Die genießende Substanz

Erfahrung und genießende Substanz

In zahlreichen Büchern habe ich ein neues therapeutisches Verfahren vorgestellt, das ich Analytische Psychokatharsis genannt habe. Dazu will ich hier nicht erneut Stellung nehmen. Mir geht es hier lediglich darum, noch einmal etwas zu dem  in diesem Verfahren im Zentrum stehenden Begriff der „genießenden Substanz“ zu sagen. Rein begrifflich muss man hier auf die Substanzenlehre zurückgreifen. Diese besteht im Wesentlichen aus drei Formen: der ausgedehnten Substanz, wie sie von Aristoteles zuerst formuliert wurde. Es handelt sich dabei also hauptsächlich ums Materielle, ums Seins-Bezogene.

Mit Descartes kam dann die denkende Substanz hinzu, indem dieser Philosoph damit argumentierte, dass er ein „denkendes Ding“ sei, was ja auch in seinem Spruch: ich denke, also bin ich, enthalten ist. Schließlich kam Freud mit der letzten dieser Substanzen  hinzu. Er sprach von der Libido, der psycho-sexuellen Energie, wobei der Begriff Energie hier fraglich ist. Lacan sagt zurecht, dass der Energiebegriff an die Konstanz einer Ziffer gebunden ist, an eine wohldefinierte Numerik. Bioenergie oder spirituelle, psychische Energie ist in diesem Sinne nicht definierbar und somit sind solche Begriffe obsolet. Doch was bedeutet dann Freuds Libido?

Das psychoanalytische Feld, oder besser die Psychoanalyse als solche, ist weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft. Lacan nannte sie eine Konjekturalwissenschaft, abgeleitet vom Vorgehen des Nikolaus von Kues, in der die Konjektur, die Vermutung, die zu immer weiterführenden und präziser werdenden Vermutungen führt, wie es auch in der Mathematik der Fall ist. Die letzte, die ultimative Vermutung führt zur „genießenden Substanz“. Es muss da irgendwo ein Genießen in sich selbst geben, etwas, das also beim menschlichen Begehren und in der menschlichen Konstitution eine besondere Rolle spielt, die Freud bei der Untersuchung seiner Fälle als konstituierend zu Grunde legen konnte. Der Mensch genießt nicht, weil er begehrt. Man kommt zwar ohne Begehren nicht ans Genießen, aber das Begehren, ob bewusst oder unbewusst, kann einen Plage sein. Der. Grund dafür liegt in dem, was man seit Freud die inneren, die psychischen „Objekte“ nennt, die eigentlich gar keine wirklichen, also objektive Objekte sind, sondern Objekte der Libido, Objekte des Triebs, substanzielle Objekte.
Doch die Triebe, die Wege der Libido spalten sich auf, es gibt Partialobjekte wie Freud sagt, sie erreichen das Substanzielle nicht, sondern nur zum Teil. So erreichen sie auch nicht den Punkt, wo das Genießen substanziell wird, also „genießende Substanz“ ist. Nicht zuletzt hat schon Freud daher von der unendlichen Analyse gesprochen, d. h. man erreicht das Ziel der Psychoanalyse meist nicht ganz. Es gibt immer noch etwas, was man seinem Analytiker erzählen könnte und müsste. Kein Analytiker, sagt M. Safouan, hat bisher seine Analyse zu Ende gebracht (Safouan, M., Die Übertragung und das Begehren des Analytikers, Königsh. & Neumann (1997). Es gibt keine Garantie gibt, nach Hunderten oder selbst tausenden von Stunden sein Ziel erreicht zu haben. Die Psychoanalytikerin E. Stoltzenberg plädiert deshalb von vornherein sogar für die „lebenslange Beziehung zum Analytiker“, also einem notfalls ständigen Wiederaufgreifen der Analysebehandlung bis ans Lebensende (Stoltzenberg, E., Wann ist eine Psychoanalyse beendet?, Vandenhoeck & Ruprecht (1986). Doch am Lebensende geht es den Probanden dann noch schlechter als dem ultraorthodox Gläubigen, der zu diesem Zeitpunkt ja ins Paradies der Seligen eintauchen darf, ins Paradies der „genießenden Substanz“. Der einzige Ausweg besteht in der Psychoanalyse daher darin, dass der Suchende am letztlich doch irgendwie vorläufigen Ende seiner Analyse – in gewisser Weise – selber Analytiker wird. Für die, die dieses Ziel nicht schaf-fen oder auch gar nicht schaffen wollen, gibt es als Trostpreis die Fähigkeit mehr Unglück als bisher aushalten zu können.

Dass also kein Analytiker seine Analyse zu Ende gebracht hat, stört insofern nicht so gravierend, als es sich um eine Wissenschaft handelt, die ja ebenso nicht abgeschlossen ist. Was die einen nicht geleistet haben, können ja die nächsten tun, und so taumelt ja auch schon die Physik von einer Generation zur nächsten, gar nicht zu reden von anderen Wissenschaften, die den Faden vollkommen verloren haben wie etwa die Theologen. Ich schlage daher grundsätzlich einen anderen Weg vor. Die Theologie (und auch der allgemeine Glaube) geht den Top-Down-Weg, während Freud meinte, Gott sei nicht mehr nötig, wenn man seinen, den Bottom-Up-Weg gehe. Wenn man von unten her, von Unbewussten die Komplexe auflöst, kommt man schließlich zum bestmöglichen seelischen, irdischen Zustand, für den ein Gott dann eben auch nicht mehr tun kann. Nun ist es ja tatsächlich auch so, dass Gott schon lange nicht mehr zum Irdischen herunterkommt und so offensichtlich der Platz in der Mitte – zwischen dem Top-Down und dem Bottom-Up noch zu Genüge frei ist für ein weiteres, neues Verfahren, das von den vorhin genannten Substanzen ausgeht und sich daher um das Oben und Unten nicht so kümmern muss.

Was die ausgedehnte Substanz betrifft muss man sich in dem angekündigten Verfahren nur um ein bisschen Bewegung und gesunde Ernährung kümmern. Die denkende Substanz soll sich hauptsächlich mit den wissenschaftlichen und kulturellen Bereichen beschäftigen, die für das Verfahren hilfreich sind, wie etwa die Psychoanalyse, allgemeine naturwissenschaftliche, philosophische und soziale Aspekte. Das Wesentliche wird die „genießende Substanz“ sein, die man – obigen Angaben folgend – aus einem Stück Oben und einem Stück Unten beste-hend sich erüben muss. Als Oben benutze ich die Linguistik (Lacans psychologisch gefasste Sprachwissenschaft), als Unten Rhythmik und Ästhetik (die Hauptelemente der Psychoanaly-se von S. Leikert. Leikert spricht auch von „kinästhetischer Semantik“, eine von der Binnenempfindung und der inneren Bewegung (vom griechischen kineo, bewegen) abgeleitete Bedeutungslehre (Leikert, S., . Schönheit und Konflikt, Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik, Psychosozial Verlag (2012)). Der Philo-soph. D. Heller-Roazen spricht in diesem Zusammenhang vom „inner-touch“, dem „inneren Berührungs-Sinn“, dem ständigen sich Abstimmen mit dem eigenen Körperbild oder der Selbstwahrnehmung. Es soll damit in der Psychoanalyse nicht nur der nüchterne Sprachbezug, sondern auch das im Vordergrund stehen, was Kunst, Religion und die „rhythmisierende Ordnung des Rituellen“ beinhalten (Heller-Roazen, D., Der innere Sinn, Ar-chäologie eines Gefühls, Fischer (2012). Damit fange ich bei der Mitte an, da wo sich eben Top-Down und Bottom-Up treffen und wo die „genießende Substanz“ am einfachsten zu errei-chen ist.

Erfahrung

Ich führe in diesem Artikel nicht detailliert aus, wie das Verfahren genau aufgebaut ist und wie die Praxis erlernt werden kann. Dies ist unter www.analytic-psychocatharsis.com oder in der Broschüre „Die körperlich kranke Seele“ nachlesbar. Hier will ich die wissenschaftliche Begründung noch untermauern. Das griechische Wort εμπειρία, Empirie, bedeutet Erfahrung, in diesem Fall auch Erfahrungswissen. In der Konjektural- oder Vermutungswissenschaften geht man von einer grundlegenden Vermutung, einer Grunderfahrung aus, vertieft diese jedoch durch immer weitere Erfahrungsschritte bis zu einer letztendlichen Gewissheit. Damit begründe ich mein Vorgehen mittels der Substanzenlehre und psychoanalytischen Grundlagen. Die „genießende Substanz“ kann nämlich niemand einem anderen direkt unisono vermitteln. Der Betreffende muss selbst dahin gelangen, was ich schon mit dem Wort „erüben“ angedeutet habe. So ist es auch in der Psychoanalyse, die Arbeit macht einerseits der Analysand, der Analytiker begleitet ihn nur. Andererseits macht auch das Unbewusste die Arbeit, indem in ihm ja die Triebkräfte, die Libido, wirksam sind. So hat man von Anfang an eine Erfahrung der „genießenden Substanz“ und muss man nicht nur die schmerzlichen Einsichten aushalten, die die Deutungen des Analytikers nahelegen. Freuds Psychoanalyse hat einen leicht pessimistischen Zug, während die von Leikert und Heller-Roazen ja den „inner touch“, die innere, rhythmische  Berührung nutzt, die Entspannung und Katharsis vermitteln. Einsichten erfolgen erst im Laufe der Übungen, wenn die „genießende Substanz“ diese leichter erfahrbar macht.

Auch beim intellektuellen Genuss, wie ihn etwa Schopenhauer für seine Philosophie als be-deutend hinstellt, werden die Einsichten in die Probleme des Lebens leichter gemacht.