Grenzsprachliches

‚Grenzsprachliches‘, also etwas, das noch gerade eben Sprache ist, eher nur noch eine symbolische Organisation, spielt im menschlichen Leben eine eminent große Rolle. Der französische Psychoanalytiker J. Lacan behauptete sogar, dass die Sprache den Menschen geformt und geschaffen, und nicht umgekehrt der Mensch sie erfunden und entwickelt habe. Lacan war ganz entsetzt über den berühmten Sprachwissenschaftler N. Chomsky, als dieser ihm gegenüber erklärte, die Sprache sei für ihn ein Organ, ein menschliches Werkzeug,[1] das auf den Menschen selbst

zurückwirken kann, während Lacan genau der gegenteiligen Auffassung ist: „Der Mensch spricht“ – hat die Fähigkeit zum Symbolisieren – „aber er tut dies, weil die „symbolische Ordnung“, die Sprachordnung ihn zum Menschen gemacht hat“![2] In einem vor kurzem verfassten Interview bestätigte der bekannte Schriftsteller Tom Wolfe diese Auffassung und wandte sich auch gegen die Darwin’sche Evolutionslehre. Diese- so meinte Wolfe – könne niemals erklären, wie die Sprache entstanden sei. Ihr müsste man eine eigene Entstehungsgeschichte zuschreiben.

Doch mit dem Begriff von etwas ‚Grenzsprachlichen‘ kann ich das Wesen dieser symbolischen, lexikalischen oder phonematischen Ordnung nicht nur besser erklären. Aus dem ‚Grenzsprachlichen‘ lässt sich auch ein eigenes Verfahren der Selbst-Erkennntnis und –Therapie heraus entwickeln, so dass jeder selbst die Schöpfung der Sprache nachempfinden, nacherleben und neu auszudrücken erlernen kann. Lacan erwähnt auch, dass  „Die ersten Symbole, die natürlichen Symbole hervorgegangen sind aus einer bestimmten Anzahl maßgeblicher Bilder – aus dem Bild des menschlichen Körpers, aus dem Bild einer Reihe von deutlich sichtbaren Objekten wie der Sonne, dem Mond und einiger anderer [z. B. auch der Sterne]. Und das ist das, was der menschlichen Sprache ihr Gewicht gibt, ihre Triebfeder und ihr emotionales Vibrieren. Ist dieses Imaginäre dem Symbolischen homogen? Nein.“[3] Es liegt eben nur an der Grenze zur vollständigen Sprache, dass diese maßgeblicher Bilder Wegbereiter, vorsprachliche Zeichen, ja sogar Signifikanten sind, ‚Bezeichner, semantische Repräsentanten des Realen.

„Die Natur liefert Signifikanten,noch bevor die eigentlichen Humanbeziehungen entstehen, sind gewisse Verhältnisse schon determiniert . . . Noch vor jeder Erfahrung, vor aller individuellen Deduktion und noch bevor überhaupt kollektive Erfahrungen . . . sich niederschlagen, gibt es etwas, das dieses Feld organisiert und die ersten Kraftlinien in es einschreibt . . die Funktion einer ersten Klassifizierung. Wichtig ist für uns, dass wir hier die Ebene erkennen, auf der es - noch vor jeder Formierung eines Subjekts, das denkt – bereits zählt, auf der gezählt wird. Wichtig ist, dass in diesem Gezählten ein Zählendes schon da ist“.[4] Ein Zählendes, ein menschlich Zählendes, ist auch schon ein Er-Zählendes, eine „Sprechung“, ein Es Spricht. Das ist nicht einfach ganz klar zu machen, man muss es in einer gewissen Unschärfe und eben in diesem ‚grenzsprachlichen‘ Bereich belassen, vorerst.

Dennoch ist deutlich geworden, man kann noch so ausführliche Abhandlungen schreiben und Vorträge halten, wir müssen jedes Mal zurück zu dem Punkt, an dem die ‚symbolische Organisation‘, wie sie auch in der herkömmlichen Sprache steckt, uns zum Menschen gemacht und das ‚menschliche Maß‘ erschaffen hat. Es gibt viele Beispiele, in denen Schriftsteller sich mit ‚grenzsprachlichen Formulierungen um diesen Punkt herum bewegt haben. Dies ist ja vor allem bei Lyrikern, Mundartdichtern oder mit der Sprache experimentierenden Dichtern bekannt. Bei dem Nobelpreisträger Odysseas Elytis, den heute fast keiner mehr kennt, klingt aus seinen Versen noch kaum etwas Grenzsprachliches heraus. Dennoch handelt es sich nicht um Umgangssprache, hier ein Beispiel:

 

Am Anfang das Licht   Und die erste Stunde

in der noch die Lippen im Urschlamm

schmecken die Dinge der Welt

Grünes Blut und golden die Knollen im Erdreich

Wunderbar in seinem  Schlaf bereitete das  Meer

den frischen ätherischen Flor aus[5]

 

Bei dem  Dichter Thomas Kling hört sich dies schon anders an: „atemmail, wie metal aim / gezähmte Lüfte. So lautet inhalt, kurz hall-mail, / so inhaliert uns der dichter“. Auch  J. Joyce und Ezra Pound haben es schon deutlich mehr mit dem Grenzsprachlichen gehalten, indem die Sprache mitten im Sprechen vergessen und wieder neu geboren wurde. Ich beziehe mich damit auf einen Ausspruch chinesischen Philosophen Zhuangzi. Er lehrte, dass man grundsätzlich alles vergessen müsse, die ganze Kultur und alles drum und dran. Bis zur Verwirrung. Und dann sagte er: ‚Oh, würde ich nur einen Menschen kennen, der die Sprache vergisst, damit ich mit ihm reden könnte!‘

Bei J. Joyce geht es oft ums Poetisch-Phonologische, wie man insbesondere von ‚Finnegans Wake‘, seinem letzten Werk, her weiß. Man müsse ‚Finnegans Wake‘ nicht verstehen, sagte Joyce, sondern nur laut lesen. Dies empfiehlt sich auch beim Monolog Molly Blooms am Ende des Ulysses. Und bei Ezra Pound ist nur noch ein rätselhaftes Klingen zu hören:

 

But for Kuan Chung we should still dress as barabarians.

Und ob Antonius dahin gelangte, dies ward verdeckt

            Kuan, verdeckt

Ad posteros urbem donat,                         

                                                  Artemis gemünzt

All goods light against coin-skill

If there be 400 muontains for copper

Flußgold stammt aus Ko Lu;

                                            Preis von XREIA her;

Yao und Schun herrschen mit Jade

        Dass sich die Göttin in ihr kristallisierte

Dies der Ritus des Korns

                Luigi auf dem Bergpfad

                                        Dies der Ritus des Korns.“[6]

Es ist das Recht des Lyrikers, sich solcher Gesänge zu widmen, doch für meine Betrachtung in diesem Artikel kann ich mich nicht darauf  berufen. Denn ich will etwas Wissenschaftliches sagen, aus dem sich eine konkrete Praxis der  Selbst-Erkenntnis und –Therapie ableiten lässt. So etwas hat noch niemand versucht. In der klassischen Psychoanalyse wird zwar ebenfalls eine gewisse ‚Grenzsprachlichkeit‘ angesteuert, wenn man den Patienten sagen lässt, was immer ihm gerade einfällt, wie unsinnig oder peinlich es auch immer sei. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es dabei kaum jemals dazu kommt, dass jemand so verworren oder auch nur stotternd, strauchelnd spricht, dass das Sprechen an eine fast nicht mehr verständliche Grenze kommt. Dies wäre aber sinnvoll, denn gerade aus solchem Gestammel kann man genauso wie aus den wirren Ausdrücken im Traum Deutungen ziehen, die für die Wahrheit bedeutsam sind. Wir verdrängen und belügen uns alle selbst, und deswegen ist ein Sprechen wichtig, das fast als solches gar nicht mehr voll anzuerkennen ist.

Ein solches Sprechen findet sich in psychoanalytisch und wissenschaftlicher Form in den Formel-Worten der Analytischen Psychokatharsis wieder, wie es hier auf der Webseite ausführlich beschrieben ist.



[1] Lacan, J., Le Sintome, Seminaire Nr. XXIII vom 9.12.75

[2] Lacan, J., Schriften I, Walter (1980) S. 117

[3] Lacan, J., Seminar II, Walter (1980) S. 388 Der imaginäre Signifikantist also vom symbolischen klar getrennt / verbunden.

[4] Lacan, J., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Walter (1980) S. 26

[5] Elytis, O., To Axion Esti – Gepriesen sei, Claassen (1969)

[6] Pound, E.., Cantos, DTV