Das 'Ding' und der Liebes-Verrat

In meinem Verfahren der Analytischen Psychokatharsis gibt es zwei Grund-Prinzipien, -Kräfte, -Triebe – egal wie man es nennt. Verkürzt bezeichne ich sie als ein  ‚Es Strahlt‘ und ein ‚Es Spricht‘. Während das ‚Strahlt‘ noch leicht zu erfassen istz, denn es äußert sich als Entspannung, Befreiung, Kathar-sis, ist dies bei dem ‚Spricht‘ schwieriger. Ich erwähne hier zwar stets die sogenannten Pass-Worte, die aus dem Unbe-wussten direkt wahrzunehmen und zu hören oder zu denken sind, und auf deren Auftreten die gleiche Gewichtung wie auf dem ‚Strahlt‘ und dessen kathartischer Erfahrung liegt. Auf dieser Webseite wird mehrfach und ausführlich davon berichtet.
Eine kleine Geschichte, die dies weiter erhellen kann, will ich in diesem kurzen Artikel vorstellen. Eine mir bekannte Fami-lie war mit ihrem jüngsten, zweieinhalb Jahre alten  Enkel-söhnchen ein paar Tage in einem Hotel in Urlaub. Abends gab es als Nachspeise Eis. Das Kind plapperte schon ein paar meist noch unverständliche Worte, aber beim nächsten Abendessen platzte es gleich zu Anfang aus ihm das Wort ‚Eis’ heraus. Man konnte so richtig bemerken, wie glücklich der Kleine war, endlich ein Wort, das noch dazu einem wich-tigen Wunsch entsprach,  klar verstanden und in sich inte-griert zu haben. Eis!


Doch die Erwachsenen machten verlegene Gesichter und murmelten etwas von ‚vorher Nudeln oder Kartoffeln essen‘ – danach gibt es Eis. ‚NudddelllnKartttoffflln‘ mit solch un-verständliches Geraune konnte das Kind nichts anfangen. Jetzt hatte es doch endlich klar und deutlich den Begriff ge-nannt, den es von der Erwachsenen gelernt hatte und der sei-nen innigen Wunsch betraf, nämlich jetzt Eis essen zu wollen. Wieso taten die nunmehr so, als wüssten sie nicht, was das heißt. Immer dringlicher und flehentlicher äußerte der Kleine jetzt seinen Wunsch und wiederholte zum vierten und fünften Male: Eis! Es konnte doch nicht sein, dass die alle plötzlich nicht mehr hörten und verstanden, was doch eindeutig gemeinsame Sprache war. Dem Kind war die zunehmende Verzweiflung anzusehen über den Verrat, über den Abgrund, der sich auftat, weil eine ganz intime Vereinbarung mit einem Mal verleugnet und zunichte gemacht wurde.
Dieser Verrat – liebten sie sich doch alle – war Liebes-Verrat, das schlimmste was es geben kann. Auch Erwachsene bringen sich deswegen manchmal um. Eine Vereinbarung, einen Schwur zu brechen, ein gemeinsames Losungswort zu ver-leugnen ist eine Ungeheuerlichkeit. Nachdem der Kleine den ganzen Abend nichts zu sich genommen hatte, entschloss man sich doch, ihm eine kleine Portion Eis zu geben. Am nächsten Abend war es jedoch wieder so, dass gleich zu Beginn der Signifikant, das Losungs- und Lösungswort ‚Eis‘ über seine Lippen kam. Wieder begann die quälende Verlegenheit, doch da dies ohnehin der letzte Abend war, wurde – ‚zum letzten Mal‘ wie man begleitend laut betonte – eine Portion Eis bestellt. Zu Hause, wo die übliche Routine wieder Einzug gehalten hatte und kein Kellner im Hintergrund stand der das hoch beschworene Wort auf dem Tablett bringen konnte, war das ‚Ding‘ vergessen. Angesichts einer Eisdiele irgendwann mal später im Sommer kam es wieder problemlos zum Einsatz.
Nun muss ich nur noch erklären, warum es sich bei den Pass-Worten der Analytischen Psychokatharsis um das gleiche Phänomen wie bei dem Losungs- Lösungs-Wort der gerade erzählten Geschichte handelt. Auch Gott ist so ein ‚Ding‘-Wort, das einem einst von den Erwachsenen vermittelt wurde und sich nie mehr auslöschen lässt.
Der Religionsphilosoph R. Spaemann sagte einmal, Gott sei ein ‚unsterbliches Gerücht‘. Das war nicht negativ gemeint, sondern eine für einen stockkonservativen Christen erstaunli-che Aussage. Ständig, seit jeher und auch immer wieder spre-chen, tuscheln, mutmaßen und erzählen die Menschen von Gott, der insofern  nie ganz klar und präzise formuliert, son-dern eben nur wie hinter vorgehaltener Hand kommuniziert wird und somit unsterblich ist. Und auch der oder das Andere ist unsterblich, weil er von innen heraus unsere Grammatik beherrscht, unsere Syntax und auch die Art, wie wir unsere geheimen Wünsche artikulieren.
Aber auch die DNS‚ die Kette der Gene – um nochmals kurz auf die Ökotherapie zurückzukommen – sind ‚Geheimcodes’ des Lebens, denn sie bestehen nicht aus einer immer gleichen und gefestigten Hardware. Erst seit einiger Zeit wissen wir, dass Enzyme und Eiweiße ständig an der DNS herumoperie-ren und das Unsterbliche des biologischen Lebens ebenso ein ‚Ding‘ ist, das sich nicht fassen lässt. Es wirkt hinter der Ku-lisse unserer Naturwissenschaften, aber auch die Geisteswis-senschaften können es nicht vermitteln. Das ‚Ding‘ ist auf jeden Fall nicht nur nicht das Objekt (auch nicht inneres psy-chisches Objekt) und auch nicht das bei Lacan wichtige ‚Rea-le‘, das sozusagen das letzte harte ‚Bruchlose‘ ist, das, wo die Menschen einer Zeit nicht weiterkommen. Im Deutschen könnte man vielleicht vom ‚wirkend Wirklichen‘ sprechen, im Englischen vielleicht vom ‚Acting on‘. Ganz klar, dass sich hiervon das ‚Ding‘ unterscheidet, das eher das unsichtbar Wirkende ist, das ‚Leere‘, das aber eben doch wirkt, ent-scheidend sogar.
Um auf die Geschichte mit dem Enkelkind zurückzukommen: auch hier war es eben das ‚Ding‘, das durch eine Art von Liebes-Verrat kurzfristig abhandengekommen war. Die Ge-schichte ist gut ausgegangen und mag harmlos sein. Doch für einen Moment war der Bruch, die Kluft, die uns von dem ‚Ding‘ trennt deutlich sichtbar geworden. Man kann sich gut vorstellen, dass mehrere solcher Brüche nicht mehr verkraftet werden können und Depressionen oder anderes die Folge sind. In meinem Artikel ‚Das Ding und die Sache‘ habe ich ausführlich dazu Stellung genommen.