ist mit dem Sexualtrieb immer legiert), gegen das es alle möglichen Ausflüchte und Abwehren gibt, die nur sehr gering gelungene, komplexartige Kompromisse darstellen. Selbst der Ödipuskomplex ist für Le Soldat nicht ein Grundkomplex, sondern nur eine seelische Abwehr gegenüber diesen Primärkomplexen, ein Heilungsversuch sozusagen, der misslingt. Die Analytikerin stellt somit den Menschen als einen fast aussichtslos zu ewigem Abwehrkampf Verurteilten hin, der lediglich durch psychoanalytisches Durcharbeiten dieser seelischen Komplexe eine gewisse Erleichterung und Klarheit erreichen kann, wenn er die dramatischen sexuell-aggressiven Voraussetzungen einzusehen vermag.

Das Ganze klingt ähnlich wie die Vorstellung von der Erbsünde, denen jeder neugeborene Mensch unweigerlich ausgeliefert sei, und die jeder von neuem mit religiösen Bemühungen zu sühnen und zu überwinden versuchen muss. Wenn die Gnade Gottes nicht mitspielt – so zumindest Luthers Auffassung – ist der Kampf aussichtslos. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass Le Soldats Ausführungen sowohl den Errungenschaften der Evolutionslehre sowie auch den Freudschen Theorien  adäquat sind und so moderne, wissenschaftliche Grundlagen haben. Ich würde jedoch den Sachverhalt nicht so martialisch, sondern in genauso wissenschaftlicher Weise anders ausdrücken. Ich glaube nicht, dass es – wiederum ist speziell der Knabe gemeint – einen so spezifisch sexuell ausgerichteten Wunsch gibt, in dem ein weiblicher Phallus die ebenso imaginierte sexuelle Höhlung beim Knaben penetriert, anstatt dass es sich um den Phallus des Knaben handelt, der die Mutter penetrieren will, wie Freud es formulierte. Zwar ist damit eine Triebstruktur anvisiert, die noch ein gutes Stück vor der ödipalen Struktur liegt, aber es wirkt schon alles sehr gekünstelt.

Wie kann man überhaupt zu derartigen psychoanalytischen Theorien kommen? Bereits der Ethologe K. Lorenz hatte nachgewiesen, dass bei Tieren durch „Ritualisierung“ in der Gruppe eine Änderung in ihrem Instinktverhalten derart eingeführt wird, dass ein neuer, ganz anderer Trieb entsteht.[1] Dieser nunmehr also zu Recht nicht mehr Instinkt genannte Trieb verfestigt sich aber beim Tier wieder zum Instinkt, und kann evtl. erst wieder durch neue komplexe Gruppenrituale oder andere dramatische Ereignisse aufgebrochen werden. Der tierische Trieb/Instinkt also bleibt an enge Verhaltensweisen geknüpft, er kann sich kurzfristig von den ganz engen Bindungen des strikt vorgegebenen Instinkts befreien, so dass er scheinbar den Charakter eines nicht mehr so fixierten Triebes hat, kehrt aber dann doch wieder – neu gestaltet und relativ rasch – zum festen Instinkt zurück. Dies verläuft beim Menschen anders, indem einen Rückkehr zu fixierten Triebregelungen nicht mehr möglich ist.

Freud versteht unter Trieb demnach etwas ganz anderes. Es ist also bei der Menschwerdung aus den vormenschlichen Primaten heraus zu freien Trieben gekommen, die nicht mehr zum fixierten Instinkt zurückkehren können, aber dennoch irgendwie eine ganz andere Regelung und Ordnung finden müssen. Diese nunmehr freien, ja wilden Triebe stehen den vorwiegend den Regeln der reinen Zwischenmenschlichkeit, also der Menschenbeziehungen jeglicher Art gegenüber. Die Gruppendynamik und andere Umweltfaktoren bestimmen das Bild, bzw. die Bilder, die jetzt nach einer eigenen Bilddynamik die Blicke in den Griff bekommen müssen. Doch wie sind diese nun zu benennen? Da beginnt die große Schwierigkeit, denn nun ist auch ein Wort, ein Symbol gefragt, um die Regelung perfekt zu machen. Bevor ich darauf zurückkomme, noch ein kurzer Hinweis auf die Neurowissenschaftler, die natürlich sagen, dass es das Gehirn war, das diese Regelung übernommen hat.

Das Gehirn der Vormenschen, erklären sie.  ist in vieler Hinsicht wie explodiert, es ist größer geworden und den von der Natur vorgegebenen Verhältnissen vorausgeeilt. Der Philosoph P. Sloterdijk stellt es in seinem neusten Werk so dar: Das Gehirn des menschwerdenden Affen ist zu vielschichtig geworden, es hat zu „schäumen“ angefangen.[2] Dieser beginnende homo musste sich nunmehr mit der sich entwickelnden Sprachfähigkeit in immer komplexeren Gruppen zusammenschließen und Beziehungsdynamik betreiben, für die sich gewisse Hirnareale spezifisch herausgebildet haben: die Amygdala z. B. für die Angstreaktionen, das limbische System für die Gefühle usw. .

Auch der Evolutionsbiologe C. Wills spricht beim Menschen von dem mit sich selbst „durchgegangenen“, „vorauseilenden Gehirn“.[3] Die Vergrößerung, „Vor-auseilung“ seines Gehirns, die komplexere Gruppendynamik (zu der auch die längere Abhängigkeit von der Mutter gehört), aber vor allem aufsteigende Identitätsprobleme inmitten dieses Zusammentreffens von Realem und Imaginärem zwangen diesen Frühmenschen zu Umorientierungen, auch zu Umformungen des Gehirns. Denn das Gehirn ist enorm plastisch und kann sich als komplexes Neuronennetzwerk  so komplex organisieren, wie das die moderne KI (künstliche Intelligenz) ebenso tut. Natürlich weiß man noch nicht alles und deswegen hat Freud wohl zu Recht mit seiner Psychologie vorausgegriffen.

Was sich so entwickelte, wird von Freud nun nicht nur als eine Gehirnveranstaltung, sondern als eine psychologische Kombination der menschlichen Triebe bezeichnet, die er – damals doch noch sehr der Auffassung allgemeiner Selbst- und Arterhaltungstrieben huldigend – als Eros-Lebens-Trieb und Todes-Aggressions-Trieb titulierte. Doch was der Trieb nun wirklich ist, wusste er ebenfalls nicht. Er schwankte nämlich zwischen einer biologischen und einer mehr mythologischen Erklärung für diese Orientierungen. Die letzteren definierte er so: „Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit“. Doch wer gibt ihnen dann ihre letztliche Richtung? Eigentlich gibt es bei Freud eine Vielzahl von libidinösen Trieben (oral, anal, genital, blicklich, stimmlich, phallisch), aber für die Praxis ist es wesentlich, zwei oder drei als Grundformen herauszustellen, die Freud also die libidinösen Eros-Lebens-Triebe und den aggressiv-zerstörerischen Todestrieb nannte.

Doch das erwähnte Überhandnehmen der Sprache – und damit komme ich jetzt zu den Bildern einerseits und den Worten, Symbolen andererseits zurück – und die zwischenmenschlichen Beziehungsdynamik verschiedentlichster Art führte heutzutage zu dem von Lacan postulierten Trieb-Struktur-Konzept von Entäußerungs- (bzw. Sprech-) und Wahrnehmungs- (bzw. Schau-) Trieben als der plausibelsten Auffassung für die Grundtriebe, denn so sind sie im Unbewussten aufzuspüren und haben auch Nähe zu den wichtigsten Lebensfunktionen. Beide sind sie aktive, libidinöse Triebe, die unterschiedliche Kombinationen miteinander eingehen können. In beides kann sich Aggressives mischen, das jedoch kein eigener Trieb ist. Ein Aggressions- und Destruktionstrieb als ‚konstante Kraft‘ – wie von Freud und auch von Le Soldat angenommen – würde unweigerlich immer wieder zum Ende der Menschheit führen, zum Vormenschenzeitalter (nun ja, manchmal sieht es auf der Welt tatsächlich so aus).

Die Wahrnehmung und das Schauen verfangen sich – indem sie als Trieb frei geworden sind – in „ersten maßgeblichen Bildern“, die etwas mit Rhythmik, Oszillieren, Pulsieren aber auch mit der Metrik von Mustern oder ersten bedeutenden Erscheinungen zu tun haben. Die  ersten Signifikanten, „die natürlichen Symbole, sind hervorgegangen aus einer bestimmten Anzahl ‚maßgeblicher Bilder‘ – aus dem Bild des menschlichen Körpers, aus dem Bild einer Reihe von deutlich sichtbaren Objekten wie der Sonne, dem Mond und einiger anderer. Und das ist das, was der menschlichen Sprache ihr Gewicht gibt, ihre Triebfeder und ihr emotionales Vibrieren.“[4]Dem Wahrnehmungs-Schau-Trieb steht also der Entäußerungs-Sprech-Trieb gegenüber, und beide bilden genau so eine Kombination wie das Sexuelle und das Aggressive bei Freud und bei Le Soldat. Sie sind genauso legiert, also leicht miteinander verschmolzen und können so auch nie ganz voneinander getrennt werden. Doch wo bleibt dann das Aggressive und der Todestrieb?

Das Aggressive entsteht laut Lacan mittels der frühen Identifizierungsmodi, also der Arten, wie man sich mit etwas – rein blicklich – identifiziert. Man identifiziert sich z. B. mit einem charakteristischen Zug eines Objekts (Lacan sprach Freud folgend vom ‚einzigen Zug‘ eines Objekts), der uncharakteristische Rest fällt ins Negative, Abgelehnte und so zum Aggressiven werdende. Man kann es also beim Schautrieb  finden, wo die ersten bildlichen Identifizierungen dazu führen, dass der psychische Organismus sich aufspalten muss in ichsyntone (gute) und andere, nicht zu einem selbst gehörige (böse) Bilder. Der Sprechtrieb dagegen wäre dann mehr auf der Seite des Eros zu finden, in dem sich das Begehren entäußern kann, wobei eben beim Menschen die verbale Entäußerung die wesentlichste ist. Doch die Triebe sind ja vermischt, legiert, und mischen so auch das Aggressive in sich hinein. So kann man freilich auch sagen, dass es eher das Entäußernde ist, das wohl dem Aggressiven nahesteht, und das mit Schaulust Wahrnehmende mehr dem Sexuellen. Doch egal, wie man es nehmen will, der Tod des Freudschen Todestriebs scheint dann irgendwo auf der Strecke geblieben zu sein. Doch dem ist nicht so. Er gilt halt nicht mehr als aktiver, zielgerichteter Trieb, sondern als ein Geschehen im Schatten des Lebens.

Er findet sich nämlich nun einfach dort, wo die Kombination der beiden Grundtriebe (nun also des Schauens, des Blicklichen und des Sprechens, das Worthaften) nicht oder nur schlecht gelingt, wo sie für das menschliche Miteinander, für die kulturellen, erotischen, sozialen, kurz: alle Arten menschlicher Beziehungen, nachteilig sind. Irgendwo in der Mitte des Lebens bemerken wohl die meisten Menschen, dass sie zwar materiell, familiär, beruflich und in vielen anderen Bereichen erfolgreich waren (oder auch nicht), doch für die entscheidende Frage der grundlegenden menschlichen Beziehungen in kulturell-geistiger-psychischer Hinsicht, also in einer umfassenden Erfahrung und Wahrheit, nicht fortgeschritten sind. Fortschritt ist wichtiger als Erfolg. Was hat man nicht alles fertig gebracht, dem Eros im Sprechen die tragenden Namen gegeben, auch wenn sie weiblicher Phallus und männlicher Kolpos heißen. Wie hat man sich nicht gelungen durch die Bilder der frühen Identifikationen geschlängelt, um die Aggressivität in Schach zu halten und die Kunst zu genießen. Weibliche und männliche Psychoanalytiker haben einen Unzahl an Theorien aufgestellt und die Ergebnisse ihrer Praxis veröffentlicht. Doch das Letzte ist nicht gefunden und der Tod somit nicht überwunden.

Judith Le Soldat könnte noch am ehesten behaupten, dass ihr eine Überwindung der Probleme vom tiefsten Grund her gelungen ist. Vom höchsten Grund her, von der Religion, wird immer schon behauptet, dass der Tod seinen Stachel verloren hat, denn es lockt das freie Leben danach. Aber dazu muss man schon sehr, sehr fest glauben, sowie man bei Le Soldat eben sehr, sehr fest phantasieren muss. Man muss unbedingt zugeben, dass man verrückte oder perverse Phantasmen, also unbewusste Phantasien hat, solche, an die man eben selbst im Traum kaum denkt. Das Hauptphantasma ist wie gesagt der imaginierte Phallus der Mutter, den die Autorin Nimbus nennt, was Heiligkeit, Glanz und Größe bedeutet. Nur ist diese Heiligkeit selbst aggressiv, denn Es, dessen sexuelle Triebausstattung will penetrieren, um nicht zu sagen zerstören. Für Le Soldat ist der Aggressionstrieb auch der absolute Zerstörungstrieb. Wenn das Ganze auch in sexistischen Vokabeln nicht leicht nachzuvollziehen ist, so könnte  die Verhältnisse doch recht gut als die eben umgedrehte Version von Freuds Sexualtheorie, die um die Figur des ‚toten Vaters‘ kreist, erklären.

Der große Vater, der omnipotente Vater, der Vater, der in Freuds Auffassung als Alphamännchen der Urhorde alle Frauen besaß, ist kastriert (so bei den Neurotikern) oder tot (wie in der Ödipussage). Selbst Gott ist nur im fernen Jenseits (virtuell?) lebendig und die normalen, üblichen Väter sind Zombies, halb lebendig, halb tot, denn sie wissen nicht, was es im Endeffekt, im zentralen Wahrheitsfeld heißt, wirklich Vater zu sein. Den absoluten lebendigen Vater gibt es also eigentlich nicht, es sei denn man könnte Freud wenigstens für seine Zeit und seine von ihm erreichten Menschen so nennen. So wie Freud also um diese paternale Zentralfigur herum seine klinischen Erfahrungen, die Mythologie und die Dramen Shakespeares gruppieren konnte, so könnte man Le Soldats Theorie um die glanzvolle, phallische, aggressiv-sexuelle, reiche Nimbus-Frau gestalten, die ja auch als solche kaum irgendwo vorkommt. Aber gerade deswegen kann man sie imaginieren oder hat Es, das seelisch Unbewusste, Es, das menschliche Subjekt, sie schon früh im Leben des Kleinkindes als Urphantasma in dem Moment angelegt, als die Instinkte in freie, wilde Triebe umgestaltet wurden. Als solche konnten sie jedoch vom Kind nicht gelebt werden und auch den Erwachsenen gelingt dies nur unvollkommen, deswegen sind sie ja neurotisch.

Nun weiß man ja, dass Gott, gerade als weit Entrückter, als toter Vater, als ‚reiner Geist‘, trotz all dem Unlebendigen für die lebenden Menschen große Bedeutung und Wirkung haben kann. Warum sollte also nicht die glanzvolle, reiche Nimbus-Frau ebenso Wirkung haben, idem sie doch in den Menschen lustvoll und aggressiv lebendig ist, dies aber wiederum nur in unbewusster Form. Da man aber in der Psychoanalyse alles Unbewusste bewusst machen will, könnte die Nimbus-Frau vielleicht doch zum Vorschein kommen. In den Schilderungen ihrer Psychoanalysen kommt sie reichlich zur Sprache, wenn für mich letztlich auch nicht ganz ersichtlich wurde, wie erfolgreich und fortschrittlich Le Soldats Psychoanalysen waren. Darüber ist zu wenig veröffentlicht, sie selber aber – vielleicht wie Freud als vollständiger Vater – als diese vollständige Ur-Frau hätte sein können, ist zu früh gestorben. Gerade mal 61 Jahre ist sie geworden, so als hätte sie die Aufgabe, die Funktion diese Ur-Frau zu sein, überfordert.

Die Kundry in Wagners Parzival, Adams erste Frau Lilith oder die Sphinx in der Ödipussage sind literarische Vorbilder für dieses Genre von reicher und omnipotenter Frau, die auch heutzutage die Männer angstvoll die ‚femme fatal‘ nennen. Le Soldat geht speziell auf die Sphinx und deren albernes Rätsel ein, in dem nur allzu klar ist, dass der Greis mit den drei Beinen nicht einen Stock in der Hand hält, sondern dass es sich um eine Anspielung darauf handelt, dass er außer den Beingliedmaßen noch ein drittes Glied hat. Oder dass es um den Nimbus geht, dessen Bedeutung Ödipus auf den Ausweg verschiebt, den der Ödipuskomplex darstellt und der somit die dramatischen Vorgänge, die sich vorher und in tieferen Seelenschichten abspielen, verdrängt. Dieser Cut, diese Schnittstelle passt gut zu Freuds Annahme einer Ur-Verdrängung, die er als eine seelische Gegenbesetzung bezeichnet, also ein völliges ‚andersherum‘ zu der ödipalen Struktur. Doch wie die Psychoanalyse mit der Sphinx im Hintergrund gelingen will, bleibt mir unklar.

Denn in der Übertragung musste sich die Analytikerin Le Soldat ja als die Sphinx gesehen haben, die selbst ein Rätsel ist, die aber auch in ihren Deutungen glänzt wie der Nimbus und die ihre Ödipusse, ihre Patienten, nicht weggehen lässt zu ihren ödipalen Inzestwünschen, weil dies ja nur Abwehr ist.  Trotzdem denke ich, dass man mit der Schnittstelle eleganter arbeiten kann, indem man sie in den unmittelbaren Bedeutungskörpern, den Signifikanten Lacans, aufsucht. Sie ist dann kein Rätsel um den Superphallus der Frau, sondern um das Kreuzworträtsel der Träume, der Versprecher und der psychischen alltäglichen, ständigen Fehleistungen. Der ‚linguistische Kristall‘ Lacans stellt dann das Es Strahlt des Nimbus aber auch das Es Spricht der Le Soldatschen Deutung dar. So habe ich immer die Grundsignifikanten für die von mir inaugurierte Methode der Analytischen Psychokatharsis genannt. Das klingt vielleicht alles etwas nüchterner als die Beschäftigung mit den Auswüchsen der Ur-Frau und den perversen Phantasmen der frühen Kindheit. Aber das Strahlt und Spricht ist nicht ohne Eros. Das Problem liegt lediglich in deren gelungener Kombination, die in einer Verschmelzungserfahrung der beiden besteht.

Denn wenn man die Hauptschnittstelle als die dem Verschmelzungsphantasma nahstehende Erfahrung bezeichnet, so ist das Strahlt, das ‚Durchrieseln oder die Katharsis in der Meditation ohnehin etwas, dass dieses Phantasma sehr körpernahe und wenigstens für kurze Zeit realisiert. Das befriedigt also nicht wirklich und nicht auf die Dauer. Da es aber überleitet zum Spricht, stürzt man nicht in Kluft der Depression oder verfällt perversen Phantasien. Im Gegenteil, man erhält mit den Pass-Worten eine Deutung, die durchaus auch einmal eine der Le Soldatschen Theorie folgenden Inhalt haben kann. So hatte ich einmal einen Probanden, der die Analytische Psychokatharsis erst seit kurzem übte. Er hörte einmal bei der Meditation in sich wie aus der Tiefe her das Luststöhnen eines Mannes, der in etwa sagte: „So ist’s gut“, worauf er heftigst erschrak. Er war heterosexuell, führte keine schlechte Ehe und hatte zwei Kinder, masturbierte jedoch regelmäßig, wenn er alleine war. Die Gedanken, dass jemand ihn beobachtet habe, dass jemand um seine Selbstbefriedigungen weiß, dass es sich um Homosexualität handeln muss, die er so ablehnte, kreisten unaufhörlich in ihm. Aber sie bewegten ihn auch zu konstruktiven Überlegungen.

Heraus kam, dass er als Kind zumindest missbrauchsähnliche Erfahrungen gemacht hatte, und dass er auch lange Jahre sich mit Phantasien perverser Art beschäftigt und im Internet entsprechende Seiten konsumierte. Er kam nur alle drei Monate zu mir, wo wir seine Gedanken und Einfälle besprachen. Zum ersten Mal konnte er auch zu seiner Frau über all diese Dinge sprechen und im Laufe von zwei, drei Jahren seine Einstellungen zu sich und seinem Sexualleben verändern. Ein einziges derartiges Pass-Wort (Laute, Kurzsatz) hat all dies bewirkt und wirkt noch immer nach, denn was aus dem eigenen Inneren her mit solch fast unheimlicher, aber eben doch auch heimlicher Weise vorging, hat wesentlich mehr Wirkung als jedes Reden eines anderen außerhalb von einem selbst.

Trotzdem, fertig mit der Therapie ist man deswegen auch noch nicht. Man muss sich jeden Tag erneut hinsetzen und die Übungen der Analytischen Psychokatharsis durchführen. Dennoch erspart man sich viele Stunden analytischer Therapie egal nach welcher Art oder Schule. Auf genauere Informationen zu dem Verfahren verweise ich auf die verschiedenen Artikel auf dieser Webseite.

 

 

 



[1]Lorenz, K., Das sogenannte Böse, DTV (1993) S, 246

[2] Sloterdijk, P., Sphären III, Suhrkamp (2004) S. 359, wo der Autor von der Menschwerdung als „distanzerzeugender Selbsteinschließung spricht.“

[3]  Wills, C., Das vorauseilende Gehirn, Fischer (1996) S. 20

[4] Lacan, J.,  Seminar II, Walter (1980) S.388 Der imaginäre Signifikant ist also in Bezug zum symbolischen klar getrennt / verbunden.