Lumis Monster

Überwältigt sein muss nichts Negatives bedeuten. Auch wenn es vom Wort Gewalt herkommt, ist doch ein Ausdruck wie: ‚Ich war vom Hamlet im Thalia Theater überwältigt‘, oder: ‚Mendelsohn Bartoldys Violinkonzert war überwältigend‘, kraftvoll und positiv. Doch in diesem Manuskript soll es ohnehin über eine besondere Art der Überwältigung gehen, nämlich um eine, wie sie die amerikanische Psychoanalytikerin A. Saketopoulou erfassen will, die geschrieben hatte, dass Beziehungen letztlich immer noch ein ungelöstes Rätsel enthalten, das nur gelöst werden kann, wenn es zu einer Art intimen ‚overwhelming‘ (Überwältigung) kommt.(1)  Die Autorin beginnt ihren wissenschaftlichen Artikel mit der Geschichte einer Mutter

(Imani), die mit ihrer vierjährigen Tochter (Lumi) spielt:
„Spiel das Monster“, fordert Lumi die Mutter auf. Imani verwandelt sich augenblicklich in einen stattlichen Menschenfresser und springt auf ihre Tochter zu. „Ich werde dich auffressen“, knurrt sie drohend. Lumi windet sich aus Imanis festem Griff heraus und kreischt vor Freude. Sie wehrt sich und kichert ungezwungen. Dann brüllt sie aber ganz plötzlich ’Stopp‘ und Imani hört auf. Sie schauen einander an, ein Augenblick verstreicht und Lumi befiehlt: „Nochmal!“ Imani fängt wieder an. Wieder grabscht sie, wieder ist sie das gruselige Monster, wieder ist sie unheildrohend und beängstigend. Lumi lacht. „Stopp!“ befiehlt sie abermals. Imani hört auf. Sie wiederholen dieses Szenario noch eine Weile. Nach ein paar weiteren Wiederholungen macht Lumi einen unzufriedenen Eindruck. Dann findet sie eine Lösung. „Wir spielen ein anderes Spiel“, kündigt sie an. „Ich befehle dir das Monster zu spielen, du grabscht nach mir und erschreckst mich; ich sage ‚Stopp!‘; aber dieses Mal“ – und sie betont jetzt jedes Wort einzeln – „hörst – du – nicht – auf!“ „Ich höre nicht auf“, zögert Imani? „Nein“, antwortet Lumi voller Zuversicht, „du machst weiter und weiter, immer länger weiter“. „Aber wenn es zu viel wird, was dann?“, fragt Imani beklommen. Das kleine Mädchen scheint sich jedoch überhaupt nicht für diese erwachsenen Fragen der Sicherheit oder der umsichtigen Feinjustierung zu interessieren. Es scheint sie nicht zu beunruhigen, dass die Frage sicherer Grenzen unbeantwortet bleibt. „Du darfst nicht aufhören, sonst klappt es nicht“, entgegnet sie ungeduldig.“ Mach dir keine Sorgen, wir machen einfach weiter und weiter, immer länger weiter“.
Die Autorin benutzt im Verlauf ihres Artikels dieses Beispiel für Beziehungen, in denen es um das Wesen des zutiefst verdrängten Freudschen ‚infantil Sexualen‘ geht.  Saketopoulou benutzt diesen Ausdruck des französischen Psychoanalytikers J. Laplanche, um die äußerst frühen und tief gehenden Verdrängungen zu konzeptualisieren, also das Urverdrängte, das in der üblichen Psychoanalyse nicht tangiert wird und nicht zur Sprache kommt, denn es ist auch mit dem Aggressiven eng verbunden. Dieses ‚overwhelming‘, dieses Überwältigtsein und Überwältigen, kann nunmehr – so die Autorin – dabei helfen, das letzte Rätsel in einer therapeutischen Beziehung aufzubrechen und zu lösen,
Saketopoulou verrät nicht, wie das Spiel zwischen Lumi und ihrer Mutter weitergegangen ist, doch man kann es sich denken. Imani, die Mutter, wird wohl etwas länger und vielleicht mit ein bisschen verändertem Knurren und Zähnefletschen das Monster gespielt haben, auch noch nachdem ein „Stopp“ gefallen ist. Jedoch schon bald danach, wenn sie, die sie ihre Tochter in- und auswendig kennt, das Gefühl hat, dass es mit der Überwältigung lang genug weitergegangen ist, wird sie ein geschicktes Ende finden. Sie wird zum Beispiel stöhnen und sagen, dass dem Monster jetzt die Kräfte auszugehen drohen, die Prankenmuskeln erlahmt sind und dass man das Spiel ein anderes Mal wieder aufnehmen muss, wenn das Monster sich wieder erholt hat.
Sie wird wie eine Psychotherapeutin agieren, die in dem Fall der Patientin, deren Behandlung Saketopoulou  anschließend an die Geschichte von Imani und Lumi aus ihrer psychoanalytischen Praxis schildert, mit dem ‚overwhelming‘ arbeitet. Sie hat die Patientin nicht mit einer etwas gewagten Deutung überwältigt, hat auch nicht, was oft der beste Weg in der psychoanalytischen Therapie ist, sich für ein zaghaftes, behutsames „erzählen Sie . . .“ weiter entschieden, sondern sich selbst von ihrer Patienten ein bisschen überwältigen lassen. Die Patientin hatte in der Therapiesitzung davor von ihren Gewaltphantasien gesprochen und so hatte sich die Therapeutin schon vor der Therapiestunde als leicht angespannt und erregt empfunden, und einen ‚griechischen Kaffee getrunken. Dessen Aroma bemerkte die Patienten zu Beginn der Sitzung, was in der Folge zu einer etwas missverständlich-verwirrenden Situation führte.   Sie fing zu weinen an, schluchzte immer mehr, was die Psychoanalytikerin in eine Phase von Un-sicherheits-, Schuld- und Beklemmungsgefühlen führte. Sie war überwältigt und konnte nichts dazu sagen.  Schließlich stand die Patienten nach einiger Zeit auf und ging ohne ein Wort nach Hause.
Ich will hier nicht auf Einzelheiten des gegenseitigen ‚overhelmings‘ in dieser Therapiestunde eingehen. Die Therapie ging positiv weiter, denn nun gab es genug über diese Überwältigungserlebnisse zu reden, was sie aufgebrochen hatten und welche Deutungen damit angeregt wurden. Mich interessierte Theorie und Praxis dieser Thematik jedoch zudem deswegen, weil sie auch meinen Veröffentlichungen über das von mir entwickelte psychoanalytisch/meditative Verfahren der Analytischen Psychokatharsis entgegenkommt. Denn gerade in dem meditativen Teil dieser Methode setzt man sich – wie wohl bei vielen anderen Meditationsverfahren auch – der Stille und dem Dunkel, dem Nichts und der Leere in einem selbst aus, so wie es offensichtlich auch Lumi, nichtsahnend von den Implikationen, ihrer Muttergegenüber getan hat.
Es ist eine uralte Geschichte, dass es im Menschen oder in seinen unmittelbaren Beziehungen, die sein Innerstes zum Innersten eines Anderen hat, eine geheimnisvolle Höhle, einen unüberbrückbaren Abgrund oder irgendein anderes angsterfüllendes Geheimnis gibt. Seit Freud nennt man es das Unbewusste und hat hauptsächlich den Weg beschritten, der zu diesem Innersten Zugang durch das Wesen der Sprache, also der symbolischen Ordnung,  bekommt. Inzwischen gibt es Bibliotheken psychoanalytischer Literatur, die erklären, wie der Therapeut seinen Patienten in die wunderbare Landschaft der Seele wandern, straucheln, gleiten und stolpern lässt – der Patient darf alles sagen, was ihm spontan in den Sinn kommt, Größenphantasien, Blödheiten, Peinlichkeiten und endlos ausgeschmückte Tiraden – bis er irgendwo daneben getreten ist.
Das Danebentreten wird ihm dann als Zusammenhang seines Widerstandes gegen die eigentliche Wahrheit  und seines verdrängten Begehrens enthüllt und logisch aufbereitet. Im Zentrum dieser Logik steht der Ödipuskomplex, der den Knaben zum mörderischen Rivalen seines königlichen Vaters und zu dessen Hasser, sowie zum perversen Sexualpartner seiner vielseitigen Mutter und zu deren Verliebten erklärt. So weit so gut. Viele Analytiker haben jedoch versucht und versuchen es immer noch, die Begrenzung dieser Theorie durch tiefergreifende Begründungen zu erweitern. So schrieb die   Psychoanalytikerin J. Le Soldat, dass im Mittelpunkt der Ödipusgeschichte  die Sphinx steht und nicht das Königsdrama.
Freud – so meiner Le Soldat – wollte nicht in die glühenden Augen der Sphinx schauen, die mit ihrem Blick die Männer verhexte. Sie hat Freuds Traum von ‚Irmas Injektion‘, den Freud als denjenigen Traum bezeichnete, der ihm das Wesen des Traums enthüllte, als von ihm selbst falsch gedeutet erklärt.(2)  Viel zu sehr hätte Freud nur die libidinösen Seiten seines Traumes beschrieben, die aggressiven aber nicht erwähnt. Der Traum handelt von einer Patientin namens Irma, die bei Freud in verunglückter seelischer und bei seinem Freud Fließ in verunglückter HNO ärztlicher Behandlung war. So deutet Le Soldat den Satz in Freuds in diesem für die Psychoanalyse so wichtigen Traum: „Irma, die ich sofort beiseite nehme, um . . . “ , dass Freud hier jemand beseitigen wollte, und zwar sein bereits erwartetes sechstes Kind. Aber auch eine homosexuelle Beziehung zu einem Kollegen, der im Traum vorkommt. soll Freud – Le Soldats Schlüssen folgend – beseitigt haben wollen. Man muss zugeben, dass Le Soldat diese ihre Deutungen plausibel mit zahlreichen Beispielen belegt, wenn sie auch Freuds Auffassungen vom Traum als einen als erfüllt dargestellten Wunsch nicht entgegenstehen. Nach allem, was man inzwischen weiß, wird es sicher so sein, dass letztlich noch andere Wünsche, als Freud sie zugibt, in diesem Traum versteckt sind.
Letztlich, so Le Soldat, vermittelt die Sphinx in märchenhafter Form das Grundproblem martialischer Sexualität, in der Männer die Väter nicht nur ermorden, sondern sie auch ihres Geschlechts berauben und den Müttern und Frauen große Phalli andichten, von denen sie penetriert werden wollen. Das Ganze führt zu den wildesten, sexistischen Phantasien, die das Unbewusste als ein uferloses, gewalttätiges und sexuelles Bild-Geschehen, als ein – im Gegensatz zur symbolischen Ordnung – imaginäres ‚overwhelming‘ darstellen. Le Soldat versucht sozusagen Freud mit seinen eigenen Waffen geschlagen, sein „primärer Narzissmus“ erweist sich als autosexistisch, sowie sich der kulturell-gesellschaftliche Diskurs auch heute noch überbordend als psychoanalytisch-normierend darstellt, was zu wenig in die Tiefe geht.
Le Soldats Theorien sind von vielen anderen Psychoanalytikern in unterschiedlichen Konzeptionen aufgegriffen worden, wohl eben auch von Saketopoulou.(3)  Auch die Psychoanalytikerin R. Stein führt ähnliche Argumente an. Wie es in einem Abstract ihres Artikels ‚the otherness of sexuality (die Andersheit der Sexualität) heißt,(4)  geht es darum, „eine erfahrungsnahe Darstellung der Sexualität zu entwickeln, indem die Idee des Übermaßes (Excesses) und seine Platz in der sexuellen Erfahrung rehabilitiert wird. Es wird vorgeschlagen, dass verschiedene Arten des Übermaßes, wie das Übermaß der Erregung (Freud), das Übermaß des Anderen (Laplanche), das Übermaß jenseits der Symbolisierung und das Übermaß des verbotenen Objekts des Begehrens (Lacan) synergetisch zusammenwirken, um die zwingende Kraft der Sexualität zu konstituieren“.
Auch diese Autorin geht also davon aus, dass im Übergang von den fest gebundenen Instinkten des Tieres beim Menschen eine übermäßige Freiheit der Triebkräfte entstanden ist, die von Freud nicht genügend erfasst worden sei. Ein Übermaß ist jedoch hilfreich, wenn es, wie R. Stein weiter schreibt, notwendig ist, um zu sehr fixierte „psychische Strukturen zu zerschlagen und angestrebt wird die Entwicklung neuer Strukturen zu ermöglichen.(5)  Stein zitiert auch Arbeiten zitiert, die das Übermaß, „den Exzess als eine Möglichkeit betrachten, mit unserem einsamen, diskontinuierlichen Sein umzugehen, indem sie die ‚exzes-sive‘ kosmische Energie, die durch uns zirkuliert, nutzen, um Kontinuität gegen den Tod zu erreichen“.(6)
Mit dem Begriff ‚kosmische Energie‘ klingt bereits an, was nun auch durch ein Übermaß oder ein ‚overwhelming‘ in die entgegengesetzte Richtung an psychischer Veränderung erreicht werden kann. Ging es bei den genannten Psychoanalytikern um die verborgene Tiefe einer sexuellen Andersheit, so handelt es sich bei anderen Autoren – auch hier bevorzuge ich Psychoanalytiker, um den Bezug zu meinem Verfahren besser herstellen zu können – um die Arbeiten in die Höhe des Spirituellen, der Mystik oder der Kunst. L. Stein greift auf die Schriften des Freudschülers C. G. Jung zurück und beruft sich auf dessen ‚Numinoses‘, geistig Überwältigendes, was auf das Wesen früherer Offenbarungen zurückgreift.(7)  Es ist etwas, das eben „ungebeten und überwältigend und nicht schrittweise, abgestuft“ erscheint wie eine Psychoedukation oder Verhaltenstherapie. Dabei legt die Autorin besonders Wert auf den Begriff der Empfänglichkeit, der auch für die Psychoanalyse notwendig ist. Indem die psychischen Abwehrmechanismen abgebaut werden, wird der Patient für die Deutungen des Therapeuten empfänglich. 
Auch ein männlicher Psychoanalytiker namens H. Stein thematisiert den Zusammenhang zwischen Psychoanalyse als Wissenschaft und Mythos, Mystik und Religion als ‚spirituelles‘ Wissen, also als das Oben von dem Überwältigendes ausgehen kann.(8)   Allerdings beschreibt er an keiner Stelle seines ausführlichen Buches klar, dass es in all diesen mystischen und stets dem Esoterischen nahestehenden wohl wie bei der oben gerade genannten Autorin darum geht, die psychischen Abwehrmechanismen zu überwältigten. Zweifellos überwältig der Autor auch den Leser mit seinen vielen Bezugnahmen auf Yoga, Buddhismus, Naturmystik und mit reichlichen Hinweisen auf seinen indischen Guru und Lehrmeister Medhananda. Zwar schildert er eindrucksvoll die intensive psychoanalytische Behandlung eines Nierenkranken, und auch wenn keine endgültige Heilung erreicht wird, so sind doch Beeinflussungen auf das Immunsystem des Patienten plausibel dargestellt. Mit anderen Worten: Das Spirituelle kann genauso wie die klassische Psychoanalyse und die das infantil Sexuale betreffenden Verfahren durch ein gemeinsames ‚overwhelming‘ definiert und als therapeutische Konzepte anerkannt werden.
Doch eine letztliche Befriedigung durch all diese Schilderungen stellt sich nicht ein. Der Schlüssel, der möglichst kompakt, direkt und wissenschaftlich präzise das ‚overhelming‘-Ereignis zum therapeutischen Effekt macht, ist immer noch nicht gefunden. Im Bereich des Imaginären wird er deswegen verfehlt, weil dessen kaleidoskopische Uferlosigkeit zu so vielen Methoden führt, dass keine Wissenschaftlichkeit erreicht wird. Jeder Mystiker hat einen anderen Zugang zu dem Ur-Einen, das diesbezüglich fast immer beschworen wird. Jede Magie behauptet eine andere Ur-Kraft, jede esoterische Erklärung nutzt plausible Phantasien, denen jedoch alle Kompakt- und Konkretheit fehlt. Ich versuche daher mich auf die Lacansche Mathematik zu stützen, die momentan die beste Sicherheit und Präzision garantiert (Siehe Artikel unter 'Overwhleming:    Psychoanalyse und Mathematik.

 



[1] Saketopoulou, A., Der Drang zur Überwältigung, PSYCHE Nr. 4 (2020) S. 239-279  
[2] Le Soldat, J., Eine Theorie menschlichen Unglücks, Fischer (1994)
[3] Saketopoulou zitiert Le Soldats Schriften zwar nicht, doch ich denke sie kennt sie.
[4] Stein, R., The otherness of sexuality: Excess. J Am Psychoanal Ass 56 (2008) S. 453-71
[5] Bersani, L., The Freudian body, NY, University Press (1986)
[6] Bataille, G., Der heilige Eros, Luchterhand (1963
[7] Stein, L., Working with Mystical Experiences in Psychoanalysis, Routledge (2019)
[8] Stein, H., Freud spirituell, Bonz (1997)